Die Heilige Schrift und die Tradition der Kirche lassen uns zwei Aspekte erkennen. Der Engel ist einerseits ein Geschöpf, das vor Gott steht und mit seinem ganzen Sein auf Gott ausgerichtet ist. Alle drei Namen der Erzengel enden mit dem Wort »El«, was »Gott« bedeutet. Gott ist in ihre Namen, in ihr Wesen eingeschrieben. Ihr wahres Wesen ist das Dasein vor Ihm und für Ihn.
Genau daraus erklärt sich auch der zweite Aspekt, der die Engel kennzeichnet: Sie sind Boten Gottes. Sie bringen Gott zu den Menschen, sie öffnen den Himmel und öffnen so die Erde. Gerade weil sie bei Gott sind, können sie auch dem Menschen sehr nahe sein. Gott ist in der Tat jedem von uns näher als wir es uns selbst sind.
Für die anderen wie ein Engel sein
Die Engel sprechen zum Menschen von dem, was sein wahres Sein ausmacht, von dem, was in seinem Leben so oft zugedeckt und begraben ist. Sie rufen ihn auf, wieder zu sich zu kommen, indem sie ihn von Gott her berühren. In diesem Sinn sollten auch wir Menschen immer wieder füreinander Engel werden – Engel, die uns von den falschen Wegen abbringen und uns immer von neuem auf Gott ausrichten. Wenn die alte Kirche die Bischöfe »Engel« ihrer Kirche nennt, will sie damit sagen: Die Bischöfe selbst müssen Männer Gottes sein, müssen ihr Leben auf Gott ausrichten. »Multum orat pro populo – Er betet viel für das Volk«, heißt es im Brevier der Kirche in bezug auf die heiligen Bischöfe. Der Bischof muß ein Beter sein, der bei Gott für die Menschen eintritt. Je mehr er das tut, um so mehr versteht er auch die Menschen, die ihm anvertraut sind, und kann für sie zu einem Engel werden – zu einem Boten Gottes, der ihnen hilft, ihr wahres Wesen, sich selbst, zu finden und die Idee zu leben, die Gott von ihnen hat.
Der Hl. Michael: Gott in der Welt Raum geben
Das alles wird noch klarer, wenn wir uns jetzt die Gestalten der drei Erzengel ansehen, deren Fest die Kirche heute feiert. Da ist zunächst Michael. Ihm begegnen wir in der Heiligen Schrift vor allem im Buch Daniel, im Brief des Apostels Judas Taddäus und in der Offenbarung. Zwei Aufgaben dieses Erzengels werden in diesen Texten offenkundig. Er verteidigt die Sache der Einzigkeit Gottes gegen die Vermessenheit des Drachen, der »alten Schlange«, wie Johannes sagt. Es ist der unablässige Versuch der Schlange, die Menschen glauben zu machen, daß Gott verschwinden müsse, damit sie groß werden können; daß Gott uns in unserer Freiheit behindere und daß wir uns darum seiner entledigen müssen.
Aber der Drache klagt nicht nur Gott an. Die Offenbarung nennt ihn auch den »Ankläger unserer Brüder, der sie bei Tag und bei Nacht vor unserem Gott verklagte« (12,10). Wer Gott zurückstellt, macht den Menschen nicht groß, sondern nimmt ihm seine Würde. Da wird der Mensch zu einem mißlungenen Produkt der Evolution. Wer Gott anklagt, klagt auch den Menschen an. Der Glaube an Gott verteidigt den Menschen in allen seinen Schwächen und Unzulänglichkeiten: Der Glanz Gottes findet auf jedem einzelnen seinen Abglanz.
Aufgabe des Bischofs - und jedes Christen - ist es, gegen die Verleugnungen Gott in der Welt Raum zu geben und so die Größe des Menschen zu verteidigen. Und was ließe sich über den Menschen Größeres sagen und denken, als daß Gott selbst Mensch geworden ist? Die andere Aufgabe Michaels besteht nach der Schrift darin, Beschützer des Gottesvolkes zu sein (vgl. Dan 10,21; 12,1).
Liebe Freunde, seid wahrhaftig »Schutzengel« der Kirchen, die euch anvertraut sind! Helft dem Volk Gottes, dem ihr auf seiner Pilgerschaft vorangehen sollt, Freude im Glauben zu finden und die Unterscheidung der Geister zu lernen: nämlich das Gute anzunehmen und das Böse abzulehnen, kraft der Hoffnung des Glaubens Menschen zu bleiben und immer mehr Menschen zu werden, die in Gemeinschaft mit Gott lieben, der die Liebe ist.
Der Hl. Gabriel: Gott, der ruft
Dem Erzengel Gabriel begegnen wir vor allem in der kostbaren Erzählung von der Verkündigung der Menschwerdung Gottes an Maria, wie sie uns der hl. Lukas berichtet (1,26–38). Gabriel ist der Bote der Menschwerdung Gottes. Er klopft an die Tür Mariens, und durch ihn bittet Gott selbst Maria um ihr »Ja« zu dem Angebot, Mutter des Erlösers zu werden: ihr menschliches Fleisch dem ewigen Wort Gottes, dem Sohn Gottes zu geben.
Immer wieder klopft der Herr an die Türen des menschlichen Herzens. In der Geheimen Offenbarung sagt er zum »Engel« der Kirche von Laodizea und durch ihn zu den Menschen aller Zeiten: »Ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich eintreten, und wir werden Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir« (3,10). Der Herr steht an der Tür – an der Tür der Welt und an der Tür jedes einzelnen Herzens. Er klopft an, um eingelassen zu werden: die Menschwerdung Gottes, sein Fleischwerden soll bis ans Ende der Zeiten andauern.
Alle sollen in Christus in einem einzigen Leib vereint werden: Das sagen uns die großen Christushymnen im Epheserbrief und im Kolosserbrief. Christus klopft an. Auch heute braucht er Menschen, die ihm sozusagen ihren Leib zur Verfügung stellen, die ihm die Materie der Welt und ihres Lebens schenken und auf diese Weise der Vereinigung zwischen Gott und der Welt, der Versöhnung des Universums dienen.
Liebe Freunde, es ist eure Aufgabe, im Namen Christi an die Herzen der Menschen zu klopfen. Indem ihr selbst eins werdet mit Christus, werdet ihr auch die Aufgabe Gabriels übernehmen können: den Menschen den Ruf Christi zu überbringen.
Der Hl. Rafael: Heilung von der Blindheit
Der hl. Rafael wird uns vor allem im Buch Tobit als der Engel vorgestellt, dem die Aufgabe des Heilens übertragen ist. Wenn Jesus seine Jünger in die Mission entsendet, wird die Aufgabe der Verkündigung des Evangeliums immer auch mit der Aufgabe des Heilens verbunden. Der barmherzige Samariter, der dem am Straßenrand liegenden Schwerverletzten aufhilft und seine Wunden verbindet, wird wortlos zu einem Zeugen der Liebe Gottes. Dieser verletzte Mensch, der Heilung braucht, sind wir alle. Die Verkündigung des Evangeliums bedeutet schon an sich Heilen, weil der Mensch vor allem Wahrheit und Liebe braucht.
Im Buch Tobit wird von zwei sinnbildlichen Heilungsaufgaben des Erzengels Rafael berichtet. Er heilt die gestörte Gemeinschaft zwischen Mann und Frau. Er heilt ihre Liebe. Er treibt die Dämonen aus, die immer wieder ihre Liebe angreifen und sie zerstören. Er reinigt die Atmosphäre zwischen den beiden und schenkt ihnen die Fähigkeit, sich für immer gegenseitig anzunehmen. In der Erzählung von Tobit wird mit legendären Bildern von dieser Heilung berichtet.
Im Neuen Testament wird die Ordnung der Ehe, die in der Schöpfung festgelegt und von der Sünde vielfach bedroht ist, dadurch geheilt, daß Christus sie in seine erlösende Liebe aufnimmt. Er macht aus der Ehe ein Sakrament: Seine Liebe, die für uns auf das Kreuz gestiegen ist, ist die heilende Kraft, die in aller Verwirrung die Fähigkeit zur Versöhnung verleiht, die Atmosphäre reinigt und die Wunden heilt.
Dem Priester obliegt die Aufgabe, die Menschen immer wieder zu der versöhnenden Kraft der Liebe Christi hinzuführen. Er muß der heilende »Engel« sein, der ihnen hilft, ihre Liebe im Sakrament zu verankern und sie mit immer wieder neuem Schwung von diesem her zu leben.
An zweiter Stelle spricht das Buch Tobit von der Heilung der blinden Augen. Wir wissen alle, wie sehr wir heute von der Blindheit gegenüber Gott bedroht sind. Wie groß ist die Gefahr, daß wir angesichts all dessen, was wir über die materiellen Dinge wissen und mit ihnen tun können, blind werden für das Licht Gottes!
Diese Blindheit durch die Botschaft des Glaubens und das Zeugnis der Liebe zu heilen, ist der Dienst Rafaels, der Tag für Tag dem Priester und in besonderer Weise dem Bischof aufgetragen ist. So sind wir spontan dazu geneigt, auch an das Sakrament der Versöhnung, das Sakrament der Buße zu denken, das im tiefsten Sinn des Wortes ein Sakrament der Heilung ist. Die wahre Wunde der Seele nämlich, der Grund all unserer anderen Wunden ist die Sünde. Und nur wenn es eine Vergebung kraft der Macht Gottes, kraft der Macht der Liebe Christi gibt, können wir geheilt werden, können wir erlöst werden.
Benedikt XVI., Auszüge seiner Predigt bei der Weihe neuer Bischöfe im Vatikan, 29. September 2007.