Gott könnte das modernste Wesen sein

Der Münchener Religionsphilosoph Rémi Brague fragt nach Gott in der Moderne – Anknüpfungspunkte gibt es zuhauf

München (DT) Welchen Gott braucht die Moderne? Darüber dachte am Montagabend der Münchener Religionsphilosoph Rémi Brague nach. Im Bildungszentrum Weidenau des Opus Dei in München führte er aus, dass das jeweilige Erkenntnisinteresse, das die Frage nach Gott motiviere, einen bestimmten Aspekt seines Wesens freilege. Wer etwa nach der Erkennbarkeit der Welt frage, der werde nicht beim Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs landen, sondern beim Gott der Philosophen. Diese Unterscheidung Pascals müsse aber nicht als Opposition gedacht werden. Den nach Erkenntnis suchenden Philosophen interessierten schlicht andere Eigenschaften des göttlichen Wesens als den Frommen. Sie sprechen aber immer von demselben Gott. „Daher würde ich für eine pragmatische Auffassung Gottes plädieren“, so Brague.

Was aber ist die Moderne? Eine Antwort darauf sei streng genommen erst dann möglich, wenn sie abgeschlossen sei. Neben ihren bisher zu Tage getretenen Kennzeichen wie der Entzauberung der Welt, der Rationalisierung der Lebensverhältnisse und einer allgemeinen Zivilisierung und Humanisierung etwa des Rechts und der Strafen sei es vor allem das Projekt der Selbstbestimmung und der Eroberung der Natur. Dieses sei indes erst im 19. Jahrhundert in den Versuch gemündet, ohne Gott auszukommen oder ihn gar zu ersetzen.

Freiheit sei demnach das Signum der Neuzeit und gebe ihr die Richtung und die Themen ihrer geistigen Suche vor. So sei die Vereinbarkeit der Freiheit des Individuums mit der gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung das Thema der politischen Philosophie schlechthin. Sie habe aber auch die Sicht des Menschen auf sich selbst verändert. So sah die Antike im Logos, in der Vernunft des Menschen die spezifische Differenz begründet, die ihn von anderen Wesen unterscheide. Die Freiheitsidee sei im Begriff des animal rationale immer schon mitgedacht und nur ausnahmsweise thematisiert worden. Anders die Neuzeit. Rousseau etwa identifizierte in der Freiheit des Menschen sein eigentlich Unterscheidendes. In seiner Folge dachten Kant, Fichte und Hegel.

Hier könnte und müsste die Frage nach Gott nun ansetzen, wenn nicht ein begrenzter Wissenschaftsbegriff der neuzeitlichen Naturwissenschaft Einwände dagegen erhöbe und die Gottesidee an sich für überflüssig abtäte. Denn die Naturwissenschaften erklärten die natürlichen Phänomene besser als die Annahme eines göttlichen Willens dahinter. „Es ist ein Missverständnis, dass das Göttliche dazu dient, Phänomene zu erklären“, wandte Brague dagegen ein. Der olympische Zeus etwa oder der kanaanitische Baal könnten zwar als Erklärung für das Gewitter dienen. Aber selbst das antike Pantheon ging über die bloße Naturerklärung hinaus. „Die lässt jede Menge Götter arbeitslos“, gab Brague zu bedenken, denn „was erklärt Hermes?“ Brague drehte den Spieß deshalb um und behauptete, dass die Naturwissenschaften die Phänomene nicht nur nicht besser als die Annahme Gottes erklärten, sondern gar nichts erklärten – vorausgesetzt, dass man unter erklären die Frage nach Sinn und Grund versteht. „Die Naturwissenschaften beschreiben mathematische Gesetzmäßigkeiten, und das spektakulär erfolgreich. Darüber hinaus aber sind sie total uninteressant.“ Denn sie erteilten keine Auskunft darüber, wer wir sind und was wir tun sollen. „Das Dasein Gottes aber geht uns an, weil in ihm das Geheimnis unseres Seins liegt.“ Anders als etwa das Fallgesetz könne man Gottes Existenz nicht einfach nur zur Kenntnis nehmen. „Gott ruft unsere Freiheit an.“

In der Frage nach Gott wird also der innerste Impuls der Moderne aufgegriffen. „Gott könnte das modernste Wesen sein.“ Er befreie die Freiheit. In der Antike habe er Götzendienst und die Anbetung der Naturmächte überwunden, die die Menschen versklavten. Heute könne der Gottesglaube von Selbstverstrickung und zerstörerischer Selbstermächtigung erlösen. Denn die Richtung der Selbstbestimmung sei offen. Das habe schon das Buch Deuteronomium gewusst, wo Gott sein Volk zwischen Leben und Tod wählen lässt.

Aufgrund des technischen Fortschritts stehe auch die heutige Menschheit vor dieser Wahl. „Mit der Moderne hält die Menschheit ihr Schicksal in eigenen Händen.“ Die Moderne ist deshalb an einem Punkt angekommen, wo sie der ultimativen Begründung ihres Daseins bedarf, wenn sie sich nicht selbst zerstören wolle. Es wird nach der Legitimität des Menschlichen schlechthin gefragt. „Erst wenn der Mensch von einer höheren Instanz bejaht wird, darf er weiterleben.“ Gott oder der Frage nach ihm könnte also noch eine große Zukunft bevorstehen.

von Oliver Maksan // Die Tagespost