Die anderen sind ein Teil von uns (II)

Die brüderliche Zurechtweisung ist eine Frucht der Nähe zum Nächsten und setzt voraus, dass wir ihn mit der gleichen Weite des Blicks betrachten, wie Gott es tut.

„So kam er zu einem Ort in Samarien, der Sychar hieß und nahe bei dem Grundstück lag, das Jakob seinem Sohn Josef vermacht hatte“ (Joh 4,5). Die Wanderung und der konkrete Augenblick waren von Jesus sorgfältig geplant worden; er wollte, dass sich sein Durst und der der samaritischen Frau bei dem Brunnen begegneten. Es ist eine günstige Umgebung für die Gabe, alles dort verströmt den Geruch der Opfergabe: die Natur, der Brunnen, das Wasser … Doch Jesus ist auf der Suche nach der höchsten Gabe: Er wünscht sich die Freude und den Frieden einer von Ewigkeit her auserwählten Seele, auch wenn sie dem Herzen Gottes in letzter Zeit etwas entglitten war.

Die Nähe ist der Stil Gottes

Der heilige Josefmaria sagte, dass die Liebe „mehr im Verstehen als im Geben“ besteht(1), im Begreifen der Probleme und Schwierigkeiten der anderen. Wenn wir uns dazu aufraffen, sind uns die Personen oder ihre Schwierigkeiten nicht mehr fremd, sondern werden Teil von uns selbst. Christus geizte nicht mit der Zeit und scheute keine Mühe, um der Samariterin zu begegnen. Wer die andere Person versteht, erkennt, dass jede ein Geschenk ist, sieht das Bild Gottes in ihr, die grenzenlose Liebe, mit der Jesus sie liebt. Jeder ist ein Geschenk für die Menschen in seiner Nähe, und das zu entdecken, ist der erste Schritt, damit wir einander helfen können. Jesus erkennt die Gabe, die das Leben der Samariterin darstellt, und bittet sie daher, ihm zu trinken zu geben. Er hat Durst nach ihrer Liebe.

In der Tatsache, dass Jesus vor Jahren wie einer mehr getauft werden wollte – obwohl er es nicht nötig hatte –, sieht Papst Franziskus den Ursprung dieser Haltung: Christus geht dem anderen entgegen, um ihn zu verstehen, um ihm beizustehen, und hilft ihm nicht nur von außen: „Am ersten Tag seines Dienstes bietet uns Jesus sein programmatisches Manifest an. Er sagt uns, dass er uns nicht von oben herab heilt, mit einer souveränen Entscheidung, einem Kraftakt oder einem Dekret. Nein: Er heilt uns, indem er uns entgegenkommt und unsere Sünden auf sich nimmt. So besiegt Gott das Böse der Welt: indem er herabsteigt, indem er es auf sich nimmt. Das ist auch die Art, wie wir die anderen erheben können: nicht verurteilend, nicht indem wir ihnen sagen, was zu tun ist, sondern indem wir uns ihnen nähern, mit-leidend, indem wir die Liebe Gottes teilen. Die Nähe ist der Stil Gottes mit uns“(2).

Der Gründer des Opus Dei sagte, dass „die brüderliche Zurechtweisung Teil des Blicks Gottes ist, seiner liebevollen Vorsehung“(3). Wer seinen Bruder versteht, urteilt nicht über die anderen: Er achtet darauf, sie wie Gott zu sehen, und daher erscheinen ihm alle wie ein Schatz; er versucht sie wie eine Kostbarkeit zu hüten. „Die brüderliche Zurechtweisung wird aus Liebe erteilt. Sie beweist, dass wir möchten, dass die anderen wirklich glücklich werden“(4), so Msgr. Fernando Ocáriz, Prälat des Opus Dei. Diese Überzeugung, ihr Glück zu suchen, beteiligt uns bei größter Achtung ihrer Freiheit an ihrem Leben, denn nur so ist die Liebe wahrhaftig. Einem unserer Geschwister auf dem Weg der Heiligkeit zu helfen, gleicht dabei mehr einer geduldigen und warmen schlaflosen Nacht, in der das Wirken Gottes erwartet wird, als einer kalten Überwachung. „Überwachen bezieht sich mehr auf die Bewahrung der Lehre und der Sitten, wachen dagegen betrifft mehr die Bemühung, dass es Salz und Licht in den Herzen gibt. Wache halten bedeutet, auf eine bevorstehende Gefahr zu achten, wachen hingegen spricht vom geduldigen Ertragen der Abläufe, durch die der Herr das Heil seines Volkes entwickelt“(5).

Auf das Herz des Menschen kommt es an

„Wenn ihr eine brüderliche Zurechtweisung macht, dann sollt ihr die Fehler eurer Brüder lieben“(6), sagte der heilige Josefmaria. Pflegen bedeutet nicht nur eine kleine Wunde heilen, sondern die Person in ihrer Gesamtheit erfassen, sie in der Zeit lieben, projiziert bis in den Himmel. In diesem Sinn ist es das Herz des Menschen, in dem die guten oder die bösen Handlungen in ihrer Gesamtheit geschmiedet werden (vgl. Mt 15,19): Das interessiert uns besonders, mehr als kleine Details, die oft Teil einer Eigenart sein können. Wer helfen will, bleibt nicht am Äußeren hängen, bewertet einen Aspekt nicht isoliert, sondern betrachtet die Ereignisse im Licht des Strebens nach Heiligkeit des anderen, wobei er die Sandalen ablegt, weil er sich im Tiefsten von dessen Seele befindet (vgl. Ex 3,5). Eine brüderliche Zurechtweisung bringt sozusagen die Haltung dessen zum Ausdruck, der helfen will, die Gaben zu entdecken, die Gott uns in den tausendundeins alltäglichen Kämpfen schenken möchte: „Wenn du wüsstest, worin die Gabe Gottes besteht“ (Joh 4,10). Jede Hilfe muss sich so präsentieren: wie eine Linse, um das Geschenk zu entdecken, das in jedem Kampf verborgen ist. Bei der brüderlichen Zurechtweisung müssen wir wie jemand sein, der zärtlich über die Heiligkeit des anderen wacht, nicht wie jemand, der die Erfüllung „gewisser Standards, die wir uns auferlegt haben,“(7) überwacht.

Jesus etwa bleibt nicht bei den peripheren Fragen des Lebens der Samariterin stehen. Er dringt bis zum Kern des Schmerzes dieser geliebten Seele vor. Durch das Gespräch hat Jesus sie zu jener Wahrheit geführt, deren sie sich nun nicht mehr schämt. Deshalb kehrt sie in das Dorf zurück und erzählt allen, wie befreit sie sich fühlte: „Er hat mir alles gesagt, was ich getan habe. Ist er vielleicht der Messias?“ (Joh 4,29).

Jesus lehrt uns, dass der Blick Gottes integrativ, alles miteinander verbindend ist. Er weiß vom scheinbar Unbedeutenden zum Geistlichen, Großen und Wesentlichen aufzusteigen. Er ist geduldig, sieht alles als Teil der Gesamtheit eines ganzen Lebens. Erhellende Worte kommen dazu von Papst Benedikt: „In unserer vom Individualismus geprägten Welt ist es notwendig, die Wichtigkeit der brüderlichen Zurechtweisung wieder zu entdecken, um gemeinsam auf die Heiligkeit zuzugehen (…). Es ist ein großer Dienst, zu helfen und sich helfen zu lassen, um in Wahrheit in uns selbst zu lesen, um unser Leben zu bessern und immer vollkommener auf den Wegen des Herrn zu wandeln. Immer ist ein Blick notwendig, der liebt und korrigiert, der erkennt und anerkennt, der unterscheidet und verzeiht (vgl. Lk 22,61), wie Gott es mit jedem Einzelnen von uns getan hat und tut“(8). Dieser Blick bleibt nicht einfach bei unwichtigen Kleinigkeiten stehen und bläst sie nicht auf; vielmehr füllt er sich mit Hoffnung durch weite Horizonte und gibt diese gegebenenfalls so weiter. Er weiß, dass er einem ausdrücklichen Wunsch Jesu nachkommt, und versucht daher so vorzugehen, wie dieser es tun würde: „Geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen“ (Mt 18,15).

Durch die brüderliche Zurechtweisung stützen wir einen Bruder in seinen konkreten und täglichen Wünschen nach Heiligkeit. Sie ist keine Verbesserung des Ganzen, denn Gott wirkt in jedem Menschen, sondern genau das Gegenteil: eine Bestätigung, dass die Heiligkeit mit dieser Schwäche vereinbar ist. Folgende Worte des heiligen Johannes Chrysostomus können uns helfen: „Der Herr sagt nicht: Klagt an, streitet, verlangt Rache, sondern weist zurecht“(9). Wir vermitteln den anderen unsere Wertschätzung für ihren Kampf, wir anerkennen ihre Gefühle, wir geben ihnen Rückhalt in dieser Schlacht; mit unserer Hilfe erinnern wir sie daran, dass wir auch mit der ihren rechnen. Jede brüderliche Zurechtweisung enthält eine diskrete Bewunderung für den Bruder und für das Werk der Gnade in seiner Seele.

Eine Frucht der Freundschaft

Um einen Kontext zu schaffen, in dem eine solcher Beistand möglich ist, ist Nähe notwendig, aufrichtiges Interesse, wirkliche Sorge um das Leben des anderen. Wer sich brüderlich gefällig erweist und die anderen bis in die Tiefe kennt, kann eine Beziehung gegenseitiger und wahrer Freundschaft herstellen. Die brüderliche Zurechtweisung ist eine natürliche Frucht dieses geduldig gepflegten Bodens. Um in das Herz der anderen eintreten zu können, ist zudem Einfühlungsvermögen nötig. Dieser Dienst lässt sich nicht von außen noch aus der Ferne leisten. Heute werden hochpräzise chirurgische Operationen mit einem Instrumentarium durchgeführt, das im Inneren der Patienten ansetzen kann, ohne dass äußere Eingriffe notwendig sind. Man könnte sagen, dass ein verständnisvoller Bruder feinfühlig bis zum heiligen Ort des Herzens vorzudringen sucht, ohne die Intimität zu verletzen.

Zusätzlich muss man denjenigen gut kennen, den man zurechtweisen wird. Es gibt vom Temperament bestimmte Veranlagungen, durch die wir sehr unterschiedlich sind und die der heilige Josefmaria als einen zentralen Teil dieses „sehr verschiedenen Zählers“(10) der Gläubigen im Opus Dei und in der Kirche erachtete. Es wäre nicht gerecht, zu denken, dass die Verschiedenheit der Reaktionen nur mit der Demut oder mit der Empfindlichkeit dessen zusammenhängt, der die brüderliche Zurechtweisung empfängt. Für manche klingen auch die feinfühligsten Worte noch leicht nach einem Vorwurf; diese stellt Jesus mit Lobreden und Sanftmut vor die Wahrheit. So machte er es zum Beispiel mit jener Frau, die ihm im Haus des Pharisäers Simon die Füße salbte (vgl. Lk 7,36-50). Andere hingegen nehmen einen Mangel an Interesse und echter Liebe wahr, wenn die Worte nicht besonders klar sind. Marta musste ihren Namen zweimal hören, um zu entdecken, dass auch sie den besten Teil in ihrer Arbeit wählen konnte (vgl. Lk 10,38-42). Thomas brauchte die physische Nähe des Herrn, um von neuem der treue Apostel zu werden, der einmal sein Leben für den Meister hingeben wird (vgl. Joh 20,26-29). Den guten Schächer ereilte die Zurechtweisung inmitten eines unerwarteten Geschenks: Noch heute würde er mit Jesus im Paradies sein (vgl. Lk 23,39-43). Die Samariterin selbst benötigte Zeit, ein besonnenes und ruhiges Gespräch, an einem abgelegenen Ort: mit Jesus allein. Es gibt im Evangelium keine zwei gleichen Personen und keine zwei gleichen Reaktionen, auch nicht bei jenen, die uns umgeben.

„Wenn etwas bei uns nicht in Ordnung ist, helfen sie uns mit dieser gesegneten brüderlichen Zurechtweisung, die eine sehr übernatürliche Liebe verlangt und viel Selbstüberwindung, denn manchmal fällt es schwer, die brüderliche Zurechtweisung zu machen. Loyal machen sie uns darauf aufmerksam, was nicht richtig ist, und sagen uns die Gründe. Wenn du hingegen nicht da bist, sagen sie, dass du sehr heilig bist, dass du schwer in Ordnung bist. Ist das nicht schön, meine Kinder? Wir sprechen von Loyalität, und das ist menschliche Loyalität. Wir lügen nicht, wir behaupten nicht von einer anderen Person, sie hätte menschliche Vorzüge, die sie nicht hat; aber wir werden nie zulassen, dass man sie hinter ihrem Rücken kritisiert. Und die unangenehmen Dinge sagen wir auf diese Art, liebevoll, damit sie sie berichtigt“(11).

* * *

Der heilige Josefmaria stellte mit großem Nachdruck fest – wie jemand, der es am eigenen Leib passiv wie aktiv erfahren hat: „Überzeuge dich davon: Wenn du die brüderliche Zurechtweisung machst, hilfst du deinem Bruder, mit Jesus Christus das Kreuz zu tragen. Es ist eine ganz übernatürliche Hilfe, denn der brüderlichen Zurechtweisung geht dein Gebet voraus, sie wird von ihm begleitet und gefolgt“(12). In Kana in Galiläa bemerkt Maria, dass der Wein ausgegangen ist, und das kann die Freude des Brautpaars in Gefahr bringen. Als gute Beobachterin setzt sie eine mütterliche Zurechtweisung in Gang. Sie sucht die Lösung, spricht mit Jesus, spricht mit den Dienern. Einer Schwester oder einem Bruder auf diese Weise zu helfen, bedeutet, von Christus den besten Wein für sie zu erhalten. Und das erreicht man nur, indem man die Seelen zu ihm bringt, mit Jesus über sie spricht, in der Überzeugung, dass jener sie am meisten liebt, der zu der Sendung aufgebrochen ist, sie zu retten.


(1) Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 463.

(2) Papst Franziskus, Angelus, 10.1.2021.

(3) Msgr. Javier Echevarría, Memoria del Beato Josemaría Escrivá, Rialp, Madrid 2000, S. 127.

(4) Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 1.11.2019, Nr. 16.

(5) Papst Franziskus – Kardinal Bergoglio, X. Gewöhnliche Generalversammlung der Bischofssynode, 2.10.2001.

(6) Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einem Familientreffen, 18.10.1972.

(7) Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 28.10.2020, Nr. 6.

(8) Benedikt XVI., Botschaft für die Fastenzeit 2012, Nr. 1.

(9) Hl. Johannes Chrysostomus, Homiliae in Matthaeum, Nr. 60,1.

(10) Im Opus Dei haben alle Platz. Daher schrieb der heilige Josefmaria, dass, auch wenn der „gemeinsame Nenner“ der Mitglieder die Suche nach der Heiligkeit ist, es „sehr verschiedene Zähler (Autonomie)“ gibt, „entsprechend den verschiedenen Arten ihres Charakters und Temperaments, und bis hin zum unterschiedlichen Weg, auf dem Jesus ihre Seelen führt“. Persönliche Aufzeichnungen, Nr. 511.

(11) Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen von einem Familientreffen, 21.5.1970.

(12) Msgr. Javier Echevarría, Memoria del Beato Josemaría Escrivá, Rialp, Madrid 2000, S. 128.

Diego Zabaldea