Inguschetien, Winter 2000. Ein ausrangierter Güterzug auf einem Abstellgleis mitten in der kaukasischen Steppe. Dicke Eiszapfen hängen zwischen den Rädern herab. Nur wenige Abteile sind mit Decken verhängt, durch die gesprungenen Fenster zieht der eisige Wind. Seit Monaten leben hier Hunderte Menschen, zusammengepfercht auf engstem Raum. Sie sind aus der benachbarten Republik Tschetschenien vor dem Bürgerkrieg geflohen. Mehr als 200.000 Flüchtlinge sind seit Ausbruch des Krieges vor sechs Jahren in die nur 300.000 Einwohner zählende kleine russische Teilrepublik geströmt. Inguschetien platzt aus allen Nähten. Für viele Flüchtlinge gibt es kein Zurück.
Wir nähern uns Karabulak im Nordkaukasus. Diesmal begleiten uns mehrere Journalisten zu den Flüchtlingswaggons. Das österreichische Fernsehen ist auch dabei. Ein wenig mediales Echo für das stille Leid dieser Menschen abseits jeglicher Schlagzeilen tut gut. Die materiellen Hilfsgüter, mit denen das »Hilfswerk Austria« die Menschen hier unterstützt, sind dringend nötig. Noch wichtiger aber sind die Gespräche mit den Betroffenen, in denen sie ihre Sorgen, aber auch Wünsche und Pläne mitteilen können. Wer helfen will, muß zuhören können.
Wir treffen auf Luba, früher Mathematikprofessorin in Grosny und selbst Mutter von vier Kindern. Seit sie mit konkreten Hilfestellungen unserer Organisation rechnen kann, hat sie wieder Hoffnung geschöpft. Luba erlebt hier wie viele andere bereits den zweiten Lagerwinter. Von Resignation ist bei ihr aber nichts zu spüren. Die Hoffnung gibt ihr Kraft, das im Augenblick Mögliche anzupacken. Sie erzählt von der provisorischen Schule, die sie gemeinsam mit anderen Frauen für die Kinder des Lagers mit großem persönlichen Einsatz begonnen hat. Und auch die kleine Bäckerei, die von den Flüchtlingen selbst betrieben wird, funktioniert schon, sagt sie voll Stolz und bedankt sich für die Hilfsgelder, die all das mitermöglicht haben. Mitten im Gespräch wird sie plötzlich nachdenklich und sieht mich ruhig an: »Wissen Sie, seit Sie hier sind, kann ich wieder an Gott glauben.« Oft erinnere ich mich an diese Worte, mit denen sie mich beglückt und irgendwie auch beschämt hat. Die Zuwendung Gottes wurde für sie dank menschlicher Hilfe spürbar.
Daß die Erfahrung von Schmerz und Leid und eine innige Beziehung zu Gott sehr nahe beieinander liegen können, hatte ich als junge Schülerin zum ersten Mal im Jahre 1963 bewußt erlebt. Durch meinen älteren Bruder hatte ich Kontakt zum Opus Dei bekommen. Es vergingen keine drei Monate, bis mich eine der Studentinnen, die ich im ersten und damals einzigen Zentrum des Werkes in Wien kennengelernt hatte, dazu einlud, mit ihr eine ältere, kranke Frau zu besuchen, die alleine lebte und kaum von irgend jemandem besucht wurde. Die Adresse hatte sie von einem Pfarrer bekommen. Die Idee gefiel mir, und ich kaufte einen hübschen Blumenstrauß, mit dem wir der Dame eine kleine Freude machen wollten. Später erst erfuhr ich, daß diese »Armenbesuche« einer langen Tradition im Werk entsprachen, deren Wurzeln bis in die Gründungsjahre des Opus Dei zurückreichten. Doch dazu später.
Die Dame freute sich sehr über unseren Besuch, der ihr Alleinsein zumindest für einige Stunden überbrückte. Wir führten ein angeregtes Gespräch. Trotz altersbedingter Beschwerlichkeiten und physischer Schmerzen war sie doch nicht verhärmt oder gar verbittert. Im Gegenteil: Sie strahlte Frieden aus und hatte sich eine Portion Humor bewahrt. Ein Kommentar von ihr hat mich damals sehr bewegt, er ist mir bis heute geblieben: »Man kann Gott alles aufopfern, sogar das Wimpernzucken!«, sagte sie mit einem Lächeln. Ihre Leiden, so schien es, hatten sie nicht gebrochen, sondern im Gegenteil aufgerichtet, zu einer tieferen Gottesbeziehung geführt.
Es gibt kein Leben ohne Leiden – eine Binsenweisheit, die keine Erfindung des Christentums ist. Die Frage nach dem Umgang mit persönlichem und fremdem Leid hat schon die antiken Philosophen stark beschäftigt. Nur die Antworten waren verschieden, wie Heinrich Böll in einem Statement verdeutlichte: »Selbst die allerschlechteste christliche Welt würde ich der besten heidnischen vorziehen, weil es in einer christlichen Welt Raum gibt für die, denen keine heidnische Welt je Raum gab: Für die Behinderten, für die Krüppel und für die Kranken, für die Alten und Schwachen: und noch mehr als Raum gab sie die Liebe für die, die der heidnischen wie der gottlosen Welt nutzlos erschienen und erscheinen.«
In unserer hedonistisch geprägten Gesellschaft, die uns ein leidfreies, immer aktives, ewig junges, erfolgreiches Leben als Ideal vorgibt, ist es nicht leicht, dem Leiden einen positiven Aspekt abzugewinnen. Die Frage, ob Leiden einen Sinn habe, klingt in manchen Ohren schon als Zynismus. Durch Krankheit oder Alter ans Bett gefesselt zu sein und trotzdem sinnvoll, ja vielleicht sogar gerne leben, wie diese liebenswürdige, gebrechliche Frau, die sich mir ins Gedächtnis geschrieben hat, paßt nicht in das Bild der Spaßgesellschaft. Das Paradoxe dabei ist: je weniger jemand seelisch dafür gerüstet ist, daß das Unvorhergesehene, das vielleicht Unabwendbare seine Pläne durchkreuzt, desto mehr wird er sich dagegen sperren, wenn es eintrifft. Die Gefahr, daß wir an den realen Gegebenheiten unserer menschlichen Existenz vorbeileben, solange es uns gut geht, ist groß. »Die Macht, an der alles Gewollte zerbricht, ist das Leid«, schrieb Reinhold Schneider knapp vor seinem Tod. Im Leid holt uns ein Stück Wirklichkeit ein. Es steht nämlich nicht in unserer Macht, Leid unter allen Umständen von uns oder anderen ein für allemal abwenden zu können. Liegt nicht gerade darin aber auch die Chance, die Aufgabe, die es zu entdecken gilt?
Wer davor die Augen verschließt, kann angesichts des Leidens nur zwei Haltungen einnehmen: entweder setzt er sich zynisch darüber hinweg oder er bekämpft es als fanatischer Utopist – beides Haltungen, die der christlichen Gesinnung diametral widersprechen. Der Christ läßt sich auf die Not des anderen ein, um zu lindern, zu helfen, zu trösten, aufzurichten, um Eigenleistung zu aktivieren, wo es nur geht. Das sind nicht nur legitime Ziele einer Hilfsorganisation, sondern direkte Folgerungen aus dem Gebot der Nächstenliebe. In all seinem Tun weiß der Christ aber zugleich, daß das bewußte Annehmen des Kreuzes Fundament für Veränderung ist. Gelassenheit und Geduld, ja sogar Heiterkeit im Tragen leidvoller Situationen sind charakteristisch für einen gottverbundenen Menschen. Kein Wunder, daß selbst jüngste Statistiken zeigen, daß religiöse Menschen bei unheilbarer Krankheit mit einem auffallend starken Lebenswillen reagieren – und doch friedlicher sterben als andere.
Der selige Josemaría Escrivá war in seiner priesterlichen Arbeit zutiefst von dieser christlichen Haltung gegenüber dem Leidenden geprägt, weshalb die Sorge um die Armen und Kranken bis heute wichtiger Bestandteil der Arbeit der Mitglieder des Opus Dei ist, sei es nun im kleinen persönlichen Umfeld oder auf professioneller Ebene.
Dazu gehört zunächst einmal, sich selbst bei der Nase zu nehmen, um aus Dingen, die uns quergehen, die aber im Grunde Lappalien sind, keinen Elefanten zu machen: »Im Alltagsleben müssen wir viel von uns fordern, damit wir uns nicht bei falschen Sorgen und künstlichen Bedürfnissen aufhalten, die wir uns selbst erfinden; sie stammen meist aus Einbildung, Launenhaftigkeit, Bequemlichkeit und aus der Trägheit des Geistes. Wir sollen schnellen Schrittes Gott entgegengehen, und dazu ist es nötig, hinderlichen Ballast abzuwerfen«, forderte der Selige die Gläubigen in einer Fastenpredigt auf. Escrivá hat Tausende Christen, die mitten in Beruf und Familie stehen, damit angesteckt, ihre Augen für das Leid des Nächsten zu öffnen – und nach Lösungen zu suchen. Ein historischer Rückblick auf das Leben des Seligen und die ersten Jahre des Werkes zeigt deutlich, daß das kein Zufall ist. Wo Gott die Fundamente einer apostolischen Arbeit tief legen will, schult er seine »Instrumente« durch die Erfahrung des Leides.
Zwei Jahre nach seiner Priesterweihe im Jahr 1925 übersiedelte der damals 25jährige Josemaría nach Madrid, wo er, abgesehen von seiner Dozententätigkeit und dem beharrlichen Weiterarbeiten an seiner rechtswissenschaftlichen Dissertation Stunden über Stunden in den Krankenhäusern und Vorstadtslums der stark angewachsenen Hauptstadt verbrachte. Hier in Madrid in den Jahren 1927/28 bereitet Gott die »Geburt« des Opus Dei gezielt vor, indem er den jungen Seelsorger, der durch seine Liebenswürdigkeit und seinen rastlosen Einsatz für die Seelen auffiel, die extreme Not der Menschen kennenlernen ließ. »Ich suchte die Kraft in den ärmsten Vierteln Madrids«, berichtete Escrivá später, »ich war täglich viele Stunden zu Fuß von einem Ort zum anderen unterwegs, bei Verarmten, die sich ihrer Armut schämten, bei Verelendeten, die nichts hatten, überhaupt nichts, bei Kindern, mit Rotznasen und vor Dreck stehend, aber eben Kinder, das heißt, Gott wohlgefällige Seelen.« Ihm war deutlich, daß die Bewältigung der ihm noch unbekannten Aufgabe im Dienste der Kirche, die Gott von ihm erwartete, alle seine Kräfte in Anspruch nehmen würde. Deshalb bedurfte er dringend des Gebetes jener, die Gott sehr nahe waren: der Ärmsten der Armen, der Kranken und Sterbenden, der Kinder. Sie, um die er sich liebevoll und aufopfernd sorgte, bat er um ihr Gebet und die Aufopferung ihrer Schmerzen für sein »besonderes Anliegen«. Sie sollten die Grundmauern des Werkes legen, zu »Geburtshelfern« (Berglar) des Opus Dei werden, das am 2. Oktober 1928 zur Welt kam. Wobei hinzuzufügen ist, daß Not für den frisch geweihten Priester kein Fremdwort war. Gott hatte ihn früh in die Schule des Leidens eingeführt.
Als kleiner Junge erlebte Josemaría mit, wie seine drei jüngeren Schwestern innerhalb weniger Jahre starben. Er erfuhr auch, was es hieß, von Heute auf Morgen alles Hab und Gut zu verlieren: das kleine Unternehmen seines Vaters, der sich weigerte, krumme Geschäftstouren mitzumachen, ging bankrott. Damit war der Familie Escrivá ihr materieller Existenzboden unter den Füßen weggezogen, mit all den damit verbundenen gesellschaftlichen Demütigungen. In Dankbarkeit erinnerte sich der Gründer des Werkes an das Beispiel seiner Eltern, die trotz dieser Schicksalsschläge ihre tief christliche und menschliche Haltung bewahrten.
Dieses »helle, fröhliche Zuhause« inmitten aller Schwierigkeiten, wie er es später kennzeichnete, gab ihm die christliche Rückenstütze mit, um, statt an der Not zu verzweifeln oder sie bloß zu ertragen, sie als liebenswertes Kreuz, als väterlichen Willen Gottes anzunehmen und auch anderen diese tiefere, erlösende Dimension näherzubringen. Seine Ratschläge haben nichts Improvisiertes an sich, sie tragen die Züge des persönlich Durchlebten: »Die Bereitschaft, Krankheit oder Unglück – falls Gott sie fügt – freudig zu tragen, erfordert eine Vorbereitung schon von langer Hand, indem man jeden Tag losgelöst lebt vom eigenen Ich. Macht euch hierfür die alltäglichen Anlässe zunutze: die kleine Entbehrung, den normalen, unbedeutenden Schmerz, die Abtötung. Und übt euch dabei in den christlichen Tugenden.«
Zurück nach Madrid ins Jahr 1927. Als Kaplan der Patronatskirche am Krankenstift der »Damas Apostólicas vom Heiligsten Herzen Jesu« gehörte es zu den Amtspflichten des Seelsorgers, den liturgischen Akten der Kongregation vorzustehen: täglich die heilige Messe zu feiern sowie die Zeit der Anbetung des Allerheiligsten und das Rosenkranzgebet abzuhalten. Daß sich Josemaría Escrivá darüber hinaus in seiner Freizeit aufopfernd für die vom Patronat betreuten Armen und Kranken einsetzte und auch andere Diözesanpriester für diese Arbeit zu gewinnen suchte, schrieben die Nonnen seinem großen Herzen zu – seinem priesterlichen Herzen, das in diesen menschlichen Kreaturen den Erlöser erkannte: den leidenden Christus, Christus am Kreuz, »der nach uns fragt«.
Bei den Zahlen aus dem Tätigkeitsbericht der Stiftung des Jahres 1927 wird einem beinahe schwindlig, wenn man bedenkt, daß das Hauptgewicht der seelsorgerischen Arbeit des Patronats auf dem jungen Josemaría lastete. In einem Jahr wurden rund 5000 Krankenbesuche gemacht, mehr als 3000 Beichten abgenommen und ebenso viele Kommunionen gespendet, rund 1100 Paare schlossen den Bund der Ehe, mehr als 100 Kinder wurden getauft. Darüber hinaus, so erzählte Schwester Asunción Muñoz, die Josemaría Escrivá 1927 kennenlernte, ging der junge Priester in viele der 58 Schulen, die vom Patronat aus betrieben wurden, und half beim Katechismusunterricht von 12.000 Kindern, von denen jährlich 4000 zur Erstkommunion gingen. »Dort unterrichtete er die Kinder, plauderte freundschaftlich mit jedem einzelnen und setzte sein ganzes sympathisches Wesen und all seine apostolische Energie dafür ein, daß die Herzen dieser Kinder Jesus kennen- und lieben lernten,« so die Nonne.
Es war also keine Übertreibung, als der Gründer des Werkes etliche Jahre später, als er in einem Beisammensein mit Ehepaaren ein Plädoyer für die Kinderbeichte hielt, bekannte, er habe »Tausende Stunden« lang Beichten von Kindern gehört.
Hin und wieder werde ich selbst bei meiner Arbeit gefragt, wie man es auf Dauer überhaupt aushalten kann, mit dem Leid so vieler Menschen konfrontiert zu werden. Manche Situationen scheinen ausweglos, man weiß, daß man nicht alle Probleme lösen kann. Bis Kommunikationsprobleme, behördliche Schikanen und finanzielle Engpässe endlich überwunden sind, können Wochen vergehen … woher nimmt man die Kraft, um weiterzumachen?
Mir hat das Beispiel des seligen Josemaría in dieser Hinsicht sehr viel Auftrieb für meine Arbeit gegeben. Auch wenn er es täglich mit Hunderten Menschen zu tun hatte, ist er auf jeden einzelnen zugegangen, um sich seiner Sorgen und Probleme anzunehmen und zuzuhören. Jeder Mensch war ihm wichtig, weil sein lebendiger Glaube ihn dazu führte, in jedem Menschen Christus zu sehen: »Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr mir getan«. Dort, wo sich jemand bemüht, Christus ins Zentrum seines Lebens zu rücken, gerät – beinahe automatisch – der andere, der Nächste in den Mittelpunkt. Für Gott gibt es keine Masse, Gott kann nur bis Eins zählen.
Eine andere Quelle der Kraft ist der Glaube an das Gute im Nächsten. Sicherlich: es gibt Momente, wenn einem die Hoffnungslosigkeit einzelner tragischer Menschenschicksale entgegenschlägt, in denen die ehrlichste Lösung darin besteht, nichts zu machen, zuzuhören und einfach mitzuweinen. Aber dann kommt die Aufgabe, den Menschen zu helfen, daß sie ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Realistisch sein heißt, einen Ansatz zu finden, der Perspektiven eröffnet. Auch hier gilt das Prinzip: Eins und Eins ist Zwei. Man muß einzelne Menschen entdecken, die nicht mehr korrupt sein wollen, die besser werden wollen, die daran glauben, daß in ihnen etwas steckt, und in sie investieren. So kann man nach und nach kleine, gesunde Flächen schaffen, die ausstrahlen. Die ganze Welt kann man nicht verändern, aber immer, wenn man etwas gut macht, hat das eine Wirkung. Ohne diese Überzeugung dürfte man gar nicht beginnen.
Für jede berufliche Arbeit ist entscheidend, welches Menschenbild ihr zugrunde liegt. Das gilt natürlich auch und besonders für den Sektor der humanitären Hilfe. Mit großer Begeisterung habe ich immer wieder festgestellt, wie sehr die Prinzipien der christlichen Soziallehre – insbesondere das der Subsidiarität – »greifen«. Auch hier war mir der Gründer des Opus Dei mit seiner direkten und praktischen Sprache oft ein Wegweiser, wenn er sagte, daß man alles dazu tun müsse, um die Leute auf die eigenen Beine zu stellen. Wie die Praxis zeigt, ist dies einfacher gesagt ist als getan. Man muß nämlich konsequent auf das Ziel hinarbeiten, sich selbst überflüssig zu machen. Der Selige faßte diese Einstellung des Dienens mit den Worten »tun und verschwinden« zusammen. Die Tendenz geht eher in eine andere Richtung. Von Seiten der Helfenden besteht die Gefahr, Helfen nur als einseitigen Akt des Gebens zu verstehen, so, als ob der an materieller oder seelischer Not Leidende selbst nichts zu geben hätte. Das führt dazu, den Bedürftigen mit materiellen oder technischen Hilfeleistungen nach eigener Façon abzuspeisen, ja vielleicht sogar damit zu überschütten, ohne aber mit seiner Eigenleistung zu rechnen. Er bleibt und er fühlt sich weiterhin als Abhängiger.
Von seiten der unmittelbar betroffenen Umgebung wiederum (Familie, Angehörige, Nachbarn …) besteht die Gefahr, daß die traditionellen Werke der Barmherzigkeit nur noch an jene Menschen delegiert werden, die eine soziale Ader haben und das Helfen zu ihrem Beruf gemacht haben. Sie ziehen sich damit mehr oder weniger elegant aus ihrer Eigenverantwortung. Wie und wo kann man nun Leute motivieren, ihren eigenen Verantwortungsbereich zu übernehmen? Wie kann man zum Katalysator für die Ressourcen der Menschen werden?
Genau da setzt der Punkt unserer Arbeitsphilosophie an. Sicherlich, moderne Dienstleistungsunternehmen am humanitären Sektor arbeiten heute anders als vor 150 Jahren. Ohne neueste Technologien und die nötige Publicity könnten auch sie nicht überleben. Aber man darf nie vergessen, daß das »Produkt«, das man verkauft, ein humanitäres ist, daß also der Mensch im Mittelpunkt steht.
Technische Lösungen sind nicht mehr als ein Schuhlöffel, damit andere auf die Idee kommen, wie sie selbst ihre Situation verbessern können. Der Schulunterricht im Flüchtlingsgüterzug mitten in der trostlosen kaukasischen Steppe ist ein klares Beispiel dafür, wozu Menschen fähig sind, wenn sie motiviert sind.
Escrivá glaubte an Lösungen, und zwar an solche, die nicht von oben herab, sondern von unten hinauf erarbeitet wurden, Schulter an Schulter mit den Betroffenen, absichtslos von seiten der Helfenden. »Para servir, servir« war eine Redewendung und ein Wortspiel, das er oft und gerne gebrauchte. Um wirklich dienlich, nützlich zu sein, para servir, muß man taugen, servir, und das heißt: geben, sich hingeben, bereit sein, sich auf das Gegenüber ganz einzustellen, vom Podest des Besserwissers herabzusteigen und sich auf den Boden der Realität des anderen begeben. In der anderen Richtung gelesen, wollte er seinen geistlichen Kindern deutlich machen, daß der Christ nur dann etwas taugt, wenn er den anderen dient, jeder an seinem konkreten Platz in Familie, Beruf und Gesellschaft.
Zeit seines Lebens motivierte der Selige Menschen, Christen und Nicht-Christen, dort anzupacken und nach Lösungen zu suchen, wo nach menschlichem Ermessen noch lange nicht alles zur Linderung der Not getan wurde. Der Mensch kann keinen geistigen Aufschwung nehmen, ohne ein Minimum an Wohlstand.
An dieser Stelle sei mir eine kurze Zwischenbemerkung erlaubt.
Die »Option für die Armen« ist nach Kardinal Jaime Sin, Erzbischof von Manila, eines der prägenden Merkmale des Geistes des Werkes. Eine Charakteristik, die so gar nicht in die Klischeebilder jener zu passen scheint, die das Opus Dei nur vom Hörensagen kennen. Wer jedoch näher hinsieht, entdeckt zahlreiche soziale Einrichtungen, die schon zu Lebzeiten des Gründers und unter dessen Antrieb von Mitgliedern des Opus Dei in aller Welt ins Leben gerufen worden sind: das Centro Elis, eine Ausbildungsstätte für Lehrlinge, entstand 1965 mitten in einem Arbeiterbezirk Roms, dem Tiburtino, wo hohe Arbeitslosigkeit und Kriminalität auf der Tagesordnung standen. Tausende benachteiligte Jugendliche haben seither dort eine gediegene Ausbildung genossen und sich ins normale Berufsleben eingegliedert.
Acht Jahre zuvor standen Mitglieder des Werkes in Kenia vor ähnlichen Schwierigkeiten. Vierzig untereinander verfeindete Stämme, Rassenkämpfe und Armut waren Folgen des Mau-Mau-Krieges, der Zehntausende Tote gefordert hatte. Keiner der Einheimischen glaubte an das Projekt der Gründung eines Colleges, in dem mit gleichem Recht ein Sohn eines Masai-Priesters, eines indischen Kaufmanns und eines britischen Offiziers gemeinsam lernen würden. Der Traum wurde Wirklichkeit: das Strathmore-College, das 1961 seinen Betrieb aufnahm, war die erste Schule des Landes, in der es keine Rassen- und Stammestrennung gab. Heute zählt es zu den prestigeträchtigsten des Landes.
»Condoray«, eine Bildungseinrichtung für Indiofrauen in einer der ärmsten Gegenden an der peruanischen Küste in der Provinz Cañete, wurde vor 36 Jahren von einer Handvoll peruanischer Akademikerinnen gegründet, um sich für ein menschenwürdigeres Leben der Familien auf dem Land einzusetzen. Das Entwicklungsprogramm von »Condoray« ist den lokalen Umständen und Bedürfnissen der Frauen in diesem Landstrich angepaßt. 75% der Landbevölkerung leben in ärmlichen Lehmhütten, ohne Strom, ohne sanitäre Einrichtungen; 16,5% der Kinder unter einem Jahr sterben an den Folgen von Unterernährung oder Tuberkulose. Der Zugang zu höherer Bildung bleibt aufgrund des Analphabetismus vielen verschlossen. Condoray versucht in erster Linie, den Indio-Frauen grundlegende Bildung zu vermitteln. Rund 20.000 Frauen haben mittlerweile Lesen und Schreiben gelernt sowie an Kursen für Kochen, Nähen, Hygiene- und Ernährungslehre, Gesundheitsvorsorge und dem Aufbau für Kleinbetriebe teilgenommen. Bildung ist letztlich der Schlüssel, der aus der Armut herausführt. Derartige Initiativen gibt es mittlerweile zu hunderten auf allen fünf Kontinenten.
Die Werke der Barmherzigkeit, die Josemaría Escrivá selbst unternommen hatte, setzte er fort in der Bildung seiner geistlichen Kinder. So wie es später das Zweite Vatikanische Konzil forderte, sollten sie, die Christgläubigen mitten in der Welt, sich als Erstverantwortliche für die nötigen Verbesserungen der Lebensumstände ihrer Mitbürger einsetzen und entsprechende Initiativen in Gang bringen. Die Aufgabe der Bildung der Jugend durfte dabei nicht zu kurz kommen.
Die Jugend ist das Alter, in dem normalerweise die Weichenstellungen für das spätere Leben gesetzt werden. Nicht für jeden, den in diesem Alter gesellschaftliche Ungerechtigkeit betroffen macht oder den die Begegnung mit armen Menschen, Alten oder Behinderten zum Nachdenken bringt, endet sein beruflicher Weg im Sozialbereich. Darum ging es dem Gründer des Werkes auch nicht, als er Anfang der 30er Jahre seine »jungen Herrschaften«, Studenten, zumeist aus gutem Hause, die vor allem ihr Studium im Kopf hatten, aber auch Lehrlinge und Seminaristen in die Spitäler und Armenviertel Madrids mitnahm. Das war der Beginn der eingangs erwähnten »Armenbesuche«, die bis heute in der vom Geist des Werkes inspirierten Jugendarbeit gepflogen werden.
Ihre Arbeiten dort an einem Samstag nachmittag waren auch relativ unspektakulär: sie säuberten die Nachttöpfe und Spucknäpfe der Tuberkulosepatienten, schnitten den Kranken die Nägel, wuschen sie, machten ihnen die Betten und trösteten sie durch ihre menschliche Zuwendung. Normalerweise brachten sie den Kranken oder Familien in den Armenvierteln auch eine kleine Aufmerksamkeit mit, für die die Studenten untereinander Geld gesammelt hatten: Süßigkeiten oder einen Kuchen, Dinge, von denen die Ärmsten der Armen normalerweise nur träumen konnten. Der junge Weltpriester Josemaría hätte den jungen Leuten in einem Café Vorträge darüber halten können, wie sie sich als Christen um die Armen kümmern sollen. Er zog der Theorie die Praxis vor. Taten reichen weiter als Hunderte Worte. Um diese begabten Jugendlichen für das Elend so vieler Menschen wachzurütteln, wählte der Pädagoge Escrivá den Weg der persönlichen Begegnung mit dem Leid, während der Priester Escrivá gleichzeitig wußte, daß diese jungen Menschen in den Kranken Christus begegnen werden, der diesen besonders nahe ist. Seine Aufgabe war es, sie zu ihm hinzuführen.
Ich erinnere mich an das Zeugnis eines der ersten Mitglieder des Opus Dei aus dieser Zeit, José María Casciaro, der später Priester wurde. Mit seinen eigenen Augen das Leid dieser Menschen zu sehen, riß ihn und seine Kommilitonen, wie er sagte, aus ihrer »Unwissenheit« und ihrem »Egoismus« heraus. Bis dahin hatten sie es sich einfach gutgehen lassen. Dann war das Gewissen wachgerüttelt. Zwar spürten sie eine absolute Ohnmacht, diesen Menschen ihre Probleme zu erleichtern. Aber sie fühlten eine starke Solidarität mit ihnen und begannen als Konsequenz, bei sich selbst anzufangen: Maß zu halten bei persönlichen Ausgaben und kostspielige Freizeitvergnügungen einzuschränken. Und für so manchen löste so ein Besuch existentielle Fragen aus und führte zum Wunsch nach einer vertieften Gottesbeziehung. Jedenfalls, erzählte Casciaro, hatten diese »Armenbesuche« in ihnen den festen Wunsch ausgelöst, etwas für ihre Mitmenschen zu tun.
Casciaro, seinen Freunden und den Tausenden anderen jungen Leuten, die später ähnliche Besuche in Altersheimen oder Flüchtlingslagern, bei Einsamen und Ausgegrenzten in ihren Ländern unternahmen, war klar, daß es für sie als Studenten nicht um globale Lösungen ging. Wohl aber bekam jeder ein deutliches Gespür dafür, daß auch er Verantwortung für diese Menschen auf seinen Schultern trägt und daher seinen Beruf – auf welcher Ebene auch immer – wirksam in ihren Dienst stellen sollte. Mit den »Armenbesuchen« begann der selige Josemaría ein Projekt der »Revolution der individuellen Verantwortung«, wie Susanna Tamaro es formuliert: viele kleine Lichter, die nacheinander aufleuchten …
Leid formt, läßt den reifen, der es als Schule annimmt, und den, der sich ihm zuwendet. Das gehört wohl zu den tiefsten Erfahrungen: wenn man gibt, merkt man plötzlich, daß man selbst der Beschenkte ist.
Ich bin dem seligen Josemaría Escrivá, den ich persönlich kennenlernen durfte, sehr dankbar für das Beispiel christlicher Nächstenliebe, das er uns gegeben hat. Dankbar bin auch für die Begegnung mit all den notleidenden Menschen, die sich – bestimmt nicht ohne inneres Ringen und zum Teil aufreibendes äußeres Tun – in ihre Situation gefügt haben. Wer lernt, sich in widrige Umstände zu fügen (statt zu rebellieren), das Beste aus seiner Situation zu machen (statt zu resignieren) oder sein Mit-Leid für andere in tatkräftige Verantwortung zu verwandeln (statt wegzuschauen), den hat die Prüfung vorwärtsgebracht, menschlich reicher gemacht. Und er ist Christus ein Stück nähergekommen.
Aus dem Buch „Josemaría Escrivá - Profile einer Gründergestalt“, von César Ortiz (Hrsg.), Adamas Verlag, Köln 2002