Ein unsichtbares Netz trägt uns

Zum Fest Allerheiligen eine Betrachtung von Josef Arquer

Es ist kaum ein paar Wochen her, dass wir Gott für die Früchte der Erde dankten. Am Fest Allerheiligen lädt uns die Liturgie wieder ein, „Erntedank“ zu feiern – diesmal für die Früchte des Himmels, die „verherrlichten Glieder der Kirche, unsere Brüder und Schwestern, die schon zur Vollendung gelangt sind“. Sie haben das Ziel ihres Weges erreicht: die „heilige Stadt, unsere Heimat, das himmlische Jerusalem“ (Präfation).

Die Kirche lebt. Sie ist ein Organismus mit dem lebenspendenden Christus als Haupt. Jeder Getaufte ist ein Glied an ihr, ist Kirche, aber niemals er allein und für sich allein. So lebt jeder durch die Kirche und trägt zugleich zu ihrem Leben bei.

„Die Sonne und der Mond, die Zeder und die Feldblume, der Adler und der Sperling – all die unzähligen Verschiedenheiten und Ungleichheiten besagen, dass kein Geschöpf sich selbst genügt, dass die Geschöpfe nur in Abhängigkeit voneinander existieren, um sich im Dienst aneinander gegenseitig zu ergänzen“ (KKK 340). Ehe, Familie, Erziehung und das dichte Geflecht der Beziehungen innerhalb eines Gemeinwesens zeugen schon innerhalb des Natürlichen von dem „Gesetz der Solidarität und Liebe“ (ebda.).

Auch auf der Ebene des Übernatürlichen ist es so. Ein unsichtbares Netz aus Beten und Leiden, aus Tun und Erdulden trägt uns: Jetzt, in diesem Augenblick betet jemand für mich – bete ich für jemanden – sendet mir das Leiden eines anderen Menschen Kraft zu. Der Schmerz eines Gliedes wird für den ganzen Leib fruchtbar, und der ganze Leib wirkt mit, dass die Wunde eines Gliedes heilt.

Der Blick des Herzens weitet sich und schließt all die Leidenden ins Gebet ein, auch die Unbekannten, die unsere tätige Hilfe nicht erreicht, deren Not wir aber betend mittragen: Kranke, Einsame, Verlassene, Gefangene, Zweifelnde, vom Leben Überforderte, Kirchenfremde, Glaubensfeinde, Christenverfolger ...

Es kann hilfreich sein, diese Weite des Betens selbst im persönlichen Gebet zu bedenken. Denn in diesem Beten „für“ andere steckt eine verborgene Beziehung. Hier wird spürbar und klärt sich, was das heißt: „Wir, die vielen, sind ein Leib in Christus, als einzelne aber sind wir Glieder, die zueinander gehören“ (Röm 12.5). Jeder, der an Christus glaubt, sich seiner Gnade öffnet und sie mit guten Werken fruchtbar werden lässt, macht sich den gemeinsamen Reichtum zu eigen und bereichert seinerseits die ganze Kirche. So schreibt Augustinus über die Szene der Apostelgeschichte (Apg 7,58), als der sterbende Stephanus für seine Henker betet und Saulus daneben steht: „Wenn Stephanus nicht zu Gott gebetet hätte, hätte die Kirche keinen Paulus.“ Augustinus verdankt seine eigene Bekehrung dem Gebet und den Tränen seiner Mutter Monika. So kann er auch erkennen, wie fruchtbar das Gebet des Stephanus war.

Wir beten füreinander, für die Anliegen des Papstes und der ganzen Kirche, für das apostolische Wirken in Missionsgebieten oder hier bei uns, für die Mächtigen und die Ohnmächtigen, für Schwestern und Brüder in jeglicher Not, für Menschen, die sich dem Glauben entfremdet haben, für alle, die Christus noch nicht kennen oder ihn gar hassen und Hass predigen.

Der Gedanke an den Austausch geistlicher Güter spornt an: Jemand braucht mein Gebet – ob er es weiß oder nicht. Jemand verlässt sich auf meine Treue. Jemand macht mich reich durch sein Opfer. Deshalb kann mich die betende Überlegung beflügeln: „Je mehr meine Treue wächst, desto mehr trage ich dazu bei, dass auch andere in der Treue wachsen. Wie wohltuend ist es zu spüren, dass wir uns gegenseitig stützen!“ (Josefmaria Escrivá, Spur des Sämanns 948)

Wenn wir einmal vor Gottes Gericht stehen und auf unser Leben zurückblicken, werden wir dankbar erkennen, wer uns in der Not gehalten, wer uns Gott näher gebracht hat. Und wir erfahren, wie unsere Gebete und Opfer für vertraute Menschen vielleicht doch wirksam geworden sind, obwohl wir sie im Leben für umsonst hielten.

Der Gedenktag Allerseelen dämmert herauf. Was wäre der Friedhofsbesuch unter fallenden Blättern ohne den Glauben an die Auferstehung? Allenfals ein edler und melancholischer Versuch, die „Gewesenen zu ehren, die nicht mehr sind“. Doch im Licht des Glaubens wird der Besuch am Grab zur Ehrung der Verstorbenen und zum Dank für alles, was sie uns zu ihren Lebzeiten gegeben haben. Das Todes-Sinnbild der fallenden Blätter greift im Licht des Glaubens zu kurz, denn es fallen ja auch die Samen, die – mehr als ein Bild – Keime des Lebens sind: „Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht“ (Joh 12,24).