Betrachtungstext: 22. Woche im Jahreskreis – Freitag

Ein weiter Blick – Christus, das Maß für unsere Urteile – Den Wein des Herrn mit erneuertem Herzen empfangen

DIE SCHRIFTGELEHRTEN und Pharisäer beschweren sich bei Jesus: Die Jünger des Johannes fasten und beten viel, ebenso die der Pharisäer; deine Jünger aber essen und trinken (Lk 5,33). Das Verwandtschaftsverhältnis zwischen dem Täufer und Jesus ist den Lehrern des Volkes bekannt. Sie rechnen damit, Jesus mit seiner „ausgelassenen“ Anhängerschaft durch den Vergleich mit der asketischen Truppe des Vorläufers in Bedrängnis bringen zu können. Der wahre Grund für ihre Beschwerde liegt jedoch in ihrem Widerstand, das Neue zu akzeptieren, das Jesus von Nazaret bringt. Die vom Messias verkündeten Wahrheiten und die Art und Weise, wie er sie darlegt, verwirren sie und sind ihnen unbequem. In ihren Augen ist es eine Sache, zur Umkehr gerufen zu werden und die eigene Sündhaftigkeit einzugestehen, und eine andere, den Retter der Welt, das Fundament und den Daseinsgrund des Volkes Israel, anzuerkennen.

Das Problem bei Vergleichen – im Allgemeinen wie auch in diesem Fall – liegt häufig darin, dass sie eine größere Wahrheit verschleiern. Vergleiche entstehen oft aus Unbehagen, Unzufriedenheit oder Widerstand. Das urteilende Subjekt wählt einen Maßstab, der die eigene Position rechtfertigt. Persönliche Erfahrungen werden verabsolutiert, und es wird übersehen, dass die Welt weiter reicht als die eigene Perspektive. Wer sich beschwert, greift auf sein begrenztes Wissen zurück, um seine Sichtweise zu stützen. In diesem Fall ist der Maßstab das Fasten – etwas, das manche Schriftgelehrte und Pharisäer gerne zur Schau stellen.

Der heilige Josefmaria ermutigte uns, nicht vorschnell zu urteilen, sondern die Dinge in Ruhe zu erwägen, um einen Überblick zu gewinnen. „Jeder sieht die Dinge von seinem Blickwinkel aus … mit einem Verstand, der fast immer recht begrenzt ist, und Augen, die oft von den Nebeln der Leidenschaft getrübt und verschwommen sind.“1 Und er fügte hinzu, dass man manchmal wie vor einem abstrakten Kunstwerk steht und die dargestellte Figur kaum erkennt. „Die Sicht mancher Menschen ist derart subjektiv und krankhaft, dass sie einige willkürliche Striche auf Papier bringen und uns dann versichern, dies sei unser Porträt, unser Verhalten …Wie wenig taugen menschliche Urteile! – Urteilt nicht, ohne euer Urteil vorher im Gebet zu prüfen.“2


ES GIBT Vergleiche – wie den der Pharisäer und Schriftgelehrten – die zum Zweck der Kritik eingesetzt werden. Es gibt aber auch andere Vergleiche, die helfen können, die Realität besser zu verstehen. Jede Annäherung an das Leben, an eine Person oder an eine Handlungsweise beinhaltet ein Vorurteil. Dabei wird eine Synthese des erlangten Wissens vorgenommen, die eigene Sichtweise auf die Situation projiziert und gleichsam vorausgesagt, was geschehen wird. Beispiele dafür sind: „Wenn ich früher mit dem Lernen anfange, werde ich bei der Prüfung sicherlich besser abschneiden.“ „Ich denke, er wird sich über dieses Geschenk freuen.“ „Wenn wir in diese Richtung gehen, werden wir wahrscheinlich stecken bleiben.“

Alle diese Urteile basieren auf bestimmten Kriterien, die uns dabei helfen, die besten Mittel zur Erreichung eines Ziels zu erkennen. Entscheidend ist, dass wir den Maßstab kennen. Der Maßstab für unser Handeln hat einen Namen. In seiner Antwort gibt Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern zu verstehen, dass er selbst der wahre Maßstab ist: Könnt ihr denn die Hochzeitsgäste fasten lassen, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Es werden aber Tage kommen, da wird ihnen der Bräutigam weggenommen sein; dann, in jenen Tagen, werden sie fasten (Lk 5,34-35). Ob gefastet wird oder nicht, hängt von der Gegenwart Jesu ab. Beide Optionen sind gut, doch in seiner Gegenwart ist das Fasten nicht nötig, da es dazu dienen soll, Gott näher zu kommen – und sie hatten ihn bereits vor Augen.

Papst Franziskus schrieb einmal: „Je mehr Jesus den Mittelpunkt unseres Lebens einnimmt, desto mehr führt er uns dazu, aus uns selbst hinauszugehen, uns selbst aus dem Mittelpunkt zu nehmen und uns den anderen zuzuwenden.“3 Wenn wir viel Zeit mit jemandem verbringen, übernehmen wir oft unbewusst einige seiner Gesten oder Ausdrucksweisen. Ebenso lernen wir durch die Nähe zum Herrn, die Wirklichkeit aus seiner Perspektive zu beurteilen und auch mit seinem Herzen anzunehmen. Ob bei der Arbeit, in der Universität oder in unserer Freizeit – wir können uns immer wieder die Frage stellen, die Papst Franziskus einst den Jugendlichen nahelegte: „Was würde Jesus an meiner Stelle tun?“ Und er ermutigte sie: „Der Tag wird kommen, an dem ein jeder von euch, ohne dass ihr es merkt, den gleichen Pulsschlag haben wird wie Jesus.“4


JESUS ist sich der Tatsache bewusst, dass die Beurteilung der Wirklichkeit, wie er sie vorschlägt, keine kleine Neuerung darstellt. Daher erzählt er zwei Gleichnisse, die zeigen, wie ein solcher Übergang vonstattengehen kann. Niemand schneidet ein Stück von einem neuen Gewand ab und setzt es auf ein altes Gewand. Sonst würde ja das neue Gewand zerschnitten und zu dem alten würde das Stück von dem neuen nicht passen. Auch füllt niemand jungen Wein in alte Schläuche. Sonst würde ja der junge Wein die Schläuche zerreißen; er läuft aus und die Schläuche sind unbrauchbar. Sondern: Jungen Wein muss man in neue Schläuche füllen (Lk 5,36-38).

Die Botschaft, die Jesus Christus bringt, verlangt nach einem neuen Herzen. Es reicht nicht aus, nur das äußere Verhalten zu ändern. Der neue Wein verlangt nach neuen Schläuchen, was bedeutet, dass die Ansätze, die das eigene Leben bisher bestimmt haben, überwunden und der Herr als neuer Bezugspunkt angenommen werden kann. Und genau dies haben viele Zeitgenossen Jesu versäumt. Der heilige Josefmaria schrieb: „Die Sünde der Pharisäer bestand nicht darin, dass sie in Christus nicht Gott sahen, sondern dass sie sich willentlich verschlossen und nicht zuließen, dass Jesus, das Licht selbst, ihnen die Augen öffnete. Diese Verschlossenheit hat unmittelbare Auswirkungen auf die Beziehung zu unseren Mitmenschen. Der Pharisäer, der meint, selbst Licht zu sein, und nicht zulässt, dass Gott ihm die Augen öffnet, wird dem Nächsten voller Hochmut und Ungerechtigkeit begegnen.“5

Gott bietet uns neue Schläuche an – Wege, um seinen „Wein“ aufzunehmen und zu bewahren. Diese neuen Schläuche können verschiedene Formen annehmen: den häufigen Empfang der Sakramente, das Gebet, den Dienst am Nächsten, die gute Arbeit, die geistliche Begleitung und die beständige Suche nach Gott. So schaffen wir den richtigen Rahmen, damit der Wein – das Gute, das Gott uns schenkt – mit der Zeit in uns reifen kann. Wenn wir den neuen Wein einmal gekostet haben, werden wir erkennen, wie wertvoll diese neuen Schläuche sind. Und wie die Gottesmutter bei der Hochzeit zu Kana werden wir erfahren, dass es keinen besseren Wein gibt als den, den ihr Sohn uns anbietet.


1 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 451.

2 Ebd.

3 Franziskus, Botschaft, 5.7.2017.

4 Franziskus, Ansprache, 17.1.2018.

5 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 71.