„Jesus Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung, der Erstgeborene unter vielen Brüdern.“ (Röm 8,29).
Jesus Christus, unser Herr, ist wahrer Gott und wahrer Mensch. Diese grundlegende Wahrheit unseres Glaubens besagt, dass Gott in Jesus Christus nicht bloß dem Anschein nach, sondern in Wirklichkeit Mensch geworden ist, uns in allem gleich wurde außer der Sünde (vgl. Hebr 4, 15). Ist das nicht eigentlich ein Wahnsinn, dass Gott, der ewige, allmächtige und allwissende Gott, Mensch wird und damit – außer der Sünde – alle Konsequenzen auf sich nimmt, die das Menschsein mit sich bringt? Man staunt über die Tiefe dieser Glaubenserkenntnis. Denn wenn Gott Mensch geworden ist, dann hat Gott in den Niederungen des Menschlichen den Glanz seiner Gottheit erlebt. Das Menschliche wird mit einem Male zum Sprachrohr, zum Spiegel des Göttlichen.
Das ist so unvorstellbar groß, so unauslotbar tief, so völlig unerwartet, dass schon früh in der Kirche Stimmen laut wurden, die die einzigartige Vernetzung des Menschlichen mit dem Göttlichen in Jesus Christus für unmöglich hielten. Arianer, Nestorianer und alle Arten von Gnostikern vertraten die Auffassung, beide Dimensionen – das Göttliche und das Menschliche – seien säuberlich zu trennen, sie stünden in keiner Verbindung miteinander. Manche hielten den Körper Jesu sogar für einen Scheinleib. Diese Auffassungen wurden als häretisch entlarvt, und in den ersten Konzilien der Kirche ist die Verankerung beider Naturen Jesu, der menschlichen und der göttlichen, in der Einheit der Person als Glaubenswahrheit endgültig festgeschrieben worden.
Der einschlägige katholische Glaube bekennt also: Gott ist in Jesus Christus Mensch geworden und darum ist unser Herr, der Sohn Gottes, Gott und Mensch zugleich. Das bedeutet, dass das Menschliche in Jesus Christus göttlich ist, ohne dass es etwa aufhört, menschlich zu sein. Das ist zweifellos eines der größten Geheimnisse des Christentums. Unser Glaube steht und fällt mit der Einsicht, dass Gott die Menschheit tatsächlich angenommen hat. Zwar sind in Jesus Christus das Menschliche und das Göttliche selbstverständlich verschieden, doch beide werden von einer grundlegenden Einheit getragen, nämlich von der göttlichen Person Jesu Christi.
Das ist keine bloß theoretische Erkenntnis, die nur für Theologen wichtig ist. Diese Erkenntnis hat für die Gestaltung unseres alltäglichen Lebens eine ganz konkrete Bedeutung, wie wir gleich sehen werden. Auf jeden Fall können wir schon jetzt festhalten: Wenn in Jesus Christus das Menschliche und das Göttliche unvermengt bleiben, aber doch zusammen gehen, dann kann es in den einzelnen Menschen nicht anders sein. Denn Jesus ist ja, wie es bei Paulus heißt, „der Erstgeborene von vielen Brüdern“ (Röm 8, 29). Dies zu begreifen, ist für die Kirche und deswegen auch für uns, von großer Wichtigkeit.
Wer nicht erkennt, dass Menschliches und Göttliches, Natürliches und Übernatürliches, Weltliches und Religiöses, bei aller Wahrung und Würdigung der jeweiligen Eigenheit, miteinander zu tun haben, verkennt den Kern des Christentums. Die Nichtbeachtung der Beziehung zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen hat dem Christentum im Laufe der Geschichte schwer geschadet hat und es mitunter in die Nische des sozial Irrelevanten, bzw. des rein Liturgischen abgedrängt. Die Konsequenzen sind bekannt. Die markanteste ist die Entfremdung der Welt von Gott. So weit haben es diejenigen getrieben, die ein Zusammenleben des Göttlichen mit dem Menschlichen für Unsinn, für unhaltbar gehalten haben und halten. „Wir wollen nicht, dass dieser Mann unser König wird“ (Lk 19, 14), schrieen die Knechte des Königs in einem der Gleichnisse Jesu. Wir leben in einer solchen Welt, die Gott aus ihrer Mitte verbannen will.
Was sollen wir also tun? Wir müssen uns einen Ruck geben und eine Wende vollziehen, eine geradezu kopernikanische Wende. Es muss uns endlich einleuchten: Wenn Gott die Erlösung der Menschheit gerade durch die Hineinnahme des Menschlichen in das Göttliche gewirkt hat, so kann die Erlösung eines jeden Menschen, die Erlösung jeder einzelnen Tätigkeit, die Erlösung jeder Zeit der Geschichte nur zustande kommen durch die Überführung des Natürlichen in das Göttliche unter Wahrung der Eigengesetzlichkeit der jeweiligen Bereiche.
Diese Einsicht stellt Weichen für unser Leben. Unsere Welt wird erst dann gottgefällig und zugleich auch richtig menschlich, wenn die Menschen das Natürliche, was sie tun bzw. erleben in Verbindung mit Gott bringen – wiederum unter Wahrung der Eigenart der verschiedenen Bereiche. Und doch wissen die meisten Christen noch nicht, dass die „Zauberformel“ für die Erlösung unserer Welt und mithin für das umfassende Wohlergehen der Menschen darin besteht, dass man das Weltliche, das man eben tut, mit Gott in Verbindung bringt.
Wer es aber begriffen hat und entsprechend lebt, wird merken, dass in seinen menschlichen Angelegenheiten ein göttliches Echo widerhallt. Das Menschliche, das Natürliche, das Weltliche erhält dadurch seine Vollendung. Das meinte Paulus, als er einmal sagte: „In Jesus wohnt die ganze Fülle Gottes corporaliter“ – dem Leibe nach (Kol 2, 9). Man höre und staune: In der Körperlichkeit Jesu, d.h. auch in seinem Beruf als Zimmermann, in seinen familiären, gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen in Nazareth und anderswo, in all dem Irdischen, was er tat und was er tut, wohnt die Fülle der Gottheit. Das Körperliche, das Materielle, das rein Natürliche trägt das Göttliche. Anders ausgedrückt schimmert das Göttliche durch das Menschliche hindurch, kommt das Göttliche im Menschlichen zum Glänzen. Diese großartige Lehre kann die Herzen der Menschen erobern, denn die Menschen sind im Grunde sozusagen auf Wahrheit und Schönheit „vorprogrammiert“. Außerdem ist es zweifellos ein Höhepunkt der Menschenwürde, dass Gott im Menschlichen zu finden ist. Nur in der Sünde kann der Mensch Gott nicht finden.
Das alles bedeutet, dass der Mensch sowohl das Natürliche wie auch das Religiöse braucht, um sich harmonisch zu entfalten. Sonst wäre er einseitig – entweder ein Frömmler oder ein Heide – und könnte seine Vollendung sicher nicht erreichen. Es bedeutet aber auch, dass das Menschliche und das Übernatürliche im Menschen durch zahlreiche Verbindungselemente im Kontakt miteinander stehen, so dass der Mensch bei der Verrichtung von rein diesseitigen Angelegenheiten in Kontakt mit Gott treten kann. Das alles hört sich verlockend an und ist zudem ganz logisch und verständlich, weil es lediglich auf uns anwendet, was von der Beziehung gilt, in der das Göttliche zum Menschlichen in Jesus Christus steht. Jesus ist ja „der Erstgeborene unter vielen Brüdern“, wie Paulus schreibt (Röm 8, 29).
Unserer Welt würde es wirklich viel besser gehen, wenn die Menschen in ihren weltlichen Angelegenheiten tatsächlich Gott sähen. Welche segensreichen Folgen würde es haben, wenn immer mehr Christen bei der Verrichtung ihrer persönlichen, familiären, gesellschaftlichen und politischen Angelegenheiten im Kontakt mit Gott blieben. Dann wäre unsere Welt noch schöner, und ihre Gestalt entspräche besser dem Willen Gottes. Das ist kein frommer Wunschtraum, sondern die einzige Methode, wie Erlösung geschehen kann, und zwar in den einzelnen Personen wie auch in den Strukturen der Welt. Das ist eine Vision – die Vision Gottes für die Erlösung unserer geschichtlichen Zeit. Gott im Alltag bewusst erleben! Diese Methode hat Gott angewandt, um die Welt zu erlösen. Und wir haben keine bessere. Darum ist sie auch unsere Methode. Dafür brauchen wir Glauben und Einsatzbereitschaft. Dann werden wir einen neuen Frühling in der Kirche und in der Welt erleben. Wir müssen nur in die Fußstapfen Jesu treten, in dem das Menschliche und das Göttliche in der Einheit der göttlichen Person verbunden sind.
Die Gottesmutter hat nicht gezweifelt angesichts der Größe und Tragweite des Unternehmens, das ihr der Engel bei der Verkündigung anvertraute. Möge sie uns den nötigen Mut erwirken, damit auch wir nicht zweifeln, dass Gott unserer geschichtlichen Zeit eine neue Chance geben will, Erlösung zu erfahren. Möge Maria uns einsehen helfen, dass der Weg dahin eben der Weg der Verbindung des Natürlichen mit dem Übernatürlichen ist.