Zeuge der Liebe

Leben und Worte des Papstes offenbaren eine tiefe Kohärenz, die ich kurz so zusammenfassen würde: Johannes Paul II. ist ein glaubwürdiger Zeuge der Liebe. Artikel von Bischof Javier Echevarría, publiziert in „La Vanguardia“ anlässlich der fünften Reise des Papstes nach Spanien.

Bischof Javier Echevarria, Prälat des Opus Dei

Wir müssen Johannes, dem jungen Apostel Jesu, dankbar sein, dass er uns am Schluss seines Evangeliums den bindenden Dialog zwischen dem auferstandenen Christus und Petrus berichtet hat, der sich am Ufer des Sees Tiberias nach dem wunderbaren Fischfang abspielte. Der Herr zündet ein Feuer an und bereitet etwas Fisch und Brot für die sieben Jünger zu, die eine anstrengende Nacht im Boot beim Fischfang verbracht haben. Dann nimmt er Petrus beiseite und fragt ihn dreimal, ob er ihn mehr liebe als die anderen. Auf die ersten zwei Fragen antortet Simon mit der einfachen Aussage, dass er ihn liebe. Beim dritten Mal wird er ein bisschen traurig und vervollständigt seine Antwort: “Herr, du weißt alles, du weißt, dass ich dich liebe.” Auf dieses Bekenntnis seiner Liebe antwortet Jesus, indem er Petrus den Auftrag anvertraut, die Seinen zu hüten.

Von diesem Augenblick an bis zum Ende der Geschichte ist der Auftrag der Nachfolger Petri an das große Paradoxon der menschlichen Existenz gebunden: wir wissen uns als Träger höchster Bestrebungen und gleichzeitig erfahren wir unsere persönliche Kleinheit und Schwäche. Gottes Sohn hat Petrus dreimal um das Bekenntnis seiner Liebe gebeten, denn nur mit dieser Liebe zum Meister werden die Nachfolger des galiläischen Fischers ihren Geschwistern dienen und sie bestärken können.

Die fünfte Reise Johannes Pauls II. nach Spanien ruft mir diese Seiten des Johannesevangeliums in Erinnerung. In unserer Epoche, in der ein großer technologischer Fortschritt im Gegensatz steht zu tiefen Zweifeln vor dem Geheimnis des menchlichen Seins, hört Johannes Paul nicht auf, die radikalste Dimension unserer Existenz aufleuchten zu lassen: die Berufung zur LIEBE. Ich schreibe dieses Wort mit Großbuchstaben nicht nur, weil es in erster Linie die Liebe Gottes bedeutet, sondern auch um seine Größe in all seinen edlen Ausdrucksformen zu betonen.

Glaubwürdiger Zeuge

Es gibt Menschen, die zum Ausdruck gebracht haben, dass sie es schwierig finden, die Kohärenz zwischen den verschiedenen Registern der Worte Johannes Pauls II. zu verstehen. In manchen Fällen fanden sie, dass die beiden Aspekte, nämlich seine klaren und eindeutigen Lehraussagen über Geburt, Abtreibung, Euthanasie, Achtung vor dem Leben und anderseits seine lauten Rufe nach Gerechtigkeit und sozialer Solidarität nicht übereinstimmten. Aber Leben und Wort des Papstes offenbaren eine tiefe Kohärenz, die ich kurz so zusammenfassen würde: Johannes Paul II. ist ein glaubwürdiger Zeuge der LIEBE.

Gott hat uns einen Nachfolger Petri geschenkt, der auch mit seiner priesterlichen Erfahrung und mit seiner literarischen und philosophischen Berufung dazu beigetragen hat, die Größe des göttlichen Rufs zur Liebe besser zu verstehen. In einem Klima des Mißtrauens und der Angst hat er uns eingeladen, die Schwelle der Hoffnung zu überschreiten und mit Gottes Hilfe eine großherzige, reine, sich verschenkende Liebe zu kultivieren. Er hat die Größe der ehelichen Verbindung hervorgehoben und dargelegt, dass sie ein Geschenk Gottes für die Liebe und für die Weitergabe des Lebens ist. Er hat ohne Ängste, die einem falschen Spiritualismus entstammen, den bräutlichen Charakter des menschlichen Körpers beleuchtet. Und ausgehend von seinem Erleben der geistlichen Vaterschaft hat er sowohl die Schönheit der Ehe, wie die wunderbare Fruchtbarkeit des Zölibats, der als Geschenk Gottes freiwillig angenommen wird, aufgezeigt.

Am Weltjugendtag des Großen Jubiläums des Jahres 2000 wurden wir Zeugen der positiven Antwort unzähliger junger Menschen auf einen schon alten Papst, der die menschliche Existenz als Sein-für-das-Leben definierte, anstelle des Nihilismus eines Seins-für-den-Tod, ein Papst, der zu ihnen voll mitreissender Überzeugung sprach, über die großzügige Liebe, die bis zur Hingabe des eigenen Ichs führt.

Ich denke, das ist der rote Faden, der erklärt, warum dem Papst die Familien so am Herzen liegen, und warum er sie als Grundlage des wirklich menschlichen Fortschritts betrachtet. Und es ist kein Registerwechsel, wenn Johannes Paul II. eine weitere grundlegende Dimension unserer Existenz in Angriff nimmt: die Arbeit. Auch hier ist sein zentrales Anliegen das Wachstum der Person durch eine berufliche Tätigkeit im Dienst an den anderen. Wenn man bei den bloß wirtschaftlichen Aspekten stecken bleibt, führt das dazu, das Individuum zu verkleinern, es zu reduzieren auf ein Rad im Ablauf des Produktionsprozesses. Oft muss man wagen, gewisse Strukturen zu verändern, die praktisch oder pragmatisch erscheinen mögen, die aber die freie Entfaltung der Personen einengen. Der katalanische Dichter, Joan Maragall, verstand das gut: “Bemühe dich in deinem Tun, / als ob von jeder Kleinigkeit, die du denkst, von jedem Wort, das du sprichst, / von jedem Stück, das du setzt, / von jedem Hammerschlag, den du tust, / die Rettung der Menschheit abhinge, / denn in der Tat, so ist es, glaube mir.”

Derselbe Ruf zur Liebe hallt wider, wenn Johannes Paul II. jeden Menschen, der sich ihm nähert, grüßen will, wenn er lächelt und ein kleines Kind in seine Arme schließt und segnet, wenn er mit seinem Stock spielt oder bei seinen Treffen mit Jugendlichen mitsingt und so den Dialog mit jedem einzelnen sucht, auch wenn es viele Tausende sind. Deshalb wird sein Ton besonders ernst, wenn er die Menschenrechte verteidigt, wenn er den Schwächsten seine Stimme leiht, wie in vielen afrikanischen Ländern, die sich im Stich gelassen fühlen. Sein Nachdruck, wenn er über den Menschen spricht, nicht als etwas Allgemeines oder Kollektives, sondern in seiner Einzigartigkeit, hat dazu beigetragen, dass uns bewußt wurde, dass die menschlichen Geschöpfe streng genommen nicht gezählt werden können. Jedes hat eine unermessliche Würde und einen unschätzbaren Wert.

Die Liebe verteidigen

Seine Beständigkeit, mit der er an die moralische Pflicht erinnert, aufrichtig alle möglichen Mittel auszuschöpfen, um Konflikte friedlich zu lösen, zeigt in gleicher Weise seine Liebe ohne Diskriminierungen irgendwelcher Art. Deshalb erinnert er immer wieder an Aspekte, die tief berühren: die physischen und seelischen Schmerzen der Zivilbevölkerung, die Resentiments, die die Herzen verbittern, die Barrieren gegen die Brüderlichkeit. Wenn es manchmal nicht gelingt, den kriegerischen Konflikt zu vermeiden, was immer eine “Niederlage der Menschheit” ist (Ansprache vor dem diplomatischen Corps, 13/01/2003), so bedeutet das nicht, dass das Wort des Papstes nutzlos war. Vielmehr will es sagen, dass wir den Frieden in allen seinen Ausdrucksformen vielleicht nicht genug gesucht haben: den Frieden in den Gewissen, in den Familien, in der Arbeit, im öffentlichen Leben.

Schließlich will ich noch besonders hervorheben, dass Johannes Paul II. die Liebe gegen den mächtigsten Feind verteidigt: gegen das Ich jedes einzelnen, wenn es sich von der Schwäche und vom Egoismus mitreissen lässt. Der Heilige Vater weckt Begeisterung, ruft tiefe Entscheidungen wach, macht es den Jugendlichen leichter, ihre christliche Berufung zu entdecken, denn sein Zeugnis stützt sich auf sein Leben, auf seine tägliche physische Verausgabung.

Seit 25 Jahren ist er ein fahrender und glaubwürdiger Zeuge der Liebe Gottes zu jedem menschlichen Wesen. Und mehr noch in diesen Tagen, wo seine körperliche Schwäche die Kraft dieser göttlichen Liebe in seinem Leben noch besser erkennen läßt. Viele Menschen fühlen sich besonders in diesen letzten Zeiten aufgerüttelt, wenn sie seine bedingungslose Hingabe erleben, die nichts anderes ist, als eine Intensivierung dessen, was er während seines ganzen Pontifikats immer praktiziert hat: er scheut keine Mühe, er erspart sich kein Opfer. Wenn man nur von den Kriterien der Wirksamkeit ausgeht, kann man diese Dinge Gottes einfach nicht verstehen.

Die erste christliche Gemeinde in Jerusalem legte die Kranken an den Weg, auf dem Petrus vorüberging, sodass zumindest sein Schatten sie berühre und sie geheilt würden. Ich bitte Gott, dass der Schatten des Vorübergangs Johannes Pauls II. uns von unseren Leiden heile und dass wir von diesem glaubwürdigen Zeugen der Liebe Gottes zu lernen vermögen.

JAVIER ECHEVARRÍA, Prälat des Opus Dei.