Brief des Prälaten des Opus Dei zur Fastenzeit

Anlässlich des Beginns der Fastenzeit hat Bischof Echevarría diesen Brief geschrieben.

Marc Chagall, 'Weisse Kreuzigung' (1938)

Heute beginnt die österliche Bußzeit, „die besonders geeignet ist, sich innerlich zu dem aufzumachen, der die Quelle des Erbarmens ist. Es ist ein Pilgern, bei dem Er selbst uns durch die Wüste unserer Armut begleitet und uns Kraft gibt auf dem Weg zur tiefen Osterfreude“ (Benedikt XVI. Botschaft zur Fastenzeit 2006, 29.9.2005).

Die Liturgie der vor uns liegenden Zeit lädt uns mit Nachdruck ein, intensiver und ausdauernder zu beten und großzügiger im Opfer und in Werken der Barmherzigkeit zu sein. Den letzten Aspekt dieser inneren Vorbereitung auf Ostern wollte Papst Benedikt XVI. in seiner Fastenbotschaft besonders hervorheben und stellte sie daher unter den Leitsatz des Evangeliums: Als Jesus die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen (Mt. 9, 36) Diese Worte des hl. Matthäus können und sollen wir auf unseren Alltag anwenden, der uns in ganz unterschiedlichen Bereichen beständig in Kontakt mit Menschen bringt: innerhalb der Familie, bei der Arbeit und in der Freizeit, in unseren gesellschaftlichen Beziehungen ...

In jeder Situation - so ruft uns der Heilige Vater in Erinnerung - sollten wir uns bemühen, die anderen mit dem Blick Jesu anzuschauen, und versuchen, ihnen zur Seite zu stehen: in allen, die um uns sind, Seelen zu sehen, die durch das kostbare Blut Christi freigekauft wurden (Vgl. 1 Kor 6, 20). Wie vor zweitausend Jahren ist Jesus auch heute bewegt und schaut auf die Menschen und Völker. Er schaut sie an im Bewußtsein, daß der göttliche „Plan" sie zum Heile ruft. Jesus kennt die Hindernisse, die diesem Plan entgegenstehen, und hat mit den vielen Mitleid: Er ist entschlossen, sie vor den Wölfen zu verteidigen, selbst um den Preis seines Lebens. Mit solchem „Blick" umfaßt Jesus die Einzelnen wie die vielen und vertraut alle dem Vater an, indem er sich selbst als Sühneopfer hingibt (Benedikt XVI. Botschaft zur Fastenzeit 2006, 29.9.2005). In jener Zeit, als das menschgewordene Wort leibhaft unter seinen Menschenbrüdern lebte, blickten seine Augen direkt auf die, die ihm folgten; jetzt, vom Tabernakel und vom Himmel aus, will er durch seine Jünger - durch dich und mich - weiterhin seinen barmherzigen Blick auf jeden Mann und jede Frau richten.

Es ist immer angebracht, an die anderen zu denken und Sorge zu tragen, daß sie Gott näher kommen. In den kommenden Wochen, in denen wir uns unmittelbar auf das Fest des hl. Josef vorbereiten, gilt es allerdings, mit noch größerem apostolischen Eifer zu wirken. Ein Blick auf unser normales Umfeld - auf die nächste Umgebung wie auch auf die ganze Welt -genügt, um uns zu zeigen, daß überall ein wirkliches Bedürfnis nach der caritas Christi, nach christlicher Nächstenliebe, besteht. Angesichts der Gewalttätigkeiten in so vielen Nationen dürfen wir als Christen die Beleidigungen nicht mit gleicher Münze heimzahlen oder selbst andere schlecht behandeln. Die Lösung der großen und kleinen Probleme des menschlichen Zusammenlebens liegt vielmehr in einer größeren und vollkommeneren Liebe gemäß der Aufforderung des hl. Paulus: Vergeltet niemand Böses mit Bösem! Seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht. Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden! Rächt euch nicht selber, liebe Brüder, sondern laßt Raum für den Zorn Gottes (...). Vielmehr: Wenn dein Feind Hunger hat, gib ihm zu essen, wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken; tust du das, dann sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt. Laß dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute (Röm 12, 17-21).

Der heilige Josefmaria hat diese Ermahnung des Apostels schon sehr früh in einen prägnanten Satz gefaßt: „das Böse im Überfluß des Guten ersticken“ (Hl. Josefmaria, „Die Spur des Sämanns“, Nr. 864) . Diesen Vorsatz führte er dann genauer aus: „Es genügt weder, nur die Übel anzuprangern, noch, sich hinter einem Wall von Negationen zu verschanzen. - Vielmehr lebt der Christ aus dem Ja zum Wahren und Rechten, weil jugendliche Zuversicht, Freude und Frieden ihn prägen. Er will allen mit Verständnis begegnen: denen, die Christus nachfolgen, denen, die ihn verlassen haben, und denen, die ihn noch nicht kennen“ (Ebd.).

Eine solche Haltung hat nichts gemein mit Passivität oder einer grundsätzlich pessimistischen Sicht: „Freilich bedeutet Verstehen weder Kapitulation noch Indifferenz, sondern Tätigwerden“ (Ebd.). Als Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft sind die Christen aufgerufen, ihre Rechte, die gleichermaßen die Rechte der anderen sind, mit allen zur Verfügung stehenden legitimen Mitteln zu verteidigen. Und das ohne Aggressivität, aber auch ohne Nachgiebigkeiten oder falsche Kompromisse, wenn es um das Wohl der Individuen wie ganzer Völker geht. Wenn man sich heutzutage an vielen Orten eines militanten Laizismus rühmt, ist es um so wichtiger, daß diejenigen, die das natürliche Sittengesetz anerkennen, sich ungeachtet der Glaubensüberzeugung jedes einzelnen zum Schutz seiner Werte zusammenschließen und ihnen Beachtung verschaffen.

Gott sei Dank werden vielerorts schlummernde Kräfte wach, und viele Menschen verzichten auf ihr persönliches Glücksstreben zugunsten eines aktiven Einsatzes bei den entscheidenden Schlachten, die im Bereich von Kultur und Gesellschaft unserer Zeit anstehen. Wie machst Du in Hinsicht auf die angeführten Gesichtspunkte Gebrauch von Deiner persönlichen Freiheit? Nimmst Du im Rahmen Deiner Möglichkeiten an wertvollen Initiativen teil? Bewegst Du andere, indem Du sie darauf aufmerksam machst, daß sie sich nicht in ihr Schneckenhaus zurückziehen können, sondern mit Entschiedenheit Flagge zeigen und die Rechte Gottes wie die unveräußerlichen Rechte der Person verteidigen und schützen müssen?

Diese Mobilmachung läuft im Prinzip auf einen ununterbrochenen Feldzug hinaus. Da es sich jedoch darum handelt, einschneidende und dauerhafte Veränderungen zu bewirken, spielt andererseits das persönliche Engagement eine große Rolle. Denn im menschlichen Herzen werden die entscheidenden Schlachten zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse geschlagen. Im Evangelium lesen wir: „Denn aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussagen und Verleumdungen“ (Mt 15, 19). Ganz im Einklang mit dem Geist der Fastenzeit legt der hl. Paulus ein konkretes Programm vor: „Eure Liebe sei ohne Heuchelei“, schreibt er. „Verabscheut das Böse, haltet fest am Guten! Seid einander in brüderlicher Liebe zugetan, übertrefft euch in gegenseitiger Achtung! Laßt nicht nach in eurem Eifer, laßt euch vom Geist entflammen und dient dem Herrn! Seid fröhlich in der Hoffnung, geduldig in der Bedrängnis, beharrlich im Gebet! Helft den Heiligen, wenn sie in Not sind; gewährt jederzeit Gastfreundschaft!“ (Röm 12, 9-13).

Letzten Endes geht es darum, in den Herzen der Menschen und in den gesellschaftlichen Strukturen eine Saat der Nächstenliebe auszustreuen. Auch darauf weist Benedikt XVI. in seiner ersten Enzyklika hin: „Liebe - Caritas - wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen. Immer wird es Leid geben, das Tröstung und Hilfe braucht. Immer wird es Einsamkeit geben. Immer wird es auch Situationen materieller Not geben, in denen Hilfe im Sinn gelebter Nächstenliebe nötig ist“ (Benedikt XVI., Enzyklika „Deus caritas est“, 25.10.2005, Nr. 28). An uns alle richtet sich dieser Aufruf zu lebendiger Sorge um die Menschen unserer Umgebung, die ein Erkennungsmerkmal der echten Liebe zu Gott ist, denn „wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht“ (1 Joh 4, 20).

Der heilige Josefmaria hat uns gezeigt, daß diese Sorge sich nur als echt und wirksam erweist, wenn man das eigene Ich hintanstellt, da erst die innere Freiheit es möglich macht, die Nöte, Freuden und Leiden unserer Mitmenschen aufzunehmen und zu den unseren zu machen. Das gilt vor allem in Bezug auf diejenigen, die uns aufgrund einer gemeinsamen Berufung, durch verwandtschaftliche, berufliche u.a. Beziehungen nahestehen. Vielleicht kommt Dir der Ausruf aus der Spur des Sämanns auf die Lippen: Es ist so schwer! Dann denke an die Antwort des heiligen Josefmaria und bemühe Dich, sie in die Tat umzusetzen: Hör zu: Die Gnade Gottes genügt, wenn du kämpfst. Dann wirst du von deinen persönlichen Interessen absehen, den Mitmenschen um Gottes willen dienen und der Kirche auf den Schlachtfeldern von heute beistehen: auf der Straße, in der Fabrikhalle, in der Werkstatt, an der Universität, im Büro - in deiner Umwelt, mitten unter den Deinen (Hl. Josefmaria, „Die Spur des Sämanns“, Nr. 14).

Benedikt XVI. weist darauf hin, daß Liebe zu Beginn oft ein Motiv der Eigenliebe, des Wunsches nach Selbstverwirklichung oder sogar des persönlichen Gewinns einschließen kann. Daher müssen ihre Beweggründe gereinigt werden, sie verlangen einen Weg des Aufstiegs, der Verzichte, der Reinigungen und Heilungen (Benedikt XVI., Enzyklika „Deus caritas est“, 25.10.2005, Nr. 5). Nur so wird die anfängliche, noch unvollkommene Liebe nach und nach mit der uneigennützigen Liebe der Selbsthingabe verschmelzen können, die sich selbst vergißt, da sie ein Widerschein der Liebe Christi zu den Menschen ist. „Wenn Jesus in seinen Gleichnissen von dem Hirten spricht, der dem verlorenen Schaf nachgeht, von der Frau, die die Drachme sucht, von dem Vater, der auf den verlorenen Sohn zugeht und ihn umarmt, dann sind dies alles nicht nur Worte, sondern Auslegungen seines eigenen Seins und Tuns. In seinem Tod am Kreuz vollzieht sich jene Wende Gottes gegen sich selbst, in der er sich verschenkt, um den Menschen wieder aufzuheben und zu retten - Liebe in ihrer radikalsten Form“ (Ebd. Nr. 12). Der heilige Josefmaria hat uns gelehrt, auf das Kreuz zu schauen: Jesus am Kreuz, sein Herz durchbohrt aus Liebe zu den Menschen: das ist die deutliche Antwort - Worte sind hier überflüssig auf die Frage nach dem Wert der Dinge und der Menschen. Soviel sind die Menschen, ihr Leben und ihr Glück wert, daß der Sohn Gottes sich selbst hingibt, um sie zu erlösen, sie zu läutern, sie aufzurichten. (Hl. Josefmaria, „Christus begegnen“, Nr. 165).

In den verbleibenden Wochen bis zum Hochfest des hl. Josef kann uns die Betrachtung seiner Schmerzen und Freuden an die Aufgabe erinnern, in allem, was wir tun, mit ungebrochener Loyalität zu handeln. Bittet den heiligen Josefmaria, er möge in die Seele eines jeden -einer jeden - von uns das „psychologische Vorurteil" einprägen, immer an Gott und an die anderen zu denken, denn wir sind nie allein. Der Heilige Patriarch möge uns lehren, froh und dienstbereit zu sein, den Willen Gottes in Liebe anzunehmen und allen Menschen mit feinfühliger Liebe zu begegnen.

In Liebe segnet Euch

Euer Vater

+ Javier

Rom, 1. März 2006