Der Brief des Prälaten des Opus Dei über die Familie

Anfang dieses Jahres hat Bischof Javier Echevarria einen Brief an die Mitglieder und Mitarbeiter des Opus Dei geschrieben. Wir veröffentlichen hier die zentralen Passagen.

In der Weihnachtszeit steht die Heilige Familie in besonderer Weise im Mittelpunkt unserer Betrachtungen. Da ist es ist nur zu verständlich, daß beim Anblick der Dreifaltigkeit der Erde Gefühle der Dankbarkeit und der Anbetung in unseren Herzen emporsteigen und wir Gott den sehnlichen Wunsch vortragen, die wahre Natur und die Würde der Familie mögen überall in der Welt geachtet und geschützt werden. Und wir bitten ihn, daß vor allem die christlichen Familien ein Spiegelbild des Zuhause von Nazareth sind. Genau das drückt die Liturgie in dem Gebet aus, zu dem sie uns am 30. Dezember, dem Fest der Familie von Jesus, Maria und Josef, einlud: Herr, unser Gott, in der Heiligen Familie hast du uns ein leuchtendes Vorbild geschenkt. Gib unseren Familien die Gnade, daß auch sie in Frömmigkeit und Eintracht leben und einander in der Liebe verbunden bleiben. Führe uns alle zur ewigen Gemeinschaft in deinem Vaterhaus(1).

Als sich der Heilige Vater Johannes Paul II. gegen Ende seines Lebens ein letztes Mal öffentlich zu diesem Thema äußerte, wies er darauf hin, daß „uns gerade bei der Betrachtung des Geheimnisses, daß Gott als Mensch in eine menschliche Familie hineingeboren wird, der Wert und die Schönheit der Familie voll zu Bewußtsein kommen“. In der Tat, fuhr der Papst fort, „steht die Familie nicht nur im Mittelpunkt des christlichen Lebens, sondern sie ist überhaupt das Fundament des gesellschaftlichen und bürgerlichen Lebens, und daher ist sie ein zentrales Thema der christlichen Soziallehre“(2).

Auch Papst Benedikt XVI. spricht immer wieder von der Bedeutung, die Ehe und Familie im Plan Gottes zukommen. Es ist wichtig, sie in ihrer ganzen Tiefe zu begreifen und sich denen zu widersetzen, die sie hartnäckig auf ein Menschenwerk verkürzen wollen, das im Laufe der Zeit willkürlichen Veränderungen unterworfen wäre. Ehe und Familie, so erklärt der Papst, sind in Wirklichkeit keine soziologische Zufallskonstruktion, sie sind nicht das Ergebnis besonderer historischer und wirtschaftlicher Situationen. Im Gegenteil, die Frage der richtigen Beziehung zwischen Mann und Frau hat ihre Wurzeln im tiefsten Wesen des Menschseins und kann ihre Antwort nur von daher finden. Das heißt, sie kann nicht getrennt werden von der alten und immer neuen Frage des Menschen über sich selbst: Wer bin ich? Was ist der Mensch? Und diese Frage kann ihrerseits nicht von der Gottesfrage getrennt werden: Existiert Gott? Und wer ist Gott? Wie ist sein wahres Gesicht? (3)

Nachdem der Papst diese Fragestellungen aufgeworfen hat, ruft er einige Grundsätze aus der Heiligen Schrift in Erinnerung, unter anderem, daß der Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen und Gott selbst Liebe ist. Daher ist die Berufung zur Liebe das, was den Menschen zum echten Ebenbild Gottes macht: Er wird in dem Maße Gott ähnlich, in dem er ein Liebender wird(4). Und wie wir wohl wissen, ist die Liebe dem Egoismus diametral entgegengesetzt.

Der heilige Josefmaria hat uns wiederholt versichert: Unser Glaube verkennt nicht das Schöne, Erhabene und echt Menschliche hier auf der Erde. Er lehrt uns, daß die Richtschnur unseres Lebens nicht egoistisches Luststreben sein darf, da nur Verzicht und Opfer zur wahren Liebe führen. Gott hat uns geliebt, und Er fordert uns auf, Ihn und unsere Nächsten so wahrhaftig zu lieben, wie Er uns liebt(5). Diese Überzeugung gilt es Tag für Tag im persönlichen Verhalten, in der eigenen Familie, am Arbeitsplatz usw. zu vertreten, denn nur so – und natürlich mit Hilfe der Gnade – können die irrigen Vorstellungen wirksam widerlegt werden. Nur so können auch die Menschen, die an ihnen festhalten, zu Gott zurückfinden.

Eine der unmittelbaren Folgen dieser ursprünglichen Berufung zur Liebe besteht darin, daß niemand ausschließlich sich selbst gehört. Wir alle sind untereinander fest verbunden durch denselben Ursprung und das gemeinsame Ziel. Beides gründet in Gott. Wir alle sind aufgerufen, Verantwortung für das Gemeinwohl zu übernehmen, gemäß den persönlichen Umständen jedes einzelnen. Im Fall von Ehe und Familie ist eindeutig klar, daß es sich bei den Gesetzen, die sie regeln, nicht einfach um die Auferlegung einer Lebensform von außen handelt. Das gilt innerhalb der Kirche wie auch in jeder Gesellschaft, die in rechter Weise dem Gemeinwohl verpflichtet ist. Diese Regelungen sind vielmehr der wesenseigene Anspruch des Vertrags der ehelichen Liebe und der Tiefe der menschlichen Person. Die verschiedenen heute festzustellenden Auflösungstendenzen bezüglich der Ehe, wie uneheliche Lebensgemeinschaften und die »Ehe auf Probe«, bis hin zur Pseudo-Ehe zwischen Personen des gleichen Geschlechts sind hingegen Ausdruck einer anarchischen Freiheit, die sich zu Unrecht als wahre Befreiung des Menschen ausgibt. Eine solche Pseudofreiheit beruht auf einer Banalisierung des Körpers, die unvermeidlich die Banalisierung des Menschen einschließt. Sie unterstellt, daß der Mensch mit sich machen könne, was er wolle: Sein Körper wird so zu einer zweitrangigen Sache, vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet etwas Manipulierbares, von der er nach Belieben Gebrauch machen kann. Der Libertinismus, der sich als Entdeckung des Körpers und seines Wertes ausgibt, ist in Wirklichkeit ein Dualismus, der den Körper dadurch, daß er ihn sozusagen außerhalb des wirklichen Seins und der Würde der Person ansiedelt, verächtlich macht(6).

Als Bürger und Christen fühlen wir uns selbstverständlich verantwortlich, alles zu tun, was in unseren Kräften steht, um die unaufgebbaren Werte auf diesem Gebiet zu schützen und ihre Beachtung zu fördern. Hier liegt eine der dringlichsten Aufgaben der Neuevangelisierung für das Leben der Kirche wie auch der bürgerlichen Gesellschaft – ich erinnere ausdrücklich daran. Die Verpflichtung, die rechte Lehre über Ehe und Familie bekannt zu machen, liegt in der Verantwortung jedes einzelnen von euch. Die weihnachtlichen Festtage führen es uns ganz plastisch vor Augen. Sie sind ein Aufruf an uns, nicht einzuschlafen und viele Menschen aus dem bösen Schlaf zu wecken, der sie manchmal überfällt.

Ich möchte am Ende dieser Überlegungen noch besonders die kinderreichen Familien erwähnen, die unser Vater so sehr schätzte. Ich bin ein großer Freund der kinderreichen Familien, aber ich bin auch ein Freund der Familien, die wenige oder gar keine Kinder haben, weil Gott ihnen keine schenkt(7), sagte er oft zu uns. Außerdem pflegte er als Frucht seiner langjährigen Erfahrung anzumerken: Ich habe schon einige Ehepaare erlebt, die die Großzügigkeit besitzen, Gott das einzige Kind, das er ihnen geschenkt hat, nicht vorzuenthalten. Aber sehr viele sind es nicht, die so handeln. In den kinderreichen Familien verstehen die Eltern leichter die Größe einer göttlichen Berufung, und ihre Kinder werden sich normalerweise auf alle Stände verteilen. Wohl aber habe ich voller Dankbarkeit Gott gegenüber oft feststellen können, daß Eheleute, denen Gott trotz ihrer vorbildlichen Ehe keine Kinder schenkt, seinen heiligen Willen freudig annehmen und mehr Zeit den Werken der Nächstenliebe widmen(8).

Wie unser Vater schaue auch ich mit besonderer Zuneigung – bei euch wird es ähnlich sein – auf die Ehepaare, denen Gott keine Kinder schenkt. Häufig habe ich erlebt, daß sich folgende Behauptung unseres Gründers wortwörtlich bewahrheitete: Diese Familien, so sagte er, können nicht nur ihr Zuhause auf gleiche Weise heiligen, sie haben außerdem mehr Zeit zur Verfügung, um sich mit den Kindern der anderen zu beschäftigen. Es sind schon viele, die das mit beeindruckender Selbstverleugnung tun(9), wobei sie eine ungemein fruchtbare Vater- und Mutterschaft verwirklichen. Es ist für mich ein tröstlicher Gedanke, daß der großherzige Einsatz solcher „Väter und Mütter“ schon viele Gläubige zum Werk gebracht hat.

Vor kurzem sagte Benedikt XVI.: Im aktuellen gesellschaftlichen Kontext sind die Familien mit vielen Kindern ein Zeugnis des Glaubens, des Mutes und des Optimismus, denn ohne Kinder gibt es keine Zukunft. Und er fügte hinzu: Ich spreche hier den Wunsch aus, daß man neue und angemessene soziale und gesetzliche Initiativen ins Leben ruft, um die kinderreichen Familien zu unterstützen, die für das ganze Land ein Reichtum und eine Hoffnung darstellen(10). Diese Worte des Heiligen Vaters sollten für uns ein starker Ansporn sein, weiterhin die Familien überall tatkräftig zu unterstützen, damit sie ihre übernatürliche und menschliche Sendung erfüllen können, die unverzichtbar für die Zukunft der Gesellschaft ist.

Betrachten wir noch einmal das Geheimnis der Weihnacht. Es wiederholt sich in gewissem Sinn immer wieder, da Christus Tag für Tag auf unsere Altäre kommt und ebenso jeden Tag durch die Gnade in unserer Seele geboren und wiedergeboren wird. Bitten wir ihn häufig vor dem Tabernakel um Licht und lernen wir von ihm, der in der Krippe des Tabernakels(11) dauernd unter uns ist.

In wenigen Tagen werden wir den Jahrestag der Geburt unseres Vaters feiern. Empfehlt ihm meine Anliegen und legt ihm besonders die konkreten apostolischen Projekte ans Herz, die viele eurer Schwestern und Brüder in der ganzen Welt auf dem weiten Feld von Ehe und Familie zu verwirklichen suchen. Vergeßt aber nicht, was ich zu Beginn sagte: Wir alle sind in diese Aufgabe einbezogen, zum einen durch viel Gebet, zum anderen durch einen zur rechten Zeit erteilten und gut überlegten Rat. Der Herr, der in Kana in Galiläa auf die Bereitschaft der Diener zählte, um das Wasser in Wein zu verwandeln, will sich jetzt auf die Christen – auf uns – stützen, um erneut Wunder zu vollbringen, so daß viele Menschen zum Glauben an ihn kommen werden(12).

+ Javier

Rom, 1. Januar 2006

(1) Meßbuch, Fest der Heiligen Familie, Tagesgebet.

(2) Johannes Paul II., Ansprache an die Teilnehmer des Familienkongresses, 18.12.2004.

(3) Benedikt XVI., Ansprache bei der Eröffnung der Pastoraltagung der Diözese Rom, 6.6.2005.

(4) Ebd.

(5) Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 24.

(6) Benedikt XVI., a.a.O.

(7) Hl. Josefmaria, Ein helles und fröhliches Zuhause, S. 51.

(8) Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen aus seiner Verkündigung, in Obras X-63, S. 20-21.

(9) Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen aus einem Beisammensein, 10.4.1969.

(10) Benedikt XVI., Worte am Ende der Generalaudienz vom 2.11.2005.

(11) Hl. Josefmaria, Januar 1939; zit. in Camino, historisch-kritische Ausgabe von Pedro Rodríguez,

Madrid 32004, S. 1051.

(12) Vgl. Joh 2, 6-11.