"Und vergib uns unsere Schuld ..." Der Weg zu meiner Taufe

Vic Tam aus Hongkong erzählt die Bekehrungs­geschichte ihres Vaters, eine Frucht der Gnade Gottes und gegenseitiger Vergebung in ihrer Familie.

Die Schriften des Hl. Josefmaria haben mir sehr geholfen nachdem ich in Hongkong in meiner Jugend begonnen hatte, sie zu lesen. Besonders dieser Punkt aus „Die Spur des Sämanns“ aus dem Kapitel „Herz“: Vergeben! Aus ganzem Herzen vergeben und ohne das Geringste nachzutragen! Das ist eine großartige Haltung, die immer Frucht bringt…“ Sie brachte Frucht und meine Geschichte ist ein Beweis dafür.

Als ich vier Jahre alt war und mein Bruder Nicholas zweieinhalb, ließen sich meine Eltern scheiden. Es gab jedoch eine Absprache, dass Papa jeden Dienstag und Donnerstag zum Abendessen nach Hause kam und den ganzen Sonntag bei uns war, wie in einer normalen Familie. So wuchs ich letztlich doch in einer stabilen und glücklichen Umgebung auf, damals kann ich den katholischen Glauben noch nicht.

Als ich noch klein war, verstand ich nie, warum mein Papa nicht bei uns lebte und fragte auch nicht nach, was passiert war.

Als ich noch klein war, verstand ich nie, warum mein Papa nicht bei uns lebte und fragte auch nicht nach, was passiert war. Wir stammen aus Hongkong, und in unserer chinesischen Kultur hinterfragt man Autorität nicht.

Als ich etwas älter wurde, hänselte ich meine Mutter damit, dass mein Vater nicht bei uns war, aber sie sprach nie schlecht über ihn. Daher bastelte ich mir eine eigene Theorie, nach der Papa woanders arbeite und es einfacher für ihn sei, in der Nähe seiner Arbeit zu wohnen. Eines Tages – ich war zwölf oder dreizehn – ärgerte ich meine Mutter wieder. Da erzählte sie mir und meinem Bruder, dass sie von meinem Vater geschieden war und dass er eine andere Frau hatte. Ich akzeptierte das ohne viel Aufheben. Aus vielen Fernsehfilmen wusste ich, dass so etwas vorkommen kann.

Der Weg zu meiner Taufe

Kurz vor Ende meiner Kindergartenzeit hatte ein Lehrer meine Mutter in seine christliche Gemeinde eingeladen. Meine Mutter lehnte dankend ab, da sie eine alleinerziehende Mutter mit kleinen Kindern war und eine schwere Arbeit hatte. Vielleicht würde sie, wenn die Kinder älter wären, daran denken. Mein Lehrer antwortete ihr, dass es im Leben immer Ausreden gäbe, die uns daran hinderten, zu Gott zu kommen.

Schlussendlich beschloss meine Mutter am Katechismusunterricht in der katholischen Kirche teilzunehmen. Meine Großmutter war Katholikin, doch meine Mutter war nicht getauft. Während ihres Katechismusunterrichts waren mein Bruder und ich in der Sonntagsschule. Wir gingen am Sonntag in die Hl. Messe. Nachher holte unser Vater uns ab, wir aßen gemeinsam und am Nachmittag spielten wir Basketball oder Fußball. Nach einem Jahr wurden meine Mutter, Nicholas und ich zu Ostern 1993 getauft.

Die schwere Krankheit meines Vaters

Nach meinem Studium in Oxford zog ich nach London und begann eine Ausbildung zum Wirtschaftsprüfer. Im Mai 2014 erhielt ich ein WhatsApp von einem unserer regelmäßigen Familientreffen. Ich bemerkte, dass mein Vater beträchtlich gealtert war, Gewicht verloren hatte und auch zu Hause eine Kopfbedeckung trug. Ich rief ihn sofort an und fragte, ob es ihm gut gehe.

Mein Vater hatte einen Hirntumor. Er sagte zu mir: Bete für mich!

Er antwortete, dass er nur versuche, fit zu bleiben. Er hatte seinen Humor behalten und daher hoffte ich, dass alles in Ordnung sei. Ein paar Monate danach, im August, als meine vorgesehenen Prüfungen beendet waren, rief eines Tages meine Mutter an und fragte mich, ob ich zurück nach Hongkong kommen könnte. Ende August wollte mein Cousin heiraten. Ich lehnte ab, da ich meine Urlaubstage bereits verbraucht hatte und extrem viel Arbeit hätte. Da sagte sie mir, dass Vater einen Hirntumor habe. Sie hatte das selbst erst im Juli erfahren, als mein Vater seinen schlechten Zustand nicht mehr verbergen konnte. Sofort rief ich meinen Vater an. Zuerst war er gar nicht glücklich darüber, dass ich es wusste, aber am Ende des Gespräches sagte er: „Bete für mich.“ Ich war fassungslos, aber sehr froh, da er momentan offen für Gott war. Ich sagte: „Natürlich werde ich für dich beten.“

Meine Mutter hatte nie schlecht über meinen Vater gesprochen

Inzwischen hatte mein Vater wieder geheiratet, sich wieder scheiden lassen und ein drittes Mal geheiratet. Auch diese Ehe endete schlussendlich mit Scheidung. Die ganze Zeit hatte meine Mutter nie schlecht über meinen Vater gesprochen, und ich sah nie einen anderen Mann in unserem Haus als meinen Vater. Im September 2014 flog ich für zweieinhalb Wochen zurück nach Hongkong um bei meinem Vater zu sein.

Er wollte wegen der starken Nebenwirkungen keine Chemotherapie mehr, sondern nur mehr Behandlungen mit chinesischer Medizin. Die entsprechende Klinik war jedoch sehr weit entfernt. Zugfahrten und Taxis kamen nicht in Frage, und er wollte keinen von uns darum bitten, ihn dorthin zu fahren. So blieb nur der Bus als Transportmittel. Er bat mich, ihn auf diesen Fahrten zu begleiten. Jede Fahrt dauerte zweieinhalb Stunden, und wir mussten zweimal umsteigen. Das waren schöne Stunden mit ihm alleine. Wir konnten lange plaudern, Nachrichten schauen, über Arbeit, Politik oder Kochen reden. Bei jeder Busfahrt flocht ich etwas über Gott oder Spiritualität ein.

„Hast du mir jemals die Schuld gegeben?“ Tränen rollten über seine Wangen. Ich antwortete: „Nein, ich habe dir nie die Schuld gegeben. Im Gegenteil, ich muss dir danken, dass du immer für mich da warst.“

Eines Tages wollte er mit mir Tee trinken und etwas besprechen. Ich wusste nicht, worum es ging. Wir saßen in einem netten Kaffeehaus in der Nähe des Victoria Harbour. Ich fragte ihn, was ihn bewege. Er wurde ganz ernst und fragte mich: Jetzt, als Erwachsene, konnte ich ermessen, wie schwer es für ihn gewesen sein musste, regelmäßig mit jemandem zusammen zu sein, der ihm nichts mehr bedeutete und so zu tun, als ob nichts geschehen wäre. Ich sagte ihm, dass ich glücklich aufgewachsen war und dass auch meine Mutter keinen Groll gegen ihn hege.

Niemand auf Erden darf verurteilen

Bevor ich Hongkong verließ, sagte ich ihm bei einem Kaffee, anknüpfend auf unser letztes Gespräch und seine Frage, ob ich ihm jemals die Schuld gegeben hätte, dass ich niemanden verurteilen kann, und dass niemand auf Erden den anderen verurteilen darf. Nur Gott urteilt, und darum müssen wir Gott um Vergebung bitten. Später suchte ich eine in der Nähe gelegene Kirche, damit er auch ohne mich hingehen könnte.

Ich habe niemals jemanden das Vater Unser so gut beten gesehen wie meinen Vater.

An meinem letzten Tag in Hongkong bat mein Vater darum gemeinsam in die Kirche zu gehen. Ich schlug vor, das wir gemeinsam einen Besuch vor dem Allerheiligsten Sakrament machten und dreimal ein Vater Unser, ein Gegrüßet seiest Du, Maria und ein Ehre sei dem Vater beteten. Ich betete vor, und er antwortete mit dem zweiten Teil der Gebete. Ich begann mit dem Vater Unser. Als ich zu „und vergib uns unsere Schuld“ kam, wurden wir beide ergriffen und begannen zu weinen. Ich habe niemals jemanden das Vater Unser so gut beten gesehen. Bis heute kann ich es nicht so gut und aufrichtig beten, wie er es damals tat. Damals stand mir die Reue meines Vaters greifbar vor Augen.

Im November desselben Jahres verschlechterte sich der Zustand meines Vaters rapide, vor allem nach den Operationen, als er zu Hause stürzte. Mein Bruder kümmerte sich viel um ihn, da er stark genug war um ihn zu stützen und ihm im Haushalt zu helfen. Ich konnte auch nach Hongkong zurück fliegen und blieb bei meinem Vater im Spital. Er konnte fast nicht mehr sprechen, wohl aber sein Leiden und seine Frustration ausdrücken.

Die Taufe meines Vaters

Eines Morgens kam ich außerhalb der Besuchszeit ins Spital. Wann immer ich aus England angereist war, wollte ich so viel Zeit wie möglich bei meinem Vater verbringen. Als ich im Spital ankam, waren mehrere Ärzte mit ihm beschäftigt. Sie sagten mir, dass ich meinen Bruder anrufen solle, und auch andere Verwandte verständigen. Papa hatte eine Lungenentzündung. Das bedeutete, dass er nicht mehr lange leben würde. Er bekam eine Sauerstoffmaske, die Ärzte verließen das Zimmer.

Am Krankenbett erzählte ich meinem Vater von der Taufe und dass es im Spital Seelsorger gäbe. Wenn er wolle, könnte ich einen Priester rufen, und er könnte das Sakrament der Taufe empfangen. Er nickte. Ich rief den Seelsorger an, doch man riet mir, besser einen Priester zu rufen, der meine Familie gut kennt. Ich fragte meinen Vater wieder, ob ich einen mir bekannten Priester für die Taufe rufen sollte. Er nickte wieder.

In der Zwischenzeit waren viele meiner Verwandten und Papas Kollegen eingetroffen. Um halb sieben war der Priester, den ich angerufen hatte, immer noch nicht da. Die Zeit drängte. Eine Freundin schlug vor, dass ich unter diesen Umständen meinen Vater selbst taufen könnte. Sie sagte: Sprich die Taufformel, wähle einen Namen und gieße Wasser in Kreuzesform über ihn. Da entschloss ich mich, ihn selbst zu taufen und zwar auf den Namen Paul, weil das seinem chinesischen Namen ähnlich war. „Papa, ich werde dich jetzt taufen, aber auf Englisch, da ich es auf Chinesisch nicht kann. Dein Taufname wird Paul sein. Paul, ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.“

Mein Vater war bei Bewusstsein, konnte aber nicht sprechen. Seine erstaunten Augen schienen zu fragen: Was macht meine Tochter da? Ich dachte ein Priester würde kommen!

Gegen 19.00 Uhr kam der Pfarrer. Er entschuldigte sich, dass er wegen Verkehr und Parkplatzsuche nicht früher hier sein konnte. Da mein Vater bereits getauft war, musste er keine Krankensalbung mehr spenden. Er segnete meinen Vater, zeichnete ihm ein Kreuzzeichen auf Stirn und Hände und sprach ein Gebet.

Vic Tam