Gehorsam

Gehorsam und Nachfolge Jesu gehören zusammen

Kaum eine Tugend ist heute in einer Weise diskreditiert wie diese. Warum eigentlich? Nichts kann erreicht werden ohne Gehorsam: Kein Land verteidigt, kein Staat gemacht, kein Unternehmen aufgebaut werden. Noch nicht einmal der Straßenverkehr könnte funktionieren, ohne dass die Leute den Verkehrsregeln gehorchten. 

In nahezu der gesamten Geschichte der Philosophie wurden Gehorsam und Treue als Tugenden, als etwas Positives verstanden. Dann wurden sie gründlich entwertet, und nach den furchtbaren Missbräuchen der jüngsten Geschichte – spätestens seit 1968 – geht eine regelrechte Gehorsams-Phobie um, eine panische Angst davor, gehorsam und treu zu sein. Manchmal kommt es mir so vor, als ob man überall nur illegitime Autorität und Inanspruchnahme wittert und von der Angst, etwas zu tun, was man vielleicht gar nicht tun will, regelrecht gelähmt wird. Das Hauptproblem scheint mir zu sein, dass sich Gehorsam immer auf etwas bezieht, auf eine Person oder auf eine Sache. Jedenfalls nicht auf sich selbst – wenn man einmal von den Prinzipien und Regeln absieht, die man sich selbst – hoffentlich – auferlegt hat. Auf etwas anderes bezogen zu sein als sich selbst, ist heute vielen ein unerträglicher Gedanke. Daher steht der Gehorsam in diametralem Gegensatz zum Individualismus und zur Selbstverwirklichung unserer Tage. 

Es ist kein Zufall, dass es auch bei Verschwörungstheorien rund um die katholische Kirche, einschließlich des Opus Dei, immer wieder auch um das Thema Gehorsam geht. Da ist dann gerne die Rede von „Kadaver-Gehorsam“, also davon, dass man vermeintlich ohne Nachdenken, gleichsam blind, irgendwelchen Befehlen folgt, die in obskuren Kammern getroffen werden und die man weder versteht noch hinterfragt. 

Beim Umgang mit Autorität und Loyalität geht der moderne Mensch allerdings sehr selektiv vor: In weiten Bereichen des Lebens kennt er diese Angst vor Unterordnung, die bis zur Selbstverleugnung geht, nicht. Bereitwillig fügt er sich jedem Trend in Sachen Gesundheit, Freizeit, Beruf, Meinung – eigentlich fast überall. Überall kann man beobachten, wie Freiheit ohne Fundament in Willkür umschlägt, wie aus falsch verstandener Autonomie und Unabhängigkeit Götzendienst und Sklaverei werden. 

Gehorsam, Treue und Liebe 

Gehorsam sein heißt treu sein. Dass auch dieser Gedanke missbraucht worden ist, wertet ihn selbst nicht ab. Treue ist das glaubwürdige Zeugnis wirklicher Liebe. Wenn Liebe Wahrheit wird, wird sie zur Treue. Ein kurzer Gedanke an unsere Familien macht sofort klar, was gemeint ist. Wir sind treu, weil wir unsere Familien lieben. Deren Wohl ordnen wir unsere persönlichen Interessen unter, weil unser ureigenstes Interesse eben ist, für die dazu sein, die wir so sehr lieben. 

Gehorsam? Gegenüber wem oder was? Das ist die entscheidende Frage. Wer hat Anspruch auf unseren Gehorsam? Und die Antwort auf diese Frage ist zunächst sehr einfach uns sehr klar: Gehorsam gegenüber dem Willen Gottes. 

Alles bisher Gesagte ist aber nur mehr oder weniger wichtig. Für uns Christen ist ein anderer Aspekt des Gehorsams viel entscheidender: Neben der barmherzigen Liebe ist der Gehorsam eine der herausragenden Eigenschaften Jesu, des vollkommenen Menschen. Er war dem Vater gehorsam, gehorsam bis zum Tod. Und das bedeutet für uns: Christusnachfolge und Gehorsam gehören unzertrennlich zusammen. 

Den Willen Gottes erkennen – aber wie? 

Kurz gesagt: durch Gebet, Gewissenserforschung und Bildung. Gebet und Gewissenserforschung sind für sich genommen eigene, sehr umfangreiche Themen. Mit Blick auf den Gehorsam will ich deshalb das Augenmerk auf die Bildung legen. Denn ohne eine substantielle Auseinandersetzung mit dem Wort Gottes – und von ihm her mit dem Lehramt der Kirche – fehlt eine solide Grundlage. 

Eine Vorstellung von Bildung, die sich auf die Lektüre von Büchern beschränkt, greift dabei zu kurz. Es geht darüber hinaus um eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Glauben. Durch Lesen, ja sicher. Aber auch durch Gespräche, durch offenen Austausch mit anderen. Im Rahmen der geistlichen Leitung, im Dialog mit einem Priester, in der Teilnahme an Seminaren und Besinnungstagen. Kurzum, gemeint ist das, was beim Opus Dei geistliche Bildungsmittel heißt. Gehorsam kann ich nur sein, wenn ich das Wem und das Was kenne und verstehe. Und damit ich nicht irgendwann den Heiligen Geist mit dem eigenen Vogel verwechsle, sollte ich eben auch auf das zurückgreifen, was andere vor mir erarbeitet und verstanden haben. Der Gehorsam ist eine permanente Herausforderung an unser Gewissen, Legitimität und Loyalität zu unterscheiden: Was bin ich wem an Gehorsam schuldig? 

Ich und die Anderen 

Es ist nicht nur unklug zu meinen, man müsse alles selber erarbeiten, größenwahnsinnig ist es auch. Ich bin mir sicher, dass jeder gläubige Christ schon mal darüber nachgedacht hat, dass Gott ihn braucht, um sein Werk in der Welt zu tun, um seine Liebe, um seinen Plan zu vollenden. Aber machen wir uns klar, dass Gott uns zugleich andere Menschen zur Seite gestellt hat, um uns zu formen, um sein Werk auch an uns zu tun? Menschen, die uns mit Rat und Tat zur Seite stehen – allen voran natürlich in der Kirche. 

Folgen wir diesem Gedanken, bekommt es ein anderes, ein neues Gewicht, wenn wir den Ratschlag eines wohlmeinenden und kompetenten Menschen ausschlagen. Sicher, zunächst kommt uns bei Gehorsam vor allem „Befehl“ in den Sinn. Aber Hand aufs Herz: Die im Zeitgeist einer vergangenen Epoche „Drohbotschaft statt Frohbotschaft“ predigten, sind weitgehend verschwunden. Nein, die Kirche und das Amt in ihr sind gerade nicht von dieser Art. Was uns angeboten wird, was in Wahrheit, Sorge und Liebe an uns herangetragen wird, sind Bitten und Ermutigungen, sind Hinweise und Warnungen – ohne den Zeigefinger zu erheben, ohne Rechenschaft zu fordern, ohne mit Strafen zu drohen. Suchen wir also den Rat und die Hilfe der Kirche und der Menschen, die uns diese geben können, und nehmen wir sie ernst als das, was sie letztlich sind: Liebeserweise Gottes! 

In diesem Sinne gehorsam zu sein, hilft uns auch dabei, mit der weit verbreiteten Schizophrenie aufzuhören, dass wir meist nur die anderen meinen, wenn wir von Kirche sprechen, nicht uns selbst: Die Kirche muss anders werden – ich nicht. Wir sind es aber eben selbst, die gefragt sind, jeder einzelne von uns. Wir sind selbst Kirche, wir müssen die Dinge tun, die getan werden müssen! 

Gehorsam, Formung, Vorbilder 

Ein wichtiger Aspekt des Themas Gehorsam ist die Formung unserer Persönlichkeit unter dem Gesichtspunkt der Erlösung. In diesem Sinne bedeutet Gehorsam nämlich Wachsen, weil er Vertrauen und Demut voraussetzt. Der Weg zum Gehorsam führt über die Demut, über die realistische Einsicht, dass mein kleines Leben in einem größeren Zusammenhang steht. Und dieses Große erfordert meinen Beitrag: Dass ich beitrage, was ich kann und soll. Dass ich mit den Talenten richtig umgehe, die mir gegeben sind.  

Es gibt größere Ziele im Leben als die Suche nach sich selbst. Eine Suche, die oftmals geradezu neurotische, zwanghafte Züge trägt und so mehr nach Sklaverei als nach Freiheit aussieht. Das Lebensziel des Christen ist Christus, weil er uns alles ist. Ihn wollen wir suchen und finden. Und deshalb soll unser Leben mitten in der Welt ein Zeugnis der Treue zu Gott und zu seinem Willen sein. Das geht nicht alleine, als Einzelne, sondern nur gemeinsam, weil wir Glieder seines mystischen Leibes sind. Sein Leben in diesen großen Zusammenhang zu stellen, bedeutet weder Selbstaufgabe noch Schwäche, sondern im Gegenteil: Die Treue zur Kirche macht uns stark. Gerade weil wir nicht alles selbst verstehen müssen und selbst leisten müssen, sondern schwach sein dürfen, tragen uns Gehorsam und Treue oft durch Krisen hindurch und lassen uns alle Hindernisse überwinden. 

Der Kirche treu und gehorsam zu sein, bedeutet auch, in ihrer Tradition verankert zu sein, getragen zu werden von vorbildlichen Menschen. Das sind die Heiligen, die uns vorangegangen sind, die unschätzbare Zeugnisse der Liebe abgelegt und Großes geleistet haben bei der Evangelisierung der Welt. Und es bedeutet, dass uns Menschen nachfolgen und das vollenden werden, was unsere Lebenszeit und unsere Kräfte und übersteigt. Wir sind eben auch treu, weil andere vor uns und für uns treu waren. Gemeinsam erreichen wir, wovon ein einzelner „Selbstverwirklicher“ nur träumen kann. 

Es liegt an uns, dem hysterischen non serviam dieser Zeit unsere Treue, unser serviam entgegenzusetzen: Ja Herr, ich liebe Dich. Ich will Dir dienen. Ich will tun, worum Du mich bittest. Ich will Dir gehorchen.

von Frank M. Holtinger