DIE EVANGELIEN berichten von mehreren Gelegenheiten, bei denen Jesus jemanden ermahnt, oft mit dem Ziel, die Person zur Wahrheit zu führen. Eine dieser Gelegenheiten war jene, als eine Frau aus der Menge ihre Stimme erhob und ihm zurief: Selig der Schoß, der dich getragen, und die Brust, die dich gestillt hat! Er aber erwiderte: Ja, selig sind vielmehr, die das Wort Gottes hören und es befolgen (Lk 11,27-28).
Der heilige Josefmaria sagte, dass „die brüderliche Zurechtweisung Teil des Blicks Gottes und seiner liebevollen Vorsehung ist“1. Jesus ermahnt die Frau nicht, um sie zu tadeln, sondern um ihr Herz auf die tiefere Bedeutung des Glaubens zu lenken – das Hören und Befolgen des göttlichen Wortes. Die brüderliche Zurechtweisung, so erläutert Msgr. Fernando Ocáriz, ist ein Akt der Liebe, der auf das wahre Glück des anderen abzielt.2 Deshalb besteht unsere Sorge um die anderen nicht einfach darin, zu beurteilen, ob sie eine bestimmte Regel befolgt haben oder nicht, sondern zu versuchen, sie so zu sehen, wie Jesus es tat: Sein Blick hält sich nicht bei Kleinigkeiten auf, sondern ist voller Hoffnung, mit großen Horizonten. Christi Berichtigung wird von der persönlichen Liebe zum anderen bewegt, von seinem Wunsch, uns glücklich zu machen, und nicht, eine bestimmte äußere Ordnung aufrechtzuerhalten.
Papst Benedikt XVI. betonte ebenfalls die Notwendigkeit eines „liebenden und berichtigenden Blickes, der erkennt und anerkennt, der unterscheidet und vergibt (vgl. Lk 22,61), wie es Gott mit jedem von uns getan hat und tut.“3 Die brüderliche Zurechtweisung soll nicht von oben herab erfolgen, sondern als liebevolle Begleitung, die den anderen unterstützt und ihm hilft, auf dem Weg der Heiligkeit voranzukommen. Mit ihr steht der andere nicht allein in seinem Kampf, sondern kann auf unsere Unterstützung zählen.
DER HEILIGE Josefmaria sagte einmal: „Ihr müsst beim Erteilen einer brüderlichen Zurechtweisung die Fehler eurer Brüder lieben.“4 Ein Herz, das liebt, ist in der Lage, das zu übersehen, was wir bei anderen als Mangel empfinden. Natürlich werden wir nach bestem Wissen und Gewissen versuchen, ihm bei der Überwindung dieses Mangels zu helfen, aber das wird nicht immer möglich sein und auch nicht über Nacht gelingen. Deshalb führt uns das Lernen, auch diese Mängel zu lieben, in gewisser Weise in die Logik der göttlichen Liebe ein. Jesus nimmt unsere Eigenschaften und unsere Schwächen an, er stellt keine Bedingungen an seine Liebe.
Papst Franziskus unterstreicht diesen Punkt, indem er erklärt, dass die oberste Regel der brüderlichen Zurechtweisung die Liebe ist. Oft wird es angebracht sein, für andere im Stillen zu beten und ihre Schwächen zu ertragen, während wir darauf warten, den richtigen Moment zu finden, um ihnen zu helfen, sich zu verbessern.5 Das erfordert Geduld und Respekt für die Freiheit des anderen – eine Liebe, die der Gottes immer ähnlicher wird. Wer helfen will, bleibt nicht bei Äußerlichkeiten hängen, sondern betrachtet das Geschehen im Lichte des Wunsches des anderen nach Heiligkeit. Und dabei zieht er sich gleichsam seine Sandalen aus, denn er befindet sich im Tiefsten dieser Seele (vgl. Ex 3,5).
Ein wichtiger Aspekt der brüderlichen Zurechtweisung ist die Selbsterkenntnis. Bevor wir jemanden zurechtweisen, kann es hilfreich sein, sich an die Worte Christi zu erinnern: Zieh zuerst den Balken aus deinem eigenen Auge, dann wirst du klar sehen, wie du den Splitter aus dem Auge deines Bruders ziehen kannst (Mt 7,5). Unser eigenes Streben nach Heiligkeit und Selbsterkenntnis kann oft der wirksamste Weg sein, anderen zu ermutigen, heilig zu sein. Wenn wir in einem anderen den bonus odor Christi, den Wohlgeruch Christi, wahrnehmen, zieht uns das auf natürliche Weise zu einem Leben in Freundschaft mit Gott hin. Es entsteht eine Atmosphäre des Vertrauens und gegenseitigen Respekts, in der die brüderliche Zurechtweisung sowohl gegeben als auch empfangen werden kann.
UM DIE brüderliche Zurechtweisung authentisch und fruchtbar zu leben, ist es entscheidend, dass davor eine Beziehung der Nähe und des echten Interesses am Leben des anderen besteht. Ohne diesen Kontext der Freundschaft und Zuneigung kann eine Berichtigung leicht ungerecht ausfallen. Freundschaft ist hier der Schlüssel, denn wenn bereits kleine Dienste, gemeinsam verbrachte Zeit und geteilte Sorgen das Fundament bilden, entsteht auf natürliche Weise der Wunsch, dem anderen auf seinem Weg zur Heiligkeit zu helfen. Auf diese Weise kann die Zurechtweisung ein weiterer Ausdruck dieser Zuneigung und Fürsorge sein.
In einer solchen Beziehung ist es auch leichter, die Reaktionen des anderen auf die Zurechtweisung zu verstehen. Jeder Mensch ist anders, sowohl in seinem Temperament als auch in seiner Art, auf Kritik zu reagieren. Einige empfinden selbst die feinsten Korrekturen als Vorwurf, während andere unklare Worte als Desinteresse empfinden. Deshalb ist eine bestehende Nähe besonders hilfreich, um sicherzustellen, dass der andere in der Zurechtweisung eine Geste der Loyalität und Liebe erkennt.
Der heilige Josefmaria betonte die Wichtigkeit der Loyalität in der Beziehung zu unseren Brüdern und Schwestern: Wir sollten niemals hinter dem Rücken eines Bruders Kritik üben, sondern die unangenehmen Dinge direkt und liebevoll ansprechen, um ihm oder ihr zu helfen, sich zu verbessern.6 Maria, als unsere Mutter und Vorbild, hilft uns, unsere Brüder und Schwestern mit einem mütterlichen Blick zu sehen. So kann die brüderliche Zurechtweisung nicht nur helfen, Fehler zu korrigieren, sondern auch die Beziehung stärken und das gemeinsame Streben nach Heiligkeit noch vertiefen.
1 Msgr. Javier Echevarría, Memoria del Beato Josemaría Escrivá, S. 127.
2 Vgl. Msgr. Fernando Ocáriz, Pastoralbrief, 1.11.2019, Nr. 16.
3 Benedikt XVI., Botschaft zur Fastenzeit 2012, Nr. 1.
4 Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einem Familientreffen, 18.10.1972.
5 Vgl. Papst Franziskus, Audienz, 3.11.2021
6 Vgl. hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einem Familientreffen, 21.5.1970.