Betrachtungstext: 6. Osterwoche – Dienstag

Jesus kündigt seine Rückkehr zum Vater an – Die Gabe der Einsicht – Die Wirklichkeit von Gott her verstehen und annehmen

IN DEN TAGEN der sechsten Osterwoche verkündet die Kirche weiterhin Passagen aus der Abschiedsrede Jesu, die das Johannesevangelium enthält. Heute hören wir den Herrn beim Letzten Abendmahl klar und deutlich seine baldige Rückkehr in den Himmel ankündigen: Jetzt aber gehe ich zu dem, der mich gesandt hat (...). Ich gehe zum Vater und ihr seht mich nicht mehr (Joh 16,5.10). Wir können uns vorstellen, wie verwirrt die Apostel nach dieser Eröffnung waren. Höchstwahrscheinlich erfasste sie Traurigkeit, als sie das hörten. Wie war es möglich, dass diese wunderbaren Jahre des Zusammenlebens ein für alle Mal zu Ende gingen? Die Apostel „fürchteten das zu verlieren, was sie äußerlich an Christus sahen“, erklärt der heilige Augustinus in einem Kommentar zu der Stelle, „und weil sie nicht zweifeln konnten, dass sie den, der Wahres verkündete, verlieren würden, betrübte sich ihr menschliches Gemüt, da der fleischliche Anblick ihnen entzogen wurde.“1

Da sagten sie zueinander: Was meint er, (…)? Was heißt das, (…)? Wir wissen nicht, wovon er redet (Joh 16,17-18). Sie konnten Jesus damals nicht verstehen, es fehlte ihnen der Schlüssel zu seinen Worten. Doch obwohl sie den genauen Sinn seiner Worte nicht erfassten, wagte keiner von ihnen die Frage zu stellen: Wohin gehst du? (Joh 16,5). Vermutlich waren sie bestürzt vom Verlauf, den das Mahl genommen hatte. Drei Jahre zuvor, am Jordan, zu Beginn ihres Abenteuers mit Christus, hatten Johannes und Andreas eine Frage gestellt, die in diesem Moment erneut aktuell gewesen wäre: Meister, wo wohnst du (Joh 1,38-39). Beim Letzten Abendmahl schwiegen sie jedoch wegen des geheimnisvollen Charakters des Gesprächs.

„Nach der Auferstehung wurden diese Worte für die Jünger verständlicher und durchschaubarer als Ankündigung seiner Himmelfahrt“, erläutert der heilige Johannes Paul II. den Passus in seiner Katechese. „Nur Jesus, niemand anders, besitzt die göttliche Kraft und das Recht, in den Himmel hinaufzusteigen. Die sich selbst und ihren natürlichen Kräften überlassene Menschheit hat keinen Zugang zum Haus des Vaters (Joh 14,2), zur Teilhabe am Leben und an der Glückseligkeit Gottes. Nur Christus kann dem Menschen diesen Zugang erschließen: er, der Sohn, der gerade deshalb vom Himmel herabgestiegen und vom Vater ausgegangen ist.“2 Jesus geht, um uns – seinen Aposteln und uns – den Trost seines Geistes zu senden und uns das Haus seines Vaters aufzuschließen.


ES IST KLAR, dass Jesus nicht vorhatte, seine Jünger allein zu lassen; der Heilige Geist setzt die Sendung des Sohnes fort, erfüllt das Leben der Jünger mit Kraft und beschenkt sie mit Gaben, die ihnen helfen werden, die Dinge Gottes zu verstehen. Der Herr knüpft das Kommen des Heiligen Geistes an seinen Weggang zum Vater, ja „er unterstreicht sogar“, sagt Johannes Paul II, „dass es ,um den Preis‘ seines Fortgangs geschieht“3. Was die dort versammelten Apostel traurig stimmte, war tatsächlich der Heilsplan, den Gott entworfen hatte. Die Lücke, die der Herr hinterließ, würde jedoch nicht leer bleiben, sondern durch den Heiligen Geist gefüllt werden. Deshalb sagt Jesus zu ihnen: Wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen; gehe ich aber, so werde ich ihn zu euch senden (Joh 16,7). Wenn der Geist sie zu Pfingsten dann mit seinen Gaben überschütten wird, wird ihnen alles klarer werden.

Die Gabe der Einsicht befähigt uns gerade dazu, in die geoffenbarten Geheimnisse einzudringen, die die Apostel damals nicht verstehen konnten. Sie wird auch die Gabe des Verstandes genannt, lateinisch intellectus, dessen Etymologie, intus-legere, im Inneren lesen, darauf hinweist, dass es sich um eine Gnade handelt, die das Innerste der Wirklichkeit erkennen hilft. Die Gabe der Einsicht gibt uns ein Gespür für die Dinge Gottes, eine tiefe Kenntnis der Glaubenswahrheiten und sogar bestimmter natürlicher Wahrheiten in Hinblick auf ihr übernatürliches Ziel. Wo das menschliche Auge und die Vernunft nicht mehr weiterkommen, schenkt uns die Einsicht neue Einblicke, wie ein Nachtsichtgerät, das bei tiefster Dunkelheit mit überraschender Klarheit Dinge zum Vorschein bringt. Auch wenn wir das Geheimnis Gottes niemals vollkommen begreifen noch in seiner Gesamtheit erfassen werden, so können wir uns ihm mit dieser Gabe des Heiligen Geistes doch schrittweise nähern.

Die Gabe der Einsicht „erweckt im Christen die Fähigkeit“, sagte Papst Franziskus, „über das Äußere der Wirklichkeit hinauszugehen und die Tiefen der Gedanken Gottes und seines Heilsplans zu ergründen“4. Auch wenn wir oft versucht sind, die Ereignisse rein mit menschlichen Augen zu beurteilen, und es uns nicht gelingt, unseren Blick mit dem Blick Gottes in Deckung zu bringen, ermöglicht uns diese göttliche Gabe, „die Dinge so zu verstehen, wie Gott sie versteht, mit der Erkenntnis Gottes“5. Der heilige Josefmaria verglich sie mit der Fähigkeit, nicht bloß zweidimensional zu sehen, auf flache, erdgebundene Art und Weise: „Wenn du ein übernatürliches Leben führst, wirst du von Gott die dritte Dimension bekommen: die Tiefe, und damit das Relief, das Gewicht und die Fülle.6


IN DER ERSTEN Lesung des heutigen Tages wird ausführlich über die Gefangenschaft von Paulus und Silas in Philippi berichtet. Sie ließen ihnen viele Schläge geben und sie ins Gefängnis werfen; (...). Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und sangen Loblieder. (...). Plötzlich begann ein gewaltiges Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Mit einem Schlag sprangen die Türen auf und allen fielen die Fesseln ab. Als der Gefängniswärter aufwachte und die Türen des Gefängnisses offen sah, zog er sein Schwert, um sich zu töten; denn er meinte, die Gefangenen seien entflohen. Da rief Paulus laut: Tu dir nichts an! Wir sind alle noch da. Jener rief nach Licht, stürzte hinein und fiel Paulus und Silas zitternd zu Füßen. Er führte sie hinaus und sagte: Ihr Herren, was muss ich tun, um gerettet zu werden? Sie antworteten: Glaube an Jesus, den Herrn, und du wirst gerettet werden, du und dein Haus. Und sie verkündeten ihm und allen in seinem Haus das Wort des Herrn (Apg 16,23-32). Die Bekehrung dieser Familie aus Philippi erfolgte geradezu blitzartig. In wenigen Stunden verstanden sie genug, um sich unverzüglich taufen lassen zu wollen. Dann führte er sie in sein Haus hinauf, ließ ihnen den Tisch decken und war mit seinem ganzen Haus voll Freude, weil er zum Glauben an Gott gekommen war (Apg 16,34).

Die Gabe der Einsicht vervollkommnet unseren Glauben, sie öffnet unseren Geist, um das Wort Gottes zu verstehen, was Jesus gesagt und getan hat. Es entsteht eine Sicherheit, die sich nicht bloß auf Gründe stützt, sondern auch auf die innere Erfahrung, die Gott uns mitteilt. Außerdem wird diese Sicherheit immer klarer, wenn wir zulassen, dass sie unser Herz und unser Gefühl durchdringt. So werden wir sowohl die Dinge Gottes als auch die Dinge der Welt, alles, was geschieht, auf eine tiefere und hoffnungsvollere Weise „von Gott her“ verstehen und annehmen.

Der heilige Josefmaria gab einem Priester, der davorstand, Besinnungstage zu halten, folgenden Rat: „Leg ihnen die Liebe zum Heiligen Geist und somit die Liebe zum Vater und zum Sohn ins Herz. Denn der Sohn ist vom Vater gezeugt von Ewigkeit her; und aus der Liebe des Vaters und des Sohnes geht, ebenfalls von Ewigkeit her, der Heilige Geist hervor. Wir verstehen es nicht ganz, aber ich finde es nicht schwer zu glauben.“7 Diese Worte fassen zusammen, was in der Seele vorgeht, die diese Gabe des göttlichen Beistands empfängt. Zum einen weiß sie, dass sie nicht in der Lage ist, das Geheimnis zu verstehen, und zugleich ist sie sich seiner Hilfe und seines Lichts sicher.

Bitten wir Maria, uns zu gewähren, dass wir unser tägliches Leben eingetaucht in das Geheimnis Gottes leben und so der anschauliche Empfehlung des Gründers des Opus Dei folgen: „mit den Füßen auf der Erde und mit dem Kopf im Himmel“.


1 Hl. Augustinus, Kommentar zum Johannesevangelium, 94, 4.

2 Hl. Johannes Paul II., Audienz, 5.4.1989.

3 Hl. Johannes Paul II., Audienz, 31.5.1989.

4 Franziskus, Audienz, 30.4.2014.

5 Ebd.

6 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 279.

7 Hl. Josefmaria, Mitschrift von einem Familientreffen, 21.2.971.