35. Das sechste Gebot

Gott ist Liebe, und seine Liebe ist fruchtbar. Er wollte, dass der Mensch Anteil erhält an dieser Fruchtbarkeit, und hat die Zeugung an einen spezifischen Akt der Liebe zwischen Mann und Frau geknüpft.

1. Als Mann und Frau erschuf er sie

Die göttliche Berufung von Mann und Frau – „seid fruchtbar und vermehrt euch“ – mussimmer aus der Perspektive ihrer Erschaffung als „Bild und Gleichnis“ der Dreifaltigkeit (Gen1) gesehen werden. Daher kommt es, dass die menschliche Fortpflanzung im weiteren Rahmen der Geschlechtlichkeit überhaupt gesehen werden muss und „keineswegs etwas rein Biologisches (ist), sondern (...) den innersten Kern der menschlichen Person als solcher (betrifft)“ (Katechismus, 2361). Sie unterscheidet sich also grundsätzlich von der Fortpflanzung unter Tieren.

„Gott ist Liebe“ (1 Joh 4,8), und seine Liebe ist fruchtbar. Er wollte, dass der Mensch Anteilan dieser Fruchtbarkeit erhält, indem er die Zeugung mit einem spezifischen Akt der Liebe zwischen Mann und Frau verknüpfte. „Die Geschlechtlichkeit ist nichts Beschämendes, sondern ein Gottesgeschenk, das in seiner Reinheit auf das Leben, die Liebe und die Fruchtbarkeit hingeordnet ist“.

Da der Mensch aus Leib und Seele besteht, erfordert der Zeugungsakt aus Liebe den Einsatz aller Dimensionen der Person: Leiblichkeit, Affekte, Geist.

Die Erbsünde hat die Harmonie des Menschen mit sich selbst und den anderen zersetzt. Dieser Bruch wirkt sich besonders auf die Fähigkeit des Menschen aus, seine Sexualitätvernunftgemäß zu leben. Einerseits verdunkelt er das Verständnis des untrennbarenZusammenhangs zwischen den affektiven und den generativen Dimensionen der ehelichen Vereinigung, und andererseits erschwert er die Herrschaft des Willens über die affektive und körperliche Dynamik der Sexualität.

Die unter diesen Bedingungen gegebene Notwendigkeit der Reinigung und Reifung der Sexualität bedeutet keineswegs eine Ablehnung oder negative Bewertung dieses Geschenkes, das der Mensch von Gott erhalten hat. Es geht vielmehr um „Heilung zu seiner wirklichen Größe hin“. Bei dieser Aufgabe kommt der Tugend der Keuschheit eine grundlegende Rolle zu.

2. Die Berufung zur Keuschheit

Der Katechismus spricht von einer Berufung zur Keuschheit, weil diese Tugend Voraussetzung und Wesensbestandteil der Berufung zur Liebe bzw. zur Selbsthingabe ist, die Gott an jeden Menschen richtet. Die Keuschheit ermöglicht die Liebe in der Leiblichkeit und durch die Leiblichkeit. Man kann in gewisser Weise sagen, dass die Tugend der Keuschheit den Menschen zu einem guten Leben befähigt und hinführt, zu innerem Wohlwollen und Frieden mit den übrigen Menschen und mit sich selbst. Denn die Sexualität prägt alle seine Vermögen, vom Physisch-Körperlichen bis hin zum Allergeistigsten, und gibt ihnen männliches oder weibliches Kolorit.

Die Tugend der Keuschheit schafft daher nicht bloß Abhilfe gegen die von der Sünde verursachte Störung der sexuellen Sphäre, sondern ist eine freudige Bejahung, die es erlaubt, Gott aus ganzem Herzen zu lieben, mit ganzer Seele und allen Gedanken und Kräften, und um seinetwillen alle Menschen (vgl. Mk 12,30).

„Die Tugend der Keuschheit steht unter dem Einfluss der Kardinaltugend der Mäßigung“ (Katechismus, 2341). Sie „bedeutet die geglückte Integration der Geschlechtlichkeit in die Person und folglich die innere Einheit des Menschen in seinem leiblichen und geistigen Sein“ (Katechismus, 2337).

Wenn das Gespräch auf die Keuschheit kommt, ist es bei der Bildung der Personen, vor allem der jungen Menschen, notwendig, den tiefen und engen Zusammenhang aufzuzeigen, derzwischen Liebe, Sexualität und Zeugung besteht. Sonst könnte der Eindruck entstehen, dass es sich dabei um eine negative Tugend handelt, weil das Bemühen, keusch zu leben, sich in der Tat größtenteils auf die Beherrschung der Leidenschaften richtet, die unter gewissen Umständen nach Gütern streben, die nicht auf das Wohl der Person in ihrer Gesamtheit hingeordnet werden können.

In der gegebenen Ordnung der Dinge kann der Mensch das natürliche Sittengesetz – und damit die Keuschheit – nicht ohne die Hilfe der Gnade leben. Das bedeutet nicht, dassmenschliche Tugend in diesem Bereich unfähig wäre, eine gewisse Kontrolle über die Leidenschaften auszuüben, sondern nur, dass die durch die Sünde verursachte Verwundung so tief ist, dass sie zur vollständigen Wiedereinbindung in die Person der göttlichen Hilfe bedarf.

3. Die Erziehung zur Keuschheit

Die Keuschheit verleiht die Herrschaft über die Konkupiszenz und ist damit ein wichtiger Aspekt der Selbstbeherrschung. Es handelt sich um eine Aufgabe, die das ganze Lebendauert, wiederholte Anstrengungen erfordert und in bestimmten Phasen besonders mühsamsein kann. Die Keuschheit muss mit Gottes Hilfe und durch asketischen Kampf ständig wachsen (vgl. Katechismus, 2342).

„Die Liebe ist die Form aller Tugenden. Unter ihrem Einfluss erscheint die Keuschheit als eine Schule der Selbsthingabe. Die Selbstbeherrschung ist auf die Selbsthingabe hingeordnet“ (Katechismus, 2346).

Die Hinführung zur Keuschheit geht weit über das hinaus, was einige verkürzend Sexualerziehung nennen, die ja vor allem über physiologische Aspekte der menschlichen Fortpflanzung und über empfängnisverhütende Methoden informiert. Wirkliche Erziehung zur Keuschheit beschränkt sich nicht auf Information über biologische Aspekte, sondern führt zur Einsicht in die persönlichen und sittlichen Werte, die bei der Entstehung des menschlichen Lebens und der persönlichen Reifung mit im Spiel sind. Zugleich fördert sie die großen Ideale der Liebe zu Gott und den Menschen durch die Einübung in die Tugenden der Großzügigkeit, der Selbsthingabe, der die Intimsphäre schützenden Schamhaftigkeit usw. So wird demMenschen geholfen, den Egoismus und die Versuchung zur Abkapselung zu überwinden.

Die Eltern tragen in diesem Bereich sehr große Verantwortung, denn sie sind die ersten und hauptsächlichen Lehrer, was die Bildung ihrer Kinder in der Keuschheit betrifft.

Wichtige Mittel im Kampf um diese Tugend sind:

a) Das Gebet – Gott um die Tugend der heiligen Reinheit bitten – und der Empfang der Sakramente, die Heilmittel gegen unsere Schwachheit sind;

b) intensive Arbeit und Vermeidung von Müßiggang;

c) Maßhalten bei Essen und Trinken;

d) Scham und Anstand in der Kleidung usw.;

e) Meiden unpassender Lektüre (Bücher, Zeitschriften, Zeitungen) und unsittlicherVergnügungen;

f) völlige Aufrichtigkeit in der geistlichen Leitung;

g) Auf-sich-selbst-Vergessen;

h) Andacht zur Mutter Gottes, Mater pulchrae dilectionis.

Die Keuschheit ist eine eminent persönliche Tugend. „Sie erfordert aber auch eine kulturelle Anstrengung“ (Katechismus, 2344), denn „der Fortschritt der menschlichen Person und das Wachsen der Gesellschaft (...) bedingen (sich gegenseitig)“. Die Achtung der Rechte der Person fordert die Beobachtung der Keuschheit und „insbesondere des Rechtes auf Bildung und Erziehung, welche die sittlichen und geistigen Dimensionen des menschlichen Lebens berücksichtigen“ (Katechismus, 2344).

Je nach der erhaltenen Berufung wird die Gestalt und das Wachstum dieser Tugend verschiedene konkrete Formen annehmen. „Verheiratete sind berufen, in ehelicher Keuschheit zu leben; die anderen leben keusch, wenn sie enthaltsam sind“ (Katechismus, 2349).

4. Die Keuschheit in der Ehe

Die geschlechtliche Vereinigung „ist auf die eheliche Liebe von Mann und Frau hingeordnet“ (Katechismus, 2360). „Auf wahrhaft menschliche Weise wird sie nur vollzogen, wenn sie in jene Liebe integriert ist, mit der Mann und Frau sich bis zum Tod vorbehaltlos einander verpflichten“.

Die Größe des Aktes, in dem Mann und Frau aus freiem Willen mit dem Schöpferhandeln Gottes zusammenwirken, unterliegt wegen seiner anthropologischen Bedeutung klarenmoralischen Bedingungen, denn es kann neues, für die Ewigkeit bestimmtes menschliches Leben entstehen. Deshalb darf der Mensch die diesem Akt eigenen Sinngehalte derVereinigung und der Fortpflanzung nicht willkürlich trennen, wie das bei der Empfängnisverhütung der Fall ist.

Keusche Ehegatten werden die passenden Zeiten finden, um diese körperliche Vereinigung so zu vollziehen, dass sie immer, wie es sich gebührt, die Selbsthingabe zum Ausdruck bringt.

Während dem Sinngehalt der Fortpflanzung auf wahrhaft menschliche Weise nur durch denAkt der ehelichen Vereinigung entsprochen wird, kann und soll sich der diesem Akt eigene Sinngehalt des Einsseins und der Zuneigung oftmals auch auf andere Weise zeigen. Das erklärt, warum die Gatten, wenn aus gesundheitlichen oder sonstigen Gründen keine eheliche Vereinigung erfolgen kann oder sie beschlossen haben, sich des Verkehrs zu enthalten (auf Zeit oder bei Vorliegen besonders schwerer Gründe für immer), diese Selbsthingabe dennoch vollziehen können und sollen, die die wahre personale Liebe wachsen lässt, deren Ausdruck die Vereinigung der Leiber ist.

5. Die Keuschheit im Zölibat

Gott lädt einige Menschen dazu ein, ihre Berufung zur Liebe in besonderer Weise zu leben, nämlich im apostolischen Zölibat, der Enthaltsamkeit impliziert. Dieser Ausschluss des Gebrauchs der Zeugungsfähigkeit bedeutet keinesfalls einen Verzicht auf Liebe und Affektivität. Der aus Liebe zu Gott erbrachte freiwillige Verzicht auf ein mögliches Eheleben befähigt im Gegenteil dazu, vielen anderen Menschen in Liebe zu dienen und ihnen zu helfen, Gott zu finden, was der Grund für diesen Zölibat ist.

Diese Lebensweise muss immer als eine Gnade betrachtet und gelebt werden, denn niemand kann sich selbst die Fähigkeit zuschreiben, dem Herrn auf diesem Weg ohne die Hilfe der Gnade treu zu sein.

6. Sünden gegen die Keuschheit

„Unkeuschheit ist ein ungeregelter Genuss der geschlechtlichen Lust oder ein ungeordnetes Verlangen nach ihr. Die Geschlechtslust ist dann ungeordnet, wenn sie um ihrer selbst willen angestrebt und dabei von ihrer inneren Hinordnung auf Weitergabe des Lebens und auf liebende Vereinigung losgelöst wird“ (Katechismus, 2351).

Da die Sexualität eine zentrale Dimension des menschlichen Lebens ausmacht, sind Sünden gegen die Keuschheit aufgrund ihrer Materie immer schwer und führen folglich zum Verlust des Erbes des Gottesreiches (vgl. Eph 5,5). Sie können lässlich sein, wenn volle Aufmerksamkeit und Zustimmung fehlt.

Das Laster der Unkeuschheit zieht viele schwere Folgen nach sich: geistige Blindheit, so dass das letzte Ziel und das Gute nicht gesehen wird; Schwächung des Willens, für den jede Anstrengung mühselig wird. Das führt zu Passivität, Unlust bei der Arbeit und bei Dienstleistungen usw. Die Anhänglichkeit an die irdischen Güter lässt die ewigen vergessen; es kann sogar dazu kommen, dass der Unkeusche Gott hasst, weil er das größte Hindernis dafür ist, die eigene Sinnlichkeit auszuleben.

Masturbation ist die „absichtliche Erregung der Geschlechtsorgane mit dem Ziel, geschlechtliche Lust hervorzurufen“ (Katechismus, 2352). „Tatsache ist, dass sowohl das kirchliche Lehramt in seiner langen und stets gleichbleibenden Überlieferung als auch das sittliche Empfinden der Gläubigen niemals gezögert haben, die Masturbation als eine zuinnerst schwer ordnungswidrige Handlung zu brandmarken“. Ihrer Natur nach widerspricht die Masturbation der christlichen Auffassung der Sexualität, da diese der Liebe dienen soll. Als isolierter und egoistischer Gebrauch der Sexualität fehlt ihr die Wahrheit der Liebe, sielässt den Menschen unbefriedigt und führt zu Leere und Missstimmung.

Unzucht ist die körperliche Vereinigung zwischen einem Mann und einer Frau, die nicht miteinander verheiratet sind. Sie ist ein schwerer Verstoß gegen die Würde des Menschen und der menschlichen Geschlechtlichkeit selbst, die von Natur aus auf das Wohl der Ehegatten sowie auf die Zeugung und Erziehung von Kindern hingeordnet ist“ (Katechismus, 2353).

Ehebruch ist „eheliche Untreue. Wenn zwei Partner, von denen wenigstens einer verheiratet ist, miteinander eine, wenn auch nur vorübergehende geschlechtliche Beziehung eingehen, begehen sie Ehebruch“ (Katechismus, 2380).

Ebenso verstoßen gegen die Keuschheit Gespräche, Blicke und Liebesbezeugungen gegenüber anderen Menschen – selbst unter Brautleuten –, wenn sie in lüsterner Absicht begangen werden oder eine Gelegenheit zur Sünde darstellen, die gesucht oder nicht zurückgewiesen wird.

Pornografie (Schaustellung des Körpers als bloßes Objekt der Lüsternheit) und Prostitution(Erniedrigung des eigenen Körpers zur Handelsware und zur fleischlichen Lust) sind schwere Verstöße gegen die Geschlechtsordnung, die nicht nur die Würde der betroffenen Personen verletzen, sondern auch eine Geißel der Gesellschaft darstellen (vgl. Katechismus, 2355).

„Vergewaltigung ist ein gewaltsamer Einbruch in die geschlechtliche Intimität eines Menschen. Sie ist ein Verstoß gegen die Gerechtigkeit und die Liebe. Vergewaltigung ist eine tiefe Verletzung des jedem Menschen zustehenden Rechtes auf Achtung, Freiheit, physische und seelische Unversehrtheit. Sie fügt schweren Schaden zu, der das Opfer lebenslang zeichnen kann. Sie ist stets eine in sich zutiefst verwerfliche Tat. Noch schlimmer ist es, wenn Eltern oder Erzieher ihnen anvertraute Kinder vergewaltigen“ (Katechismus, 2356).

Die Überlieferung der Kirche hat immer festgehalten, dass homosexuelle Handlungen „ihrer wesentlichen und unerlässlichen Ordnung beraubt sind“. Diese eindeutige sittliche Bewertung darf nicht zu einer Verurteilung von Personen mit homosexueller Veranlagung führen. Denn nicht selten bedeutet deren Eigenheit eine schwere Prüfung. Auch solche „Menschen sind zur Keuschheit gerufen. Durch die Tugenden der Selbstbeherrschung, die zur inneren Freiheit erziehen, können und sollen sie sich – vielleicht auch mit Hilfe einer selbstlosen Freundschaft – durch das Gebet und die sakramentale Gnade Schritt um Schritt, aber entschieden der christlichen Vollkommenheit annähern“ (Katechismus, 2359).

Pablo Requena

Grundlegende Literatur:

- Katechismus der katholischen Kirche, 2331-2400.

- Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 25.12.2005, 1-18.

- Johannes Paul II., Apost. Schr. Familiaris consortio, 22.11.1981.

Empfohlene Literatur:

- Hl. Josefmaria, Homilie Denn sie werden Gott schauen, in Freunde Gottes, 175-189;

- Ders., Die Ehe, eine christliche Berufung, in Christus begegnen, 22-30;

- Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung Persona humana, 29.12.1975;

- Kongregation für das katholische Bildungswesen, Orientierung zur Erziehung in der menschlichen Liebe, Hinweise zur geschlechtlichen Erziehung, 1.12.1983;

- Päpstlicher Rat für die Familie, Menschliche Sexualität, Wahrheit und Bedeutung, 8.12.1995;

- Ders., Lexikon Familie (2003). Für Eltern und Erzieher ist daraus der Beitrag von Aquilino Polaino-Lorente über Sexualerziehung (702) von besonderem Interesse.