JESUS war unterwegs, begleitet von einer großen Menschenmenge. Einige waren bei seinen Wundern dabei gewesen, andere hatten vielleicht nur von ihm gehört. Doch alle waren voller Ehrfurcht vor diesem Meister, in dessen Worten und Werken die Macht Gottes sichtbar wurde. Als Jesus mit seinen Anhängern in die Stadt Naïn kam, sah er schon von Ferne eine bewegende Szene: Eine Witwe geleitete den Leichnam ihres einzigen Sohnes zum Grab. Der Evangelist fasst die Reaktion Jesu schlicht zusammen: Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr (Lk 7,13).
Als wahrer Mensch empfindet Christus Mitgefühl, so wie jeder von uns es empfinden würde. Doch da er zugleich Gott ist, kann er mehr Trost spenden, als wir ihn je schenken könnten. Er trat heran und berührte die Bahre. Die Träger blieben stehen und er sagte: Jüngling, ich sage dir: Steh auf! Da setzte sich der Tote auf und begann zu sprechen (Lk 7,14-15). Anders als bei anderen Wundern wird hier keine Bitte an den Herrn herangetragen; und weder der Name der Mutter noch des Sohnes wird genannt. Doch Jesus kennt das Herz der Frau und lässt sich von ihrem Schmerz bewegen.
Der heilige Josefmaria bemerkt dazu: „Jesus hätte auch vorübergehen oder erst auf einen Ruf oder eine Bitte hin reagieren können. Doch weder geht er vorbei, noch wartet er ab. Er ergreift die Initiative, bewegt vom Schmerz einer Witwe, die das Letzte verloren hatte, was ihr noch geblieben war: ihren Sohn. (...) Er blieb und bleibt nicht unberührt von Leid, das der Liebe entspringt.“1 Jesus blickt so auch auf uns. Er sieht unsere Kämpfe und Verwundungen, wie er den Schmerz der Witwe von Naïn sah. Und er ist immer der erste, der uns Trost und neues Leben schenken will.
IM VOLK ISRAEL war das Bewusstsein tief verwurzelt, dass Jahwe ein besonderes Mitgefühl für Witwen hat. Der Herr beschützt die Fremden, er hilft den Waisen und Witwen, sagt der Psalmist (Psalm 146,9). Auch die Propheten erinnerten das auserwählte Volk immer wieder daran, wie wichtig es ist, sich der Witwen anzunehmen und sie nicht in ihrer Not allein zu lassen. Unter den damaligen sozialen Bedingungen war eine Frau ohne Mann großen Herausforderungen ausgesetzt.
So können wir uns vorstellen, wie verzweifelt die Witwe von Naïn gewesen sein muss. Nachdem sie ihren Ehemann verloren hatte, starb nun auch ihr einziger Sohn – ihre letzte Stütze. Ihre Zukunft lag in Dunkelheit, ohne Halt, ohne Hilfe. Doch in diesem scheinbar hoffnungslosen Moment trat der Herr in ihr Leben und schenkte ihr ein Wunder. Eine ähnliche Situation sollte später bei der Auferweckung des Lazarus eintreten, als ebenfalls jede menschliche Hoffnung erloschen war.
Die christliche Hoffnung ist keine naive Erwartung, dass sich alles zum Guten wendet. Oft lässt Gott zu, dass Schwierigkeiten andauern und eine menschliche Hoffnung nach der anderen zerbricht. Gerade dann sind wir eingeladen, unser Vertrauen ganz auf Christus zu setzen. Der heilige Paulus schreibt: Christus ist in euch und ist die Hoffnung der Herrlichkeit (Kol 1,27). Unsere Sicherheit ruht nicht in unseren Fähigkeiten, nicht im Halt, den die Welt geben kann, oder im Glauben, dass sich unsere Vorstellungen und Ziele irgendwann erfüllen werden, sondern in der festen Gewissheit, dass Gott immer an unserer Seite ist. So schrieb der Gründer des Opus Dei: „In te, Domine, speravi: Auf dich, Herr, habe ich gehofft. ‒ Zu den natürlichen Mitteln habe ich mein Gebet und mein Kreuz hinzugefügt. ‒ Meine Hoffnung wurde nicht zuschanden und sie wird es niemals sein: non confundar in aeternum!“2
NACHDEM DER junge Mann ins Leben zurückgekehrt war, berichtet Lukas schlicht, dass Jesus ihn seiner Mutter zurückgab (Lk 7,15). Diese Geste musste sich unauslöschlich in ihr Herz eingeprägen. Von diesem Moment an sah sie ihren Sohn mit neuen Augen. Papst Franziskus bemerkt dazu: „Indem sie ihn aus den Händen Jesu entgegennimmt, wird sie zum zweiten Mal Mutter. Doch hat der Sohn, den sie nun zurückerhält, das Leben nicht von ihr empfangen. Mutter und Sohn finden ihre jeweilige Identität im machtvollen Wort Jesu und seiner einfühlsamen Geste.“3
Dass jedes Leben ein Geschenk ist, wird im Fall des Jünglings von Naïn deutlich. Was der Witwe scheinbar genommen wurde, gibt Gott ihr in seiner Gnade zurück. Der heilige Josefmaria erklärt: „Unser Herr trennt Kinder nicht gerne von ihren Eltern. Er überwindet den Tod, um Leben zu schenken, damit jene, die sich lieben, vereint bleiben. Gleichzeitig verlangt er von uns, den Vorrang der göttlichen Liebe anzuerkennen, der jedes wahre christliche Leben prägen soll.“4
Die Witwe von Naïn musste einen Prozess der Läuterung ihrer Hoffnungen durchlaufen. Zunächst hatte sie ganz selbstverständlich auf ihren Sohn gesetzt, nachdem ihr Mann gestorben war. Doch dann musste sie ihn loslassen – bis der Herr ihn ihr wieder schenkte. Von da an konnte sie sein Leben nur noch als Gabe verstehen, die von Gott kam. Gewiss würde sie weiterhin auf ihn bauen, doch ihr größtes Vertrauen würde sie in Gott setzen. Auch Maria, die Mutter Jesu, lebte in den Tagen nach dem Tod ihres Sohnes mit dieser Hoffnung. Deshalb kann niemand besser als sie uns lehren, die Herausforderungen des Lebens mit Blick auf die Auferstehung zu bewältigen. Wer auf Gott hofft, wird niemals enttäuscht.
1 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 166.
2 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 95.
3 Franziskus, Audienz, 10.8.2016.
4 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 166.

