Auf dem Weg zur Hundertjahrfeier hat das Opus Dei einen Reflexionsprozess in Gang gesetzt. Im Gespräch kommen einige der behandelten Themen zur Sprache.
Welche großen Herausforderungen in der heutigen Welt haben Einfluss auf die Entwicklung und das Wachstum des Opus Dei?
Wir erleben auf verschiedenen Ebenen weltweit eine deutliche Verbesserung der Lebensbedingungen. Insofern dürfen wir die Welt mit Hoffnung betrachten. Der erweiterte Zugang zu Bildung, die Wertschätzung der individuellen Freiheit und die globale Vernetzung begünstigen die Verbreitung der christlichen Botschaft. In vielen Regionen Afrikas, Lateinamerikas und Asiens wächst die Zahl der Christen, in den Vereinigten Staaten erleben wir zahlreiche Bekehrungen unter Intellektuellen, im alten Europa nehmen Erwachsenentaufen zu. Und viele Menschen lernen über ganz unterschiedliche Wege, Gott in ihrem täglichen Leben zu begegnen. Wo immer die Kirche wächst, wächst auch das Opus Dei.
Gleichzeitig beobachten wir im säkularisierten Westen einen schwindenden Sinn für Transzendenz. Dadurch fällt es vielen zunehmend schwer, Lebensweisen zu verstehen, die Gott ins Zentrum stellen. Unsere hedonistische und individualistische Kultur tut sich auch schwer damit, Konzepte wie Liebe und Anstrengung, Freiheit und Verantwortung, Spontaneität und Tugend in Einklang zu bringen.
Unter drei Stichworten lassen sich die genannten Herausforderungen zusammenfassen: Verbindlichkeit, Kommunikation, Vertrauen.
Verbindlichkeit, diese wunderbare Fähigkeit der menschlichen Freiheit, Liebe auf der Grundlage von Versprechen zu entfalten, ist in sämtlichen Lebensbereichen fast zu einem No-Go geworden. Wir nehmen Freiheit eher in der Möglichkeit wahr, schnell mit etwas zu brechen, als in der geduldigen Anstrengung, etwas aufzubauen.
Was die Kommunikation anlangt, so schaffen Informationsüberflutung, Fake News und die Oberflächlichkeit, mit der wir Desinformationen akzeptieren, ein Chaos, das unsere Köpfe vernebelt und zu einer Polarisierung der Positionen führt.
Und Vertrauen, weil Autorität heute häufig als Machtgier wahrgenommen wird, unter Generalverdacht steht und somit Misstrauen erweckt.
Kann man sagen, dass das Opus Dei auf seinem Weg zur Hundertjahrfeier mit den Regionalversammlungen einen Prozess der Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Beiwerk angestoßen hat?
Die Regionalversammlungen sind ein partizipatives Instrument, das der heilige Josefmaria bereits in den Anfängen des Opus Dei vorgesehen hatte. Von Anfang an wurden die Mitglieder konsultiert, in strukturierter und formeller Form seit 1943. Seither werden diese Regionalversammlungen regelmäßig in allen Ländern abgehalten, in denen das Opus Dei tätig ist. Die Regionalversammlungen, die 2024 in Vorbereitung auf den nächsten Generalkongress und die Hundertjahrfeier des Werkes stattfanden, haben in diesem Sinne keinen neuen Prozess eingeleitet, sondern ein offenes Gespräch fortgesetzt.
Im Licht des Charismas wird der aktuelle Zustand des Opus Dei alle zehn Jahre geprüft. Das heißt: Es werden Konzepte, Arbeitsweisen, Bildungsschwerpunkte sowie Instrumente der Evangelisierung, die aufgrund der sozialen und kulturellen Veränderungen möglicherweise nicht mehr zeitgemäß sind, überdacht, weiterentwickelt oder auch verworfen.
Das Besondere an den letzten Regionalversammlungen war die hohe Beteiligung auch dank der technischen Möglichkeiten sowie die Einbeziehung von Nicht-Mitgliedern. Besonders erfreulich war zudem, dass die Regionalversammlungen zeitgleich mit der Weltbischofssynode stattfanden. Das Synodensekretariat ermutigte uns auch, die Regionalversammlungen als besondere Momente des Zuhörens zu gestalten. Durch die Parallelität beider Prozesse konnten viele Mitglieder des Opus Dei auch an den Tätigkeiten in ihren jeweiligen Diözesen mitwirken.
Um im Kontext dieser Vorbereitungen auf die Hundertjahrfeier auch einige komplexere Themen anzusprechen: Gibt es das Eingeständnis, dass bei der Begleitung von Menschen in ihrer Berufungsfrage in der Vergangenheit auch Fehler gemacht worden sind?
Jede Verkündigung des Evangeliums und jeder Versuch, einen Weg des christlichen Lebens aufzuzeigen und vorzuschlagen, hat letztlich nur ein Ziel: die persönliche Begegnung mit Jesus Christus zu ermöglichen. Er ist es, der einlädt – „Komm, folge mir nach“ – und dann auch die Kraft schenkt, diesem Ruf zu folgen.
Bei der Weitergabe dieser Einladung können Fehler passieren – und sie sind auch passiert. Aus dem tiefen Wunsch heraus, zu teilen, was für uns selbst ein großes Glück darstellt, haben wir mitunter die Dinge überstürzt oder nicht ausreichend aufmerksam und respektvoll zugehört. Aus Berichten wissen wir, dass dies bedauerlicherweise in einigen Fällen geschehen ist. Diese Erkenntnis hat uns dazu bewegt, Fehler einzugestehen und Betroffene persönlich um Vergebung zu bitten. Es hat uns aber auch geholfen, in der Begleitung achtsamer und behutsamer zu sein.
Im Zuge der Vorbereitungen auf die Hundertjahrfeier – auch im Geist der Bereitschaft, aus vergangenen Fehlern zu lernen – hatten wir bereits Gelegenheit, Korrekturen vorzunehmen, wo dies möglich war. Die Zeugnisse von Menschen, die im Werk gelitten haben, haben uns sensibilisiert, Fehler anzuerkennen und um Vergebung zu bitten. Der Vater, Prälat Fernando Ocáriz hat dies in mehreren Interviews auch öffentlich getan.
Weiter zu Teil 2 des Interviews: „Jeder soll einbezogen werden“