Betrachtungstext: 6. Sonntag im Jahreskreis (A)

Die Neuheit des Gesetzes – Instrument der Freiheit – Die Wurzel der Sünde

Kirche am Berg der Seligpreisungen

NACH der Verkündigung der Seligpreisungen setzt Jesus die Bergpredigt fort und spricht über das Gesetz. Von Anfang an stellt sich der Herr nicht als jemand dar, der gekommen ist, um das, was Mose oder die Propheten gesagt haben, aufzuheben, sondern um diesen Worten Fülle zu verleihen (vgl. Mt 5,17). Und diese Fülle, dieser tiefere Sinn, setzt voraus, dass man das Gesetz nicht als etwas Äußerliches, der Person Fremdes begreift, die sich trotzdem mit Gewalt zur Erfüllung zwingen muss; die Gebote Gottes sind in Wirklichkeit auf unser Herz abgestimmt und dazu da, es zu verändern und zum wahren Glück zu führen.

Schon der Psalmist sagt, dass diejenigen gesegnet sein werden, die die Gebote des Herrn halten "und ihn suchen mit ganzem Herzen" (Ps 119,2). Das Buch Sirach weist auch darauf hin, dass Gott " jede Tat des Menschen kennt" (Sir 15,19): Er bleibt nicht nur bei der Oberfläche der Handlung, sondern kümmert sich auch um die Absicht, mit der sie getan wurde. Jesus will nicht, dass wir uns von dem bloßen Wunsch leiten lassen, uns zu fügen, denn diese Haltung verbindet uns nicht mit den anderen, sondern führt zum Formalismus: das zu tun, was von außen vorgeschrieben ist, ohne das Gute zu erkennen, das es für das eigene Leben bedeutet. Der Herr lädt uns also ein, uns von einer Liebe wie der seinen bewegen zu lassen, die oft über dem Gesetz selbst zu stehen vermochte.

"Die Neuheit Jesu besteht im wesentlichen in der Tatsache, daß er selbst die Gebote mit der Liebe Gottes »erfüllt«, mit der Kraft des Heiligen Geistes, der in ihm wohnt. Und wir können uns durch den Glauben an Christus dem Wirken des Heiligen Geistes öffnen, der uns dazu befähigt, die göttliche Liebe zu leben. Deshalb bewahrheitet sich jedes Gebot als Erfordernis der Liebe, und alle Gebote sind wieder zusammengefaßt in einem einzigen Gebot: Du sollst Gott lieben mit ganzem Herzen, und du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst".1

IM LAUFE der Geschichte gab es immer wieder Menschen, die das Gesetz als eine willkürliche Auferlegung durch Gott verstanden haben. Diese Mentalität führt dazu, dass man denkt, es sei nur deshalb angebracht, es zu befolgen, weil er es so festgelegt hat, so dass man sagen könnte: "Gott hat ein Gebot diktiert, aber er hätte auch das Gegenteil anordnen können". Dieser Ansatz hindert uns daran, die Güte der göttlichen Gebote und die tiefe Rationalität, die ihnen zugrunde liegt, zu erkennen: Sie sind keine Launen, sondern entsprechen dem Wunsch nach dem Guten, der in der menschlichen Natur liegt.

Es geht also nicht darum, die Gebote als willkürliche Auflagen zu verstehen, sondern "als ein Instrument der Freiheit, das mir hilft, freier zu sein, das mir dabei hilft, kein Sklave der Leidenschaften und der Sünde zu sein. (...) Wenn man den Versuchungen und Leidenschaften nachgibt, ist man nicht der Herr und Protagonist des eigenen Lebens, sondern wird unfähig, es mit Willenskraft und Verantwortung zu bewältigen".2 Gott weist uns mit seinem Gesetz einen Weg, der den Durst nach Erfüllung stillt, den wir alle haben; einen Weg, auf dem wir immer mehr Herr über uns selbst werden, weil unsere Freiheit immer mehr wächst. Deshalb liegt die Schwere der Sünde nicht so sehr in der Nichteinhaltung einer Regel, sondern in dem Schaden, den wir uns selbst zufügen: Wir verlieren die Führungsrolle in unserem Leben und lassen zu, dass unsere Leidenschaften uns beherrschen.

Wie der heilige Josefmaria sagte: "Die Freiheit erhält ihren wirklichen Sinn erst dann, wenn sie im Dienst der erlösenden Wahrheit ausgeübt wird, wenn sie aufgeht im Verlangen nach der unendlichen Liebe Gottes, die die Fesseln jeder Knechtschaft von uns nimmt”.3 Die Gebote des Herrn unterdrücken nicht die Freiheit, sondern ganz im Gegenteil: "Es ist lex perfecta libertatis (Jak 1, 25), das vollkommene Gesetz der Freiheit, wie das Evangelium selbst, enthält es doch voll und ganz das Gesetz der Liebe. Es ist nicht bloß eine äußere Norm, die zu lieben befiehlt, sondern zugleich innere Gnade, die die Kraft zu lieben schenkt".4

IN SEINER REDE zeigt Jesus nicht nur die Fülle des Gesetzes auf ‒ einen Weg, der mit dem Herzen gegangen wird und der uns befreit ‒, sondern lädt uns auch ein, über den Ursprung des Bösen nachzudenken. Das mosaische Gesetz verbot Mord und Ehebruch, aber Christus geht noch weiter: "Jeder, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein" (Mt 5,22); und "jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen" (Mt 5,28). Die Fülle des Gesetzes, das neue Evangelium Jesu Christi, bezieht sich also nicht nur auf äußere Handlungen, sondern auch auf die inneren Bewegungen des Menschen: Neigungen, Wünsche, Gefühle....

Die Lehre Jesu zielt auf die Wurzel der Sünde. Einem Mord geht der Wunsch voraus, einen anderen zu schädigen. Ehebruch ist eine Folge der Ablehnung des Ehepartners und des Wunsches, einen anderen Menschen zu besitzen. Diese Übel werden zuerst in der eigenen Intimsphäre gezeugt. Und wenn sie einmal im Herzen verwurzelt sind, werden sie durch konkrete Handlungen nach außen getragen. Deshalb ermutigt uns der Herr, unseren Blick nach innen zu richten und über die Motive nachzudenken, die unser Handeln bestimmen. Bei einer anderen Gelegenheit wird er sagen: "Was aber aus dem Mund herauskommt, das kommt aus dem Herzen und das macht den Menschen unrein. Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch" (Mt 15,18-19).

Der heilige Josefmaria betonte die Notwendigkeit einer Gewissenserforschung, um den Ursprung unserer Sünden erkennen zu können. Deshalb können wir denken: Wie prüfe ich mein Leben im Licht Christi? "Prüfe gewissenhaft deine Lebensweise. Du wirst dann merken, daß du viele Fehler hast, die dir und vielleicht auch den dir Nahestehenden schaden. (...) Du mußt täglich ‒ und zwar gründlich ‒ dein Gewissen prüfen und deine Fehler, Unterlassungen und Sünden wirklich bereuen. Dann fasse konkrete Vorsätze, um dich zu bessern".5 Gott wird uns mit seiner Gnade helfen, die Fülle des Gesetzes, das sein Sohn geoffenbart hat, in unsere Seelen aufzunehmen. An die Heilige Jungfrau Maria können wir diese Worte des Gründers des Opus Dei richten: "Wenn es in mir etwas gibt, das dir mißfällt, so sage es mir. Wir wollen es gemeinsam ausmerzen".6


1 Benedikt XVI., Angelus, 13-II-2011.

2 Papst Franziskus, Angelus, 16-II-2020.

3 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 27.

4 Msgr. Fernando Ocáriz, Pastoralbrief, 9-I-2018, Nr. 7.

5 Hl. Josefmaria, Feuer, Nr. 481.

6 Ebd., Nr. 108.