ALS DER junge Franziskus eines Tages im verfallenen Kirchlein San Damiano vor einer Kreuzikone betete, hörte er diese Worte: „Franziskus, siehst du nicht, wie baufällig meine Kirche geworden ist? Geh und baue sie wieder auf.“ Zunächst nahm der Sohn reicher Kaufleute die Botschaft wörtlich und begann, kleine, zerstörte Kapellen rund um Assisi auszubessern. Später erkannte er, dass Gott nicht nur Mauern meinte, sondern vor allem die Menschen – die Christen seiner Zeit. Diese Erneuerung sollte durch eine Abkehr von den materiellen Gütern geschehen. Ein anderes Mal hörte er die Worte Jesu: Steckt nicht Gold, Silber und Kupfermünzen in euren Gürtel! (Mt 10,9). Daraufhin beschloss er, all seinen Besitz aufzugeben und sein Leben ganz der Verkündigung des Evangeliums zu widmen.
Franz von Assisi hat die tiefe Verbindung zwischen der freiwilligen Armut und dem Weg zu Gott neu erkannt. Alle Christen sind berufen, diesen Weg zu gehen, jeder auf seine Weise, entsprechend seiner Berufung. „Wer die Tugend der Armut nicht liebt und nicht lebt, hat den Geist Christi nicht“, erinnert uns der heilige Josefmaria. „Das gilt für alle: für den Einsiedler, der sich in die Wüste zurückzieht, ebenso wie für den gewöhnlichen Christen, der mitten in der Gesellschaft lebt.“1 Mit anderen Worten: Unabhängig von den äußeren Umständen können alle die Tugend der Armut im echten Geist des Evangeliums leben.
Der heilige Josefmaria gab Christen, die in der Welt leben, konkrete Anregungen dazu: Sie sollen sich keine unnötigen Bedürfnisse schaffen, Dinge gut pflegen, auf etwas verzichten können, anderen das Bessere überlassen, Unannehmlichkeiten freudig annehmen und sich nicht beklagen, wenn etwas fehlt. Er betonte jedoch, dass es nicht darum gehe, einer Liste von Regeln zu folgen, sondern vielmehr darum, „auf die innere Stimme“ zu hören, „die uns warnt, wenn sich Egoismus und Bequemlichkeit ungebührlich breitmachen“.2 Möge der heilige Franz von Assisi uns erleuchten, den Weg der Armut als Weg zum wahren Glück in Christus zu erkennen.
SELIG, DIE ARM sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich (Mt 5,3) – so beginnt Jesus die Bergpredigt. Glück auf Erden wie im Himmel verspricht er denen, die ihre Sicherheit und ihren Reichtum in Gott suchen. Papst Benedikt XVI. erklärte: „Es ist Ausdruck von Weisheit und Tugend, sein Herz nicht an die Güter dieser Welt zu hängen, denn alles ist vergänglich und kann unerwartet enden. Der wahre Schatz, den wir unablässig suchen sollen, ist für uns Christen das, was oben ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt (Kol 3,1).“3
Die Armut des Geistes hilft uns, unser Verhältnis zu den von Gott geschaffenen Gütern weise zu gestalten. Sie lehrt uns, die Dinge wertzuschätzen, ohne an ihnen zu hängen. Sie öffnet uns die Augen für die Vergänglichkeit materieller Sicherheiten und die Leere mancher Freuden. Gerade so befähigt sie uns, die Wirklichkeit tiefer zu genießen, uns mit dem Einfachen, mit den Menschen und mit Gott zu verbinden.
Der heilige Franz von Assisi nannte die Armut seine „Herzensdame“. Er schrieb von ihr: „Sie verleiht den Seelen, die sie lieben, in diesem Leben schon die Leichtigkeit, in den Himmel zu fliegen, denn sie achtet auf die Waffen wahrer Demut und Liebe.“4 Auch wenn wir manchmal glauben, dass Wohlstand und Bequemlichkeit die Schlüssel zum Glück sind, lehrt uns die menschliche und christliche Erfahrung etwas anderes: Wahre Freude entsteht aus der Tiefe und Echtheit unserer Beziehungen. Das ist der Reichtum derer, die im Herzen arm sind.
DER HEILIGE PAULUS schreibt an die Galater: Nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe! (Gal 5,13). Und er erinnert sie an zwei Gebote: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! (Gal 5,14) und einer trage des anderen Last (Gal 6,2). Die Armut bringt uns auch dazu, Verantwortung zu übernehmen und uns für das Wohl der anderen, insbesondere der Schwächsten, einzusetzen. Papst Franziskus fordert uns auf: „Wir können nicht mit ruhigem Gewissen zuschauen, wenn ein Mitglied der menschlichen Familie an den Rand gedrängt und zum Schatten gemacht wird. Der leise Schrei der Armen muss das Volk Gottes immer und überall an vorderster Front finden, damit es ihnen eine Stimme verleiht, sie verteidigt und sich mit ihnen (...) solidarisch zeigt.“5
Wenn Jesus seine Jünger ermutigt, Freunde des ungerechten Mammons zu werden (vgl. Lk 16,9), so tut er dies, um sie aufrufen, die materiellen Güter in Beziehungen zu verwandeln, d. h. die von Gott geschenkten Gaben für das Wachstum und zum Wohl der anderen zu nutzen. Papst Franziskus fügt hinzu: „Wenn wir es fertigbringen, Reichtümer in Werkzeuge der Brüderlichkeit und Solidarität zu verwandeln, wird uns im Paradies nicht nur Gott empfangen, sondern auch diejenigen, mit denen wir geteilt haben, indem wir das, was der Herr uns anvertraut hat, gut verwaltet haben.“6
Der heilige Josefmaria kannte dafür viele Beispiele, unter anderem eine ältere Dame, „die für ihren täglichen Bedarf kaum zwei Peseten benötigte, ihre Angestellten aber großzügig entlohnte und mit dem Übrigen den Bedürftigen half. Sie besaß viel, was andere begehrten, lebte jedoch persönlich in Armut, selbstvergessen und losgelöst von ihrem Besitz.“7 Wir bitten Maria, uns auf dem Weg einer solchen Armut zu begleiten, damit wir das wahre Glück finden, sowohl für uns als auch für andere.
1 Hl. Josefmaria, Gespräche, Nr. 110.
2 Ebd., Nr. 111.
3 Benedikt XVI., Angelus-Gebet, 5.8.2007.
4 Hl. Franz von Assisi, Die Blüthen des Heiligen Franziskus, 13.
5 Franziskus, Botschaft, 13.6.2020.
6 Franziskus, Angelus-Gebet, 22.9.2019.
7 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 123.

