Betrachtungstext: 3. Woche im Jahreskreis – Sonntag (C)

Gott ist in der Heiligen Schrift nahe – Jesus ist das fleischgewordene Wort – Unsere Seele für das Leben von Jesus öffnen

„DER SONNTAG des Wortes Gottes“, den wir heute – nämlich jeweils am 3. Sonntag des Jahreskreises – begehen, wurde vor wenigen Jahren auf Anregung von Papst Franziskus eingeführt, um im gläubigen Volk „die andächtige und beständige Vertrautheit mit der Heiligen Schrift“1 zu fördern. Die Kirche empfiehlt, die Heilige Schrift zu diesem Anlass während der Eucharistiefeier feierlich zu „inthronisieren“, „um der Versammlung der Gläubigen den normativen Wert des Wortes Gottes zu verdeutlichen“2.

Der Ursprung dieser Tradition lässt sich in einem Abschnitt des Buches Nehemia finden. Das Volk Israel war nach langen Jahren der babylonischen Gefangenschaft in das verheißene Land zurückgekehrt. Nach dieser langen Zeit der Entbehrung geistlicher Nahrung versammelten sich Männer, Frauen und alle, die zum Zuhören alt genug waren, in Jerusalem ;auf einem großen Platz und baten den Priester und Schriftgelehrten Esra, ihnen aus dem Buch der Weisung des Mose vorzulesen. Sie hatten eigens zu diesem Zweck eine hölzerne Kanzel errichtet. Die Lesung dauerte vom frühen Morgen bis zum Mittag, das Volk lauschte aufmerksam und ehrfürchtig. Esra öffnete das Buch vor aller Augen; denn er stand höher als das versammelte Volk. Als er das Buch aufschlug, erhoben sich alle. Dann pries Esra den Herrn, den großen Gott; darauf antworteten alle mit erhobenen Händen: Amen, amen! Sie verneigten sich, warfen sich vor dem Herrn nieder, mit dem Gesicht zur Erde (Neh 8,5-6). Durch den Vortrag und die Erklärung der Texte erkannten die Menschen die tiefere Bedeutung ihrer eigenen Geschichte und der Ereignisse, die sie erlebt hatten. Viele reagierten bewegt, ja sogar mit Tränen.

Das auserwählte Volk hatte die Nähe Gottes in seiner Heilsgeschichte immer wieder erfahren. Er ist ein Gott, der den Menschen durch die Heilige Schrift nicht nur die tiefste Wahrheit über sie als geliebte Geschöpfe offenbart, sondern ihnen auch den Weg zeigt, wie sie mit ihm als dem Schöpfer in Beziehung treten und ihr wahres Glück in ihrem irdischen Leben finden können. Voller Dankbarkeit fasst der Psalmist diese Erfahrung in Worte: Die Weisung des Herrn ist vollkommen, sie erquickt den Menschen. Das Gebot des Herrn ist rein, es erleuchtet die Augen (Ps 19,8-9).


JESUS KEHRTE nach Nazaret zurück, wo er aufgewachsen war (Lk 4,16). Wie gewohnt ging er am Sabbat in die Synagoge. Am Tag des Gebetes und der Ruhe fanden sich die Juden ein, um die Heilige Schrift und die Auslegung der Lehrer zu hören. Nach den Eingangsgebeten lud der Vorsitzende zumeist einen der Anwesenden ein, die Schrift vorzulesen und zu kommentieren – jemanden, der gut vorbereitet war, oder einen Freiwilligen.

So könnte es auch an diesem Sabbat gewesen sein, als Jesus aufstand, die Schriftrolle nahm, sie ausbreitete und laut diese Worte des Propheten Jesaja las: Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe (Lk 4,18-19). Nach der Lesung rollte Jesus die Schrift wieder zusammen und gab sie dem Diener zurück. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet (Lk 4,20). Es war ein intensiver Moment, voller Erwartung und Spannung. Seine Landsleute, die ihn seit seiner Kindheit kannten, hatten von seinen Wundern, Heilungen und lehrreichen Worten gehört – und wollten nun selbst erleben, ob diese Berichte wahr waren. Vielleicht war ihre Haltung gemischt – aus Neugier, Hoffnung, aber auch Skepsis. Doch dann übertrafen Jesu Worte auch noch ihre kühnsten Überlegungen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt (Lk 4,21).

Die Heilige Schrift hatte sich erfüllt. Was zuvor nur Verheißungen gewesen waren, ist nun Wirklichkeit geworden. Das Wort ist in Christus Fleisch geworden. Diejenigen, die ihn hörten – und wir mit ihnen –, sind diese Gefangenen, Blinden und Zerschlagenen, denen der Herr eine Zeitenwende ankündigt. Gott, der sich den Menschen schon in der Heiligen Schrift genähert hatte, tut dies unerwartet nun auch noch auf eine nie dagewesene Weise: Er nimmt unsere menschliche Natur an. Das Wort Gottes erhält dadurch eine tiefere Bedeutung. Wir entdecken, dass alles, was die Heilige Schrift sagt, von Jesus spricht. Der heilige Josefmaria betonte daher: „Das Leben Jesu soll sich in unserem eigenen Leben wiederholen. Dafür müssen wir Christus immer besser kennenlernen: durch immer wieder Lesen und Meditieren der Heiligen Schrift.“3


IM MOTU PROPRIO zur Einführung des Sonntags des Wortes Gottes heißt es: „Als Christen sind wir ein Volk, das in der Geschichte unterwegs ist, gestärkt durch die Gegenwart des Herrn in unserer Mitte, der zu uns spricht und uns nährt (…) In diesem Zusammenhang dürfen wir die Lehre aus dem Buch der Offenbarung nicht vergessen. Hier wird gelehrt, dass der Herr vor der Tür steht und anklopft. Wenn einer seine Stimme hört und ihm öffnet, tritt er ein und hält Mahl mit ihm (vgl. Offb. 3,20). Jesus Christus klopft durch die Heilige Schrift an unsere Tür; wenn wir zuhören und die Tür des Geistes und des Herzens öffnen, dann tritt er in unser Leben ein und bleibt bei uns.“4

Es gelingt uns nicht immer, auf Gott zu hören. Wir leben in einer Welt voller Geräusche, Ablenkungen und zahlloser Worte. Manchmal fühlen wir uns von der Vielzahl an Eindrücken überfordert. Das macht es schwer, innezuhalten und wirklich zuzuhören – aufmerksam zu sein und die Worte aufzunehmen, die echte Bedeutung haben. Vielleicht sollten wir uns vom Herrn öfter dazu ermutigen lassen, unsere Bereitschaft zu steigern, auf ihn zu hören: wenn sein Wort in der Heiligen Messe verkündet wird, wenn wir selbst die Bibel lesen, wenn wir im Gebet über die heiligen Texte meditieren.

„Wenn man einen Menschen liebt“, so ein Rat des heiligen Josefmaria, „möchte man alles, selbst die kleinsten Details über ihn wissen, um sich mit ihm identifizieren zu können. Darum sollen wir die Lebensgeschichte Jesu betrachten (…) Wir sollen sein Leben gut kennen, es ganz im Kopf und Herzen tragen, damit wir es in jedem Augenblick, ohne die Hilfe eines Buches, mit geschlossenen Augen vor unserem inneren Blick wie einen Film vorbeiziehen lassen können.“5 Auf diesem Weg des Hörens auf die Heilige Schrift begleitet uns die Jungfrau Maria. Sie wurde selig genannt, weil sie an die Erfüllung dessen glaubte, was der Herr zu ihr gesagt hatte (vgl. Lk 1,45). Bitten wir sie, uns zu helfen, wie sie die Worte des Herrn anzunehmen und in unseren Herzen zu bewahren, damit sie in unserem Leben Frucht bringen.


1 Franziskus, Aperuit illis, 30.9.2019, Nr. 15.

2 Ebd. Nr. 3.

3 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 14.

4 Franziskus, Aperuit illis, 30.9.2019, Nr. 8.

5 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 107.