Es gibt ein kleines, in eine Wand geritztes Bild aus dem kaiserlichen Rom. Dieses Bild zeigt einen Gekreuzigten mit einem Eselskopf und vor ihm einen Menschen mit erhobener Hand. Darunter ist zu lesen: "Alexamenos betet seinen Gott an". Dieses Spottkruzifix ist die älteste Darstellung des Gekreuzigten. Es ist wie eine Illustration des Pauluswortes, dass Christus der Gekreuzigte „für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit“ ist (1 Kor 1,23).
„Das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit, uns aber, die wir gerettet werden, ist es Gottes Kraft" (1 Kor 1,18). Im Kreuz berühren wir das tiefste Geheimnis unserer Erlösung: „Wir rühmen uns des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus. In ihm ist uns Heil geworden und Auferstehung und Leben!“ (Eröffnungsvers Fest Kreuzerhöhung, vgl. Gal 6,14).
Die Johannes-Passion beginnt mit der Aussage des Evangelisten: „Jesus, der alles wusste, was mit ihm geschehen sollte, ging hinaus und fragte sie: Wen sucht ihr?“ (Joh 18,4). Bewusst und freien Willens liefert sich der Herr aus, für uns und um unseres Heiles willen. Der Menschensohn musste leiden, aber besonders im Johannes-Evangelium wird deutlich, wie der Herr frei in sein Leiden hineinschreitet.
Als Jesus nun fragt: „Wen sucht ihr?“ antworten sie ihm: „Jesus von Nazaret. Er sagte zu ihnen: Ich bin es. Auch Judas, der Verräter, stand bei ihnen. Als er zu ihnen sagte: Ich bin es!, wichen sie zurück und stürzten zu Boden. Er fragte sie noch einmal: Wen sucht ihr? Sie sagten: Jesus von Nazaret. Jesus antwortete: Ich habe euch gesagt, dass ich es bin. Wenn ihr mich sucht, dann lasst diese gehen!“ (Joh 18,4-8)
Jesus gibt sich nicht nur als der Gesuchte zu erkennen. In dem wiederholten Ich bin es spiegelt sich jene Selbstoffenbarung und jene Hoheit des Herrn, die im Johannes-Evangelium immer neuen Ausdruck findet: „Ich bin das Brot des Lebens“ (6,48), „Ich bin das Licht der Welt“ (8,12), „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (11,25). Es ist der Widerhall der grundlegenden Gottesoffenbarung des Alten Testamentes: „Ich bin der ich bin, Ich bin der Ich-bin-da“ (Ex 3,14). Es ist dieses Gottes-Wort, vor dem die Häscher zu Boden stürzen. Es ist paradox: „Jesus beherrscht seine eigene Verhaftung souverän. Seine Gegner und ihre Helfer sind machtlos. Jesus gibt sich selbst in ihre Hände, damit die Schrift erfüllt wird. Wenn er es nicht selbst wollte, wenn er nicht selbst die Initiative ergriffe, könnte ihm niemand etwas anhaben. ... Die Ohnmacht Jesu ist Macht. Die Macht der Mächtigen ist Ohnmacht“ (G. Lohfink, Der letzte Tag Jesu, 101.103).
Ich bin ein König Ich bin ein König. Die ganze Johannes-Passion hindurch begleitet uns diese Botschaft. Sie wird besonders deutlich vor Pilatus. Der Prozess vor Pilatus nimmt bei Johannes erheblich größeren Raum ein als bei den anderen Evangelisten, ja er bildet regelrecht den Schwerpunkt der ganzen Leidensdarstellung.
„Bist du der König der Juden?“ fragt Pilatus. „Ja ich bin ein König, ... aber mein Königtum ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,33ff). Pilatus findet keinen Zugang zu diesem Königtum. Man könnte ihm mit militärischen oder juristischen oder verwaltungstechnischen oder wirtschaftlichen Angelegenheiten kommen – aber ein Königtum, das nicht von dieser Welt ist? Für Pilatus klingen die Worte Jesu wie Fremdwörter. Er verbindet mit ihnen einen anderen Sinn – so wie für viele Menschen heute Wahrheit, Erlösung, Glaube, Heil, Buße, Gnade Fremdwörter sind. Diese Sprache muss erst an der Hand Jesu neu gelernt und durchbuchstabiert werden.
Aber der Herr ist ein König. Er ist es gerade in seiner tiefsten Erniedrigung. „Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen müssen ihm dienen. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter“ (Dan 7,14). „Ihm ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden“ (Mt 28,18).
Der Evangelist zieht uns in einen dramatischen, erregenden Szenenwechsel hinein. Draußen vor dem Prätorium befinden sich die Juden und Hohenpriester, drinnen Pilatus und Jesus. Pilatus eilt von drinnen nach draußen, er schwankt zwischen politischem Opportunismus und besserer Einsicht – und gibt schließlich dem Unrecht nach.
Die alles bewegende Frage ist die nach dem Königtum Jesu. Der Königstitel schillert: Aus dem Munde der Juden ist sie Angriffswaffe, im Mund des Pilatus verächtliche Herablassung, im Handeln der Soldaten grausamer Hohn, im Munde Jesu Ausdruck der alles bestimmenden Wahrheit seiner Sendung. Aber: Was ist Wahrheit? – Gott ist die Wahrheit. Christus legt für sie Zeugnis ab (18,37). Wer aus Gott ist, versteht die Wahrheit Jesu: „Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme“ (18,37).
Es sieht aus, als drehe sich in der Szene alles um Pilatus, dem die Macht gegeben ist, „freizulassen oder zu „kreuzigen“ (18,10), aber in Wirklichkeit dreht sich alles um Jesus. An dem Blick auf ihn, im Glauben an ihn entscheidet sich alles.
Es ist vollbracht
Schließlich wird Christus am Kreuz „erhöht“ und über seinem Haupt ist das Schild angebracht, auf dem in den Weltsprachen steht: „Jesus von Nazareth, der König der Juden“ (19,19). In der ganzen grausamen Verkehrung der Passionsszenen wird deutlich: so tief muss der König des Weltalls hinabsteigen, um uns zu erlösen und Sünde, Satan und Tod zu besiegen. Die Erhöhung am Kreuz ist der grausame Höhepunkt des Unrechts, sie ist aber zugleich schon das Zeichen des Sieges und der Herrlichkeit Gottes.
Das letzte Wort Jesu lautet bei Johannes: „Es ist vollbracht.“ „Das ist, verglichen mit dem ‚Mein, Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen’ von Mk 15,34 ein königliches Wort“ (G. Lohfink, 109).
„Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat“ (Joh 3,16). Im „Haupt voll Blut und Wunden“ sehen wir das Gesicht Gottes und seiner Güte, die uns in die tiefsten Schmerzen nachgeht. „Nur mit dem Herzen können wir Jesus sehen. Nur die Liebe ist es, die uns sehend und rein macht. Nur sie lässt uns Gott erkennen, der selbst die Liebe ist. – Herr, gib uns die Unruhe des Herzens, die dein Antlitz sucht. Bewahre uns vor der Erblindung des Herzens, das nur noch die Oberfläche der Dinge sieht. Gib uns jene Lauterkeit und Reinheit, die uns hellsichtig macht für deine Gegenwart in der Welt. Gib uns den Mut zur demütigen Güte, wo wir der großen Dinge nicht fähig sind. Präge dein Antlitz in unsere Herzen ein, damit wir dir begegnen und dein Bild der Welt zu zeigen vermögen“ (J. Ratzinger, Kreuzweg, Rom 2005).