Johannes war noch ein junger Bursche, als er mit Jesus durch die Dörfer in Galiläa und Judäa zog. Ganz gleich, wo er sich bei diesen langen Wanderungen aufhielt – einmal führte er die Karawane voll jugendlichen Eifers an; dann wieder ging er, altersgemäß, erschlafft hinterher –, stets hatte er den Meister im Blick, beobachtete aufmerksam seine Gesten und lauschte auf seine Worte. Wo Jesus und die Elf waren, da war sein Zuhause.
Die Jahre verstrichen, und die Apostel waren in alle Himmelsrichtungen verstreut. Doch in seinem Herzen blieb Johannes stets mit Jesus verbunden – und über ihn mit seinen früheren Weggefährten. Zudem hatte sich sein Herz geweitet, da Juden und Heiden, Reiche und Arme, Diener und Herren Teil dieses Zuhauses geworden waren. Im Bewusstsein des Privilegs, dicht an der Seite des Herrn gelebt zu haben, begann er zu schreiben: Was von Anfang an war, was wir gehört, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben vom Wort des Lebens (...), das verkünden wir euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt (1 Joh 1,1-3). väterliche Gefühle gegenüber den Jüngern Christi und nannte die Adressaten seiner Worte meine Kinder – sogar kleine Kinder (1 Joh 2,1.18). Sein Herz war so weit geworden, dass er sich als „Vater“ in der Familie der Jünger Jesu fühlte.
Kraft, die die Familie trägt
Die Heiligen waren bestrebt, die Nähe Gottes in jedem Moment der Geschichte spürbar zu machen. Sie machten aus ihrer Umgebung einen Ort, an dem man Christus begegnen konnte, und aus ihren Beziehungen einen Raum, in dem man erleben konnte, was es heißt, mit dem Herrn wie in einem Zuhause zusammenzuleben. So wurden Jesu Worte schon hier auf Erden zu einer Realität: Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen (Joh 14,2). In den Menschen, die dem Ruf zur Heiligkeit folgten, wiederholte sich, was der heilige Johannes erlebt hatte: Wir haben die Liebe Gottes zu uns erkannt und daran geglaubt. Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott bleibt in ihm (1 Joh 4,16).
Als der heilige Josefmaria den Ruf vernahm, die Botschaft einer Heiligkeit im gewöhnlichen Leben zu verbreiten, verstand er zugleich, dass diese Sendung aus dem innersten Kern der Welt heraus erfolgen sollte, mittels der alltäglichen Arbeit und ausgehend von einer Familie. Früh schon erklärte er, dass „das ganze Opus Dei ein Zuhause ist“[1]. Für ihn bedeutete dies, Gottes Nähe durch sein Leben „als Vater und Mutter“[2] gegenwärtig zu machen. Zugleich vertraute er darauf, dass es – ebenfalls auf göttliche Einladung hin – Menschen geben würde, die für dieses Zuhause sorgen wollten. Aus dieser Überzeugung heraus richtete er folgende Bitte an den Herrn: „Mein Gott, wie sollen wir dein Werk rasch verwirklichen, wenn du uns nicht viele gute Berufungen schickst?“[3]
Diejenigen, um die der heilige Josefmaria betete, waren dazu berufen, die Keimzelle zu sein, aus der dieses Zuhause entstehen würde. Sie sollten Teil einer Familie sein, die vereint war, weil sie sich als Kinder und Geschwister verstanden, in der aber auch andere Menschen den Geist des Werks finden konnten. Für die Wirkweise des Opus Dei und die Rolle der verschiedenen Mitglieder fand der Gründer ein Vorbild in der frühen Christengemeinde. Er wies darauf hin, „dass das Evangelium die Leute, die den Herrn umgaben, in konzentrischen, immer größer werdenden Kreisen darstellt“. Denn: „Einerseits ist da die riesige Volksmenge; näher bei Jesus findet sich die große Schar der Jünger, turba discipulorum eius (Lk 6,17); und noch näher, dicht bei ihm, die kleine Gruppe der Zwölf.“[4] Analog zu den „konzentrischen Kreisen“, die sich um Jesus herum ausbreiteten, würde das Werk seine Entfaltung erreichen: „Um dieses feine Gewebe [...] unserer apostolischen Arbeit auszudehnen, das alle Seelen ohne Unterschied erreichen möchte – denn alle Seelen interessieren uns –, werden die Mitarbeiter, die nicht eigentlich dem Werk angehören und nicht die göttliche Berufung haben, von den Supernumerariern unterstützt und getragen; und diese von den Assoziierten und den Numerariern.“[5]
Alle Gläubigen des Werks streben danach, das Evangelium dort zu verbreiten, wo sie sind, durch ihr Leben, ihre Arbeit, ihre Freundschaft. Alle sind berufen, mit vollkommener Hingabe heilig zu sein, denn in der Einswerdung mit Christus liegt die Fülle des Glücks. Zugleich sind es die Numerarier und Numerarierinnen, die sich bestimmten unverzichtbaren Aufgaben widmen. Dazu zählen die familiäre Atmosphäre in den Zentren, die christliche Bildung oder die Organisation des Apostolats. Sie bilden den kleinen Kern, der dazu berufen ist, „das Fundament – die Kraft – zu sein, die unsere ganze Familie trägt“[6].
Den Staffelstab weitergeben
In den Anfangsjahren des Opus Dei lernte der heilige Josefmaria einige junge Leute kennen, die zum Teil noch studierten, zum Teil bereits berufstätig waren. Angesichts des neuen Horizonts einer Heiligkeit inmitten der Welt nahmen sie die Gabe des Zölibats an: Sie erkannten, dass Gott sie einlud, ihre Herzen auch in diesem besonderen Aspekt dem Herzen Christi nachzubilden. Die ersten Numerarier übten ihr Apostolat innerhalb ihrer beruflichen Tätigkeiten aus. Zugleich wussten sie sich dazu berufen, jenes andere Charakteristikum des Werks zu wahren: eine Familie zu bilden, die auf übernatürlichen Banden beruht. Sie sahen sich daher nicht nur als Söhne und Töchter, sondern auch als Erben der Sorge des Vaters, sich des Werks väterlich und mütterlich zugleich anzunehmen. Sie konnten die geistige Dimension dieser Vaterschaft und Mutterschaft voll entfalten.
Einige wenige Zitate gewähren uns Einblick in das Fühlen und Denken der ersten Numerarier. So schrieb Isidoro Zorzano weniger als zwei Jahre nach Beginn des Werks an den Gründer: „Jeden Tag erscheint es mir wunderbarer; es ist mein einziges Bestreben, an diesem Ideal mitzuwirken.“[7] Auf ähnliche Weise hegte Álvaro del Portillo im Bürgerkrieg den intensiven Wunsch, die Frontlinien zu überqueren, „nicht aus patriotischen Gründen“, wie er sagte, obwohl es ihm nicht an Patriotismus fehlte, sondern „um an den Dingen mitzuarbeiten, die der Vater uns übertragen wollte“[8] – und dieser befand sich damals fast ganz allein, ohne jegliche Stütze, in der anderen Zone. Einige Jahre später, im Oktober 1937, hielten es Francisco Botella und Juan Jiménez Vargas in Valencia „für angebracht, ihre Studien schnell zu beenden, um angesichts der künftigen Ausbreitung des Opus Dei verfügbarer zu sein“[9]. Und die 2019 seliggesprochene Guadalupe Ortiz de Landázuri gestand dem heiligen Josefmaria in einem Brief aus Mexiko: „Ich möchte ihm [Gott] so gerne dienen! – Materiell, indem ich so viel arbeite, wie es mein Körper zulässt [...]; und geistlich, indem ich mich ganz hingebe und meinen Schwestern und allen Menschen helfe.“[10] In all diesen Worten ist über den Wunsch, das Werk an verschiedene Orte zu bringen, hinaus die persönliche Überzeugung zu erkennen, für Gott und diese Familie zu leben.
Als der Gründer des Opus Dei die Schar von Söhnen und Töchtern sah, auf die er bauen konnte, erkannte er, dass das Werk weiterhin das sein würde, worum ihn Gott gebeten hatte: Es würde immer Familie sein. So konnte er einige Zeit später schreiben: „Ich fühle mich nicht allein, wenn ihr mit mir wacht – cor meum vigilat (Hebr 5,8) – und ich euch besorgt darum sehe, andere zu bilden, die der Arbeit Kontinuität verleihen werden.“[11] Seit jenen ersten Jahren des Werks bis heute reichen sich die Numerarier und Numerarierinnen den Staffelstab weiter, um dieses Zuhause von Aposteln zu schaffen und jenen Familienkern zu wahren, der es den anderen ermöglicht, entzündet zu sein im Wunsch nach Heiligkeit und christlicher Umgestaltung der Welt.
Das Leben Christi in Fülle schenken
Der Prälat des Opus Dei fasste die Sendung der Numerarier einmal zusammen, indem er sagte, dass ihr besonderer Dienst darin besteht, ihren Geschwistern „Leben zu schenken“[12]. Die Gabe des apostolischen Zölibats führt sie dazu, so nahe am Herzen Christi zu leben, wie es der Apostel Johannes tat. Auf diese Weise arbeiten sie unmittelbar mit dem Herrn zusammen, um allen anderen Gläubigen des Werks und ihren Mitmenschen dieses göttliche Leben weiterzugeben. Nur so kann der Geist nach Gottes Willen „in allen aktiv und wach gehalten werden“[13], wie der Gründer schrieb. Auf diese Weise können die Assoziierten, die Supernumerarier und die Mitarbeiter mit dem Ansporn und der Unterstützung eines Freundes und Bruders, einer Freundin und Schwester rechnen, um das göttliche Leben ihrerseits in ihr Umfeld zu tragen.
Die Numerarier und Numerarierinnen entfachen diese familiäre Wärme auf verschiedene Weisen, jedoch immer in einem Klima geschwisterlicher Verbundenheit und aufrichtiger Freundschaft. Und stets ist es ihr Ansinnen, eine Lebensart weiterzugeben, die den Verstand erleuchtet und das Herz stärkt. So bleibt die apostolische Dynamik erhalten. In diesem Bestreben stehen sie den anderen einerseits dadurch beiseite, dass sie Aktivitäten oder Einrichtungen gemeinsam mit anderen Mitgliedern des Werkes anstoßen, oder genauso gut in der Verwaltung eines Zentrums arbeiten. Andererseits kann es um das Abenteuer gehen, das Werk in eine nahe gelegene Stadt oder in ein anderes Land zu bringen, oder genauso gut diejenigen zu besuchen, die aufgrund einer Erkrankung oder Bewegungseinschränkung an ihr Zuhause gebunden sind. Entscheidend ist nicht die spezifische Tätigkeit, die sie ausüben, sondern die Großherzigkeit, mit der sie in ihren Herzen das göttliche Leben pflegen, sowie die „väterliche und mütterliche Zuneigung“[14], mit der sie es weiterreichen.
In Überfülle empfangen und großherzig geben: Das sind die charakteristischen Haltungen jener, die an der Seite Christi arbeiten. Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben (Joh 10,10), sagt Jesus im Johannesevangelium. Der Herr hat sich in Betlehem und auf Golgota ganz hingegeben; mit überbordender Großzügigkeit verwandelt er Wasser in Wein, und im gleichen Ausmaß vermehrt er Brote und Fische; auch die wunderbaren Fischfänge fallen überreichlich aus ... Auch in seiner Sendung als Meister schenkt Jesus Fülle, wenn er lehrt und den Menschenmengen predigt. Darüber hinaus hinaus widmet er sich besonders der Bildung derjenigen, die ihm am nächsten sind. So schrieb der heilige Josefmaria: „Jesus überhäuft die Apostel mit Liebe: Er formt ihren Verstand, stärkt ihren Willen, korrigiert ihre Fehler und berichtigt ihre Absichten, bis sie durch die Sendung des Heiligen Geistes zu den Säulen werden, auf denen die Kirche beruht.“[15] Und in dieser Selbsthingabe, die zur Freude führt, haben die Apostel den Meister nachgeahmt und ahmen ihn weiterhin nach.
Der heilige Josefmaria wünschte, dass alle Gläubigen des Werks eng mit dem Kreuz verbunden seien, vor allem die Numerarier und Numerarierinnen aufgrund ihrer besonderen Sendung des Dienstes. Damit brachte er anschaulich zum Ausdruck, dass sie ihr Leben in freudiger Aufopferung verschenken würden, um diese große Sendung in der Welt zu ermöglichen. „Unser Herr [...] will, dass es im Werk eine Schar gibt, die ans Kreuz geheftet ist. Das Heilige Kreuz wird uns Fortdauer schenken. Zugleich werden wir stets mit dem Geist des Evangeliums verbunden sein, der als wohlschmeckende Frucht von Gebet und Opfer das tätige Apostolat hervorbringt.“[16] An jenem Ort, wo wir Jesus, seine Mutter, die heiligen Frauen und den jungen Johannes vorfinden, liegt der Ursprung des göttlichen Lebens, das sich in den Sakramenten und in der christlichen Liebe verströmt.
Einige Arten und Weisen, „Leben zu schenken“
Alle Aspekte des Lebens eines Numerariers oder einer Numerarierin können dazu beitragen, seine oder ihre Sendung zu stärken und zu beflügeln. Das Bemühen um die Heiligung durch die Arbeit, die Professionalität, mit der sie sich der christlichen Bildung anderer widmen, die Freundschaft mit Familienangehörigen und Kollegen sowie ihre eigene Persönlichkeit, ihre Neigungen, Freizeitbeschäftigungen und Interessen: All das sind Dimensionen, die sie nicht nur mit ihrer persönlichen Berufung in Einklang bringen können, sondern die sie auch bereichern und stärken; mehr noch: Dies ist der Weg, auf dem sie ihren größten Sinn finden.
Ausgehend von der Persönlichkeit eines jeden gibt es verschiedene Arten und Weisen, für das Werk als übernatürliche Familie zu sorgen. In erster Linie schenkt ein Numerarier Leben im Überfluss, wenn er oder sie persönlich ein Dasein führt, das von der göttlichen Gnade durchdrungen ist. Das Leben des Apostels Johannes oder auch der Geschwister in Betanien zeigt, wie sich das Menschliche und Göttliche verbinden lassen. Sie waren alle eins in ihrer Nähe zum Herzen des Meisters – eine Möglichkeit, die uns ebenfalls offen steht, wie der heilige Josefmaria unterstrich: „Sei ein Mensch, der aus der Eucharistie lebt! Wie viele Früchte der Heiligkeit und des Apostolats wirst du ernten, wenn dein ganzes Denken und Hoffen auf den Tabernakel gerichtet ist!“[17] Es kommt auf den lebendigen Kontakt mit dem Einen an, der die Quelle des Lebens ist, wenn es um Glück und Fruchtbarkeit geht. Anders gesagt: Wenn der persönliche Lebensstil von übernatürlichem Geist erfüllt ist, springt der Wunsch nach einer solchen Lebensführung in den gewöhnlichen Umständen leichter auf andere über. Die Pflege der eigenen Innerlichkeit und Menschlichkeit ist daher wesentlich, um die Sendung zu erfüllen, den Brüdern und Schwestern im Werk Leben zu schenken. Die Kirche, und in ihr das Opus Dei, wachsen durch Anziehung.
Eine zweite Art und Weise, Leben zu schenken, liegt darin, eine Leidenschaft für die Mitmenschen zu entwickeln – und damit einen tiefen Wunsch, Christus zu ihnen zu bringen und sie mit einer aufrichtigen Freundschaft auf ihrem Weg zu begleiten. Es ist eine „Freundschaft von Du zu Du, von Herz zu Herz“[18], wie der Gründer sie beschrieb: mit einem echten Interesse an jedem Einzelnen, Nähe und Offenheit gegenüber allen, mit der Bereitschaft, sich auf ihr Leben einzulassen und ihre Realität zu verstehen; indem man sich ihrem Wesen, Denken und Rhythmus anpasst. Denn das Opus Dei besteht nicht aus einer Ansammlung von Aktivitäten, sondern aus jedem Einzelnen, der diesem Zuhause angehört, und jedem Einzelnen, der darin die Wärme Jesu findet. In diesem Sinne sind Freundschaften selbst die beste Schule für persönliche Entwicklung: Fast unbewusst entwickeln sich in diesem Umfeld Fähigkeiten wie Zuhören, Empathie, Dialogführung und die aufrichtige Sorge um den anderen. Ein Herz, das das Geschenk des Zölibats aus Liebe annimmt, strebt ständig danach, diesen Kreis der Freundschaften zu erweitern, um andere mit der Liebe, die es in sich trägt, anzustecken.
Eine weitere Möglichkeit, Leben zu schenken, besteht gerade darin, den Geist des Werks in die eigene berufliche Tätigkeit einzubringen. Durch ihre persönliche berufliche Erfahrung können die Numerarier und Numerarierinnen die Bildung der Gläubigen des Werks, die sie begleiten, maßgeblich bereichern. Wenn ein Numerarier auf christliche Weise und aus Liebe zu Gott arbeitet und dabei das Wohl des gemeinsamen Zuhauses und der anderen im Blick behält, wenn er auch die soziale und kulturelle Dynamik der Zeit versteht und seine persönliche Erfüllung nicht an Zielen misst, die die Person an die zweite Stelle setzen – kurz gesagt, wenn er all diese Tugenden in seiner Arbeit lebt, wird er einen gesunden beruflichen Ehrgeiz entwickeln und diesen zugleich in den Dienst seiner Berufung stellen. So wird er persönlich lernen, was er später an seine Brüder weitergeben kann. Dasselbe gilt selbstverständlich in der weiblichen Variante. Für seinen beruflichen Einsatz hat Luis Gordon, einer der ersten Numerarier, von seinen Mitarbeitern ein schönes Zeugnis erhalten. Sie sahen in ihm einen „Vater der Arbeiter in seiner Fabrik“, „trauerten nach seinem Tod zutiefst um ihn“[19] und stellten fest, dass es schwierig sei, „eine so große Seele wie die seine unter jenen Menschen zu finden, die sich im hektischen Treiben der Welt und des Geschäftslebens bewegen [...]. Er gab sein wertvolles Leben ganz und gar, indem er seine Arbeit heiligte und ein liebevoller Vater für die Armen sowie ein beispielhafter Chef für die Arbeiter in seiner Fabrik war. Hier hinterließ er eine Lücke, die schwer zu füllen sein wird.“[20]
Eine weitere Art und Weise, Leben zu schenken, entspringt schließlich dem Interesse und der Freude an der Reflexion, stets mit dem Fokus darauf, den anderen zu dienen. Wer durch Freundschaft und christliche Bildung anderen helfen möchte, Salz und Licht in der Gesellschaft zu werden, bedarf einer gewissen Fähigkeit zur Reflexion, zum Studium und zum Verständnis der zeitgenössischen Welt. Mit Worten des heiligen Josefmaria: „Damit alle meine Söhne und Töchter in der Lage sind, auf kapillare Weise Millionen von Seelen eine sichere Lehre weiterzugeben, habt ihr – haben wir – die Pflicht, über die Dinge, auch die zeitlich begrenzten, die in irgendeiner Weise die Kirche, den Papst und die Seelen berühren, auf dem Laufenden zu sein.“[21] Die philosophische, theologische und kulturelle Bildung ist eine Priorität für jeden, der ein Apostel mitten in der Welt sein möchte und dazu eine besondere Verantwortung für die Bildung anderer hat, die ebenfalls Apostel sind.
Verfügbarkeit des Herzens
Alle diese Arten und Weisen, „Leben zu schenken“, münden in die gewohnheitsmäßige Bereitschaft, das Leben auf die anderen auszurichten und das Wertvollste, was man besitzt – Zeit, Liebe, erworbenes Wissen, Gebet usw. – in ihren Dienst zu stellen. Diese Haltung bezeichnete der Prälat des Opus Dei als „Bereitschaft des Herzens“. Sie besteht „im freien Entschluss, nur für Gott und um seinetwillen für die anderen zu leben.“ Und er fügte hinzu: „Dieser freie Entschluss ist verbunden mit dem Willen, sich um die Aufgaben zu kümmern, die für das Werk erforderlich sind.“[22] Die Dimension der Fürsorge und des Dienstes weitet tatsächlich das Herz und bringt das Beste eines jeden zum Vorschein. Zugleich verhindert sie, dass persönliche Ressourcen wie Münzen versteckt werden und keine Früchte tragen (vgl. Mt 25,25) oder auch in einen Zufluchtsort verwandelt werden, der nur Platz für das eigene Ich bietet.
Wie ein jeder Christus nachfolgt und die einzelnen Tugenden lebt, hängt von der besonderen Berufung ab, zu der er gerufen ist. Im Bewusstsein ihrer Einbettung in das soziale Gefüge ihrer Zeit leben die Numerarier und Numerarierinnen die Tugenden entsprechend ihrem besonderen Ruf, alles zu verlassen, um Christus nachzufolgen, indem sie das Fundament einer Familie bilden. Wie der heilige Paulus schrieb: Alles ist erlaubt – aber nicht alles nützt. Alles ist erlaubt – aber nicht alles baut auf. Denkt dabei nicht an euch selbst, sondern an die anderen! (1 Kor 10,23-24). Die Bereitschaft des Herzens zeigt sich in ihrem Fall auch in der Offenheit und dem Wunsch, Wohnort und Berufsarbeit so weit wie möglich an die Bedürfnisse der anderen anzupassen. Auf diese Weise können alle die Unterstützung und Begleitung finden, die sie im Opus Dei suchen.
***
Der heilige Johannes erlebte, wie sich jenes Zuhause Jesu, das in Galiläa und Judäa entstanden war, über die bekannten Regionen hinaus ausbreitete und die Welt selbst begann, dieses Zuhause zu werden. Alles fing damit an, dass Jesus zu Johannes am Fuße des Kreuzes sagte: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich (Joh 19,27). Wer von uns würde nicht gerne wie die Jünger in diesem Zuhause Halt machen, um sich an der Seite der Gottesmutter von der Liebe Gottes erfüllen zu lassen? Hier haben sie Gedanken ausgetauscht, gemeinsam gebetet, sich an vergangene Abenteuer erinnert und von den zukünftigen geträumt. Und unter dem Drängen Marias werden sie dieses Zuhause innerlich erneuert wieder verlassen haben, im Wunsch, diese Liebe zu verbreiten, in „konzentrischen Kreisen“, bis die ganze Welt erreicht war.
[1] Heiliger Josefmaria, Brief 27, Nr. 11.
[2] Worte des heiligen Josefmaria, aufgezeichnet in S. Bernal, Memoria del Beato Josemaría Escrivá, entrevista de Salvador Bernal a Mons. Javier Echevarría, Kapitel 4.
[3] L. Martínez Ferrer, Vicente Rodríguez Casado: niñez, juventud y primeros años en el Opus Dei (1918-1940), Studia et Documenta, Bd. 10, 2016, S. 216.
[4] Heiliger Josefmaria, Brief 27, Nr. 6.
[5] Ebd., Nr. 7. Die Aussage, dass die Mitarbeiter keine Berufung haben, bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sie keine Berufung für das Werk haben. Wie der heilige Josefmaria immer predigte, haben sie die göttliche Berufung zur Heiligkeit, die alle Menschen haben. Man beachte auch, dass die Bezeichnung „Oblaten“ im Zitat der Einfachheit halber in „Assoziierte“ geändert wurde: Dies ist der Begriff, den der heilige Josefmaria am Ende seines Lebens für diese Modalität der Berufung zum Werk verwendete.
[6] Ebd., Nr. 5.
[7] I. Zorzano, Brief aus Málaga, 5. September 1930, zitiert in J. M. Pero-Sanz, Isidoro Zorzano, Kapitel 9, Absatz 1.
[8] L. Martínez Ferrer, Vicente Rodríguez Casado: niñez, juventud y primeros años en el Opus Dei (1918-1940), Studia et Documenta, Bd. 10, 2016, S. 235. Das Zitat stammt aus Álvaro del Portillo, De Madrid a Burgos, S. 2 (3), AGP, APD, D-19114.
[9] C. Ánchel, Francisco Botella Raduán: los años junto a san Josemaría, Studia et Documenta, Bd. 10, 2016, S. 174.
[10] Brief an den heiligen Josefmaria aus Mexiko D.F., 29. Juni 1950, veröffentlicht in Letras a un Santo, Online-Ausgabe des Informationsbüros des Opus Dei, 2018.
[11] Heiliger Josefmaria, Brief 27, Nr. 60.
[12] Vgl. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief über die Berufung, 28.10.2020, Nr. 10.
[13] Heiliger Josefmaria, Brief 27, Nr. 76.
[14] Ebd., Nr. 23.
[15] Ebd., Nr. 9.
[16] Instrucción sobre el espíritu sobrenatural de la Obra, Nr. 28. Zu diesen Worten schreibt Msgr. Fernando Ocáriz: „Unser Vater [der hl. Josefmaria] gibt nicht an, wer diese ans Kreuz geheftete Gruppe ausmacht. Aber Don Álvaro weist in seiner Anmerkung zu diesem Absatz darauf hin, dass die verschiedenen Arten, seine Berufung im Werk zu leben, hier bereits angekündigt oder angedeutet werden. Aus dem Kontext kann man schließen, dass es sich in diesem Fall insbesondere um die Numerarier handelt“ (Hirtenbrief über die Berufung, 28.10.2020).
Gerard Jiménez Clopés
[17] Heiliger Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 835.
[18] Heiliger Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 191.
[19] P. P. Ortúñez Goicolea, Luis Gordon Picardo. Un empresario en los primeros años del Opus Dei (1898-1932), Studia et Documenta, Bd. 3, 2019, S. 132.
[20] Perlas Divinas, Publikation der Oblatenschwestern vom Allerheiligsten Erlöser, Jahr IV, 45, S. 348; veröffentlicht in Studia et Documenta, Bd. 3, 2009, S. 133, Nt. 56.
[21] Instrucción sobre la obra de San Miguel, Nr. 32.
[22] Fernando Ocáriz, Hirtenbrief über die Berufung, 28.10.2020, Nr. 11.