Betrachtungstext: 31. Woche im Jahreskreis – Mittwoch

Alles für Christus hingeben, ist ein Geschenk – Zuerst die erhaltenen Gaben bedenken – Die Frucht des Kreuztragens

IM Evangelium der heutigen Messe sagt Jesus einige Worte, die uns überraschen können: Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet (wörtlich „hasst“), dann kann er nicht mein Jünger sein (Lk 14,26). Im Alten Testament stehen die Ausdrücke „lieben und hassen“ oft für eine Präferenz oder Priorität. So werden diese Worte etwa verwendet, um auszudrücken, dass Jakob Rahel liebte und Lea weniger beachtete (vgl. Gen 29,30) oder dass der Herr Jakob erwählte und Esau zurücksetzte (vgl. Röm 9,13). Somit macht uns Jesus hier also deutlich, dass die Nachfolge in seiner Liebe über allem anderen stehen soll. Wie ein Kirchenvater schrieb: „Wir sollen alle lieben – Verwandte wie Fremde –, jedoch ohne uns um ihretwillen von der Liebe Gottes zu entfernen.“1 

Jesu Forderung, alle anderen Lieben zurückzustellen, ist in Wirklichkeit ein Geschenk. Denn er möchte das Größte mit uns teilen, das er hat: die wahre, bedingungslose Liebe. Und damit wir diese Liebe annehmen können, müssen wir frei werden. Dann aber geschieht das Überraschende: Alle irdischen Dinge erhalten ihr angemessenes Gewicht und ihren Platz in unserem Leben. An anderer Stelle sagt Jesus: Amen, ich sage euch: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen. Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser und Brüder, Schwestern und Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben (Mk 10,29-30).


NACHDEM Jesus zur vollkommenen Hingabe aufgerufen hat, erzählt er zwei kurze Gleichnisse. Das erste handelt von einem Mann, der einen Turm bauen möchte, vorher aber berechnet, ob sein Geld für das Vorhaben reicht. Das zweite dreht sich um einen König, der in einen Krieg ziehen will, vorher aber überlegt, ob er mit seinen Soldaten überhaupt siegen kann. Es überrascht, dass Jesus von Berechnungen und Abwägungen spricht, kurz nachdem er dazu aufgerufen hat, alles hinzugeben.

Er möchte uns zum Nachdenken anregen. Denn wahre Selbsthingabe entsteht immer erst aus der aufmerksamen Betrachtung einer vorausgegangenen Gabe; in Wahrheit wird sogar die Selbsthingabe im Stillen von Gott angestoßen, auch wenn es so aussieht, als würden wir sie aus eigener Kraft umsetzen.

In der Nacht vor seinem Leiden leitete Jesus sein Erlösungsopfer mit den Worten ein: Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es von mir aus hin (Joh 10,18). Um keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, verkündet er inmitten eines frohen Gastmahls, dass er sein Leben hinschenken will: Mit großer Sehnsucht habe ich danach verlangt, vor meinem Leiden dieses Paschamahl mit euch zu essen (Lk 22,15). Die Hingabe entspringt der Dankbarkeit für ein großes, unentgeltlich erhaltenes Geschenk. Jesus dankt seinem Vater für all das Gute, das er über die Welt ausgießen wird, und bekennt, glücklich zu sein, an der Erlösung der Menschheit teilhaben zu können. Nur so entsteht eine Hingabe ohne Berechnung und Maß.

Wenn wir einen himmelhohen Turm bauen wollen oder die Schlacht unseres Lebens gewinnen möchten, müssen wir also zuerst überlegen, welche Mittel oder Kräfte wir besitzen. An guten Absichten oder Wünschen fehlt es nicht. Die wertvollste Kraft und das wichtigste Mittel, das uns zur Verfügung steht, ist aber dieses: der Ruf des Herrn und er selbst.

Wer Gott in seinem Streben nach einem glücklichen Leben als Konkurrent betrachtet, wird seine Einladung leicht als Verlust empfinden. Wer entdeckt, dass Gott auf seiner Seite steht, wird bereit sein, zu bauen oder zu kämpfen, wo es nötig ist.


DIE ZWEI Beispiele stimmen in einem interessanten Punkt überein: Vor einer wichtigen Entscheidung soll man sich „hinsetzen“. Ob es darum geht, einen Turm zu bauen oder in die Schlacht zu ziehen, beide Entscheidungen sollten im Sitzen getroffen werden. Sich hinsetzen, um zu überlegen, ob wir den Turm erfolgreich errichten oder die Schlacht gewinnen können, bedeutet, nach innen zu schauen. Wir müssen schauen, ob unser Vertrauen primär auf Gott gerichtet ist oder ob wir auf unsere Kräfte bauen oder die Dinge mit weltlicher Schlauheit lösen wollen. Dieser innere Kampf ist entscheidend, um Christus großmütig zu folgen.

Davon ist niemand ausgenommen. Papst Franziskus wies darauf hin, „dass es einen tieferen Krieg gibt, in den wir ziehen müssen, alle! Es handelt sich um die starke und mutige Entscheidung, auf das Böse und dessen Versuchungen zu verzichten und das Gute zu wählen, bereit, persönlich dafür einzustehen: Das heißt, Christus nachzufolgen, das heißt, sein Kreuz zu tragen!“2

Der heilige Franz von Sales rät, in diesem Kampf auch die kleinen Mühen des Alltags nicht gering zu schätzen: „Die kleinen Leiden in Liebe angenommen und ertragen, erfreuen die göttliche Güte, die für einen einzigen Becher Wasser das Meer der Seligkeit versprochen hat. Da sich solche Gelegenheiten häufig bieten, können wir, wenn wir sie gut nützen, große geistliche Reichtümer aufhäufen.“3 Vor einem Segen mit dem Lignum Crucis sagte der heilige Josefmaria zu den Anwesenden: „Nach dem Segen werden wir das Kreuz küssen und dabei aufrichtig sagen, dass wir es lieben. Denn wir sehen im Kreuz nicht mehr, was es uns kostet oder kosten könnte, sondern die Freude, uns hingeben zu können, indem wir uns von allem lösen, um die ganze Liebe Gottes zu finden.“4

Maria stand am Fuße des Kreuzes und legte alles, auch ihren Sohn, in Gottes Hände. Vielleicht stieg in ihrem Herzen Dankbarkeit auf, als sie sah, was Gott für die Menschen tut und wie sehr er uns liebt, auch wenn dies bedeutete, dass sie Jesus hergeben musste. Doch inmitten der Finsternis des Leidens und des Todes ihres Sohnes hoffte sie auf seine Auferstehung, auf den Sieg der Liebe Gottes.5


1 Hl. Gregor der Große, Predigten über die Evangelien, 37,3.

2 Franziskus, Angelus-Gebet, 8.9.2013.

3 Hl. Franz von Sales, Anleitung zum frommen Leben (Philothea), III, 35.

4 Hl. Josefmaria, Worte vom 14.9.1969, zitiert in Javier Echevarría, Memoria del Beato Josemaría Escrivá, Rialp, Madrid 2000, S. 217.

5 Vgl. Franziskus, Audienz, 1.3.2017.