Der Ausblick von der Höhe jenes kleinen Berges muss überwältigend gewesen sein. Hunderte von Menschen waren nach Galiläa gekommen, weil sie diesen neuen Propheten kennen lernen wollten, von dem so viel geredet wurde und der anscheinend wunderbare Dinge verkündigte. Der Herr sah, wie sie über den Hügel näher kamen, und schließlich, als es ruhig wurde, begann er mit lauter Stimme zu sprechen: „Selig die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich.“[1]
Die Armen? Unter denen, die ihm zuhörten, waren viele wirklich arm. Sie waren gekommen, weil sie unter der Armut litten und genau wussten, dass sie nicht erstrebenswert ist. Gott möchte in der Tat, dass wir Gutes zu essen haben und einen würdigen und angenehmen Ort, um in angemessener Weise leben zu können. Dennoch eröffnet uns Christus, dass es eine Art von Armut gibt, die sich anzustreben lohnt.
Die „Armut vor Gott“ scheint eine notwendige Voraussetzung zu sein, damit die anderen Seligpreisungen Wirklichkeit werden können. Daher ist es kein Zufall, dass der Herr sie an den Anfang seiner Predigt, vor alle anderen, setzt. Sie soll das feste Fundament sein, auf dem ein sinnvolles und schönes Leben aufgebaut werden kann. Aber warum geht es genau bei der Einladung, arm vor Gott zu sein?
Gott allein kann geben
Bei einer anderen Gelegenheit ging Jesus durch eine Stadt, und alle wollten zu ihm kommen. Die Apostel bemühten sich, ihm den Durchgang durch die Menschenmenge zu bahnen, die auf der Straße stand, um den berühmten Rabbi zu sehen.Mit ihren geringen Kräften kämpfte sich eine Frau durch die Menge, um bis zu ihm zu gelangen. Die Leute bedrängten sie von allen Seiten. Wie wir wissen, war sie krank und schwach, denn schon seit Jahren verlor sie Blut und hatte ihr gesamtes Geld für Ärzte ausgegeben, die sie aber nicht hatten heilen können. Sie besaß nichts mehr, Jesus war ihre letzte Hoffnung.
Bestimmt hatte diese Frau, bevor sie dem Herrn begegnete, ihre Krankheit angenommen und sich den Händen Gottes überlassen. Fast wie eine unmittelbare Antwort des Himmels befand sich der Messias an jenem Tag in der Stadt. Deshalb war sie überzeugt, dass sie durch ihn die ersehnte Lösung finden würde. Auf diese Weise schaffte sie es, ohne viel zu reden, nur im Vertrauen auf Gott, vom Meister die Kraft geschenkt zu bekommen, die sie heilte.
Wenn er etwas nimmt, dann, damit in unserem Leben für seine Gaben mehr Raum geschaffen wird.
Diese Frau ist ein Beispiel für die Armut im Geiste, weil sie ihr ganzes Vertrauen auf Gott setzte. Sie war arm, und sie wusste, dass sie aus sich allein nichts vermochte. Alles, was sie nötig hatte, musste sie als Geschenk annehmen. Wie sie vertraut der Arme im Geiste vollkommen auf Gott, weil er weiß, dass nur Er geben kann. Und wenn er etwas nimmt, dann, damit in unserem Leben für seine Gaben mehr Raum geschaffen wird. Hätte jene Frau sich so durchgekämpft, um Gott berühren zu können, wenn sie nicht das Vertrauen auf alles andere verloren hätte? Sicher nicht. Daher kann uns die Armut plötzlich überkommen oder wir müssen sie suchen. In jedem Fall gilt es bereit zu sein, alles zu verlieren, um das zu gewinnen, was sich wirklich lohnt: arm zu werden, damit Gott uns reich machen kann. Deshalb müssen wir uns die Frage stellen: Worauf muss ich verzichten, um arm zu sein?
Weniger ist mehr
Man erzählt, dass Kaiser Heraklius im 7. Jahrhundert gegen die Perser in den Krieg zog, um das Kreuz Christi zurück zu holen, das seine Feinde in Jerusalem geraubt hatten und in einem Palast bei Bagdad bewachten. Nach fünfzehn Kriegsjahren konnte das byzantinische Heer 680 das Kreuz erobern, und der Kaiser kehrte im Triumphzug an der Spitze seiner Truppen in die Heilige Stadt zurück.
Bei seinem Einzug in Jerusalem wollte Heraklius das Kreuz selbst tragen, aber als er das heilige Holz aufnahm, war es sehr schwer. Zur Überraschung seiner Soldaten konnte es der Kaiser, der in tausend Schlachten gekämpft hatte, nicht auf sein Pferd heben. Beschämt stieg er herab und trug es zu Fuß, aber auch so kam er kaum voran. Um mehr Kraft zum Tragen zu haben, entledigte er sich anderer Gewichte: seiner Krone, seines königlichen Mantels, der Rüstung, des Schwertes und seines Schildes… Endlich, als er nur noch sein Gewand anhatte, konnte er das Kreuz tragen. Erst jetzt, da er alle kaiserlichen Insignien abgelegt hatte, erinnerte die Gestalt des Kaisers an Christus, der sechs Jahrhunderte zuvor das Kreuz durch dieselben Straßen getragen hatte.
Wie es dem Heraklius erging, so wird auch uns die Armut erlauben, Jesus ähnlich zu werden und seinen Schritten zu folgen. Geld und andere materielle Dinge können zu einem großen Hindernis werden, wenn sie Raum für Gott wegnehmen und die Seele unruhig machen. Der Besitz von Dingen ist nichts Schlechtes, aber wenn wir ihnen zu viel Bedeutung geben, hängt am Ende unser Glück in übertriebener Weise von ihnen ab.
Es genügt, sein Gewissen zu erforschen, um festzustellen, dass wir uns vielleicht – fast ohne es zu merken – viele Notwendigkeiten geschaffen haben. Wir müssen unbedingt die Sendung unserer Lieblingsserie sehen und immer, wenn wir allein sind, Musik hören. Wirbrauchen neue Markenkleidung oder ein besseres Handy. Wirmüssen öfter mal in den Kühlschrank greifen, wir müssen unbedingt unsere Whatsapps sichten… Wenn das nicht möglich ist, werden wir unruhig, weil wir unser Glück von der Erfüllung dieser Bedürfnisse abhängig gemacht haben.
Der Besitz von Dingen ist nichts Schlechtes, aber wenn wir ihnen zu viel Bedeutung geben, hängt am Ende unser Glück in übertriebener Weise von ihnen ab.
Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass es Freude macht, neue Sachen zu kaufen. Ein neues Videospiel, eine neue Musik-CD oder ein neues Oberteil kann uns über einen schwierigen Tag hinweghelfen. Manchmal scheint es, als brenne uns das Geld in der Tasche. Es auszugeben ist nichts Schlechtes, aber wir müssen Acht geben, dass es nicht das einzige Heilmittel wird, um wieder zufrieden zu sein.
Noch wachsamer müssen wir reagieren, wenn wir auf künstliche Hilfen (leichte Drogen oder Alkohol) zurückgreifen müssen, um Gefühle und Abwechslung in unser Leben zu bringen. Wenn man sie braucht, um Spaß zu haben oder sie aus purer Neugier ausprobiert, so ist das ein deutliches Zeichen für eine schwache Persönlichkeit, die es nötig hat, sich mit entsprechenden Produkten in Stimmung zu bringen, und die nicht bereit ist, sich zu ändern oder sich zu vergnügen, indem sie die eigenen Talente einsetzt…
Es kann eine sehr gute Übung sein, freiwillig auf etwas scheinbar Unentbehrliches zu verzichten, um die Armut zu spüren und sich loszulösen von dem, wovon wir uns in unserem Leben zu sehr abhängig gemacht haben. Manche Leute nehmen sich täglich zwei oder drei kleine Opfer vor, um ihren Willen in Form – frei und flexibel – zu halten. Wenn wir das versuchen, aber nicht schaffen, ist es ein Signal, unsere Freiheit so schnell wie möglich zurück zu erlangen. Folgender Rat des hl. Josefmaria kann hilfreich sein: „Vergiss nicht: Der hat mehr, der weniger braucht. – Schaffe dir keine Notwendigkeiten.“[2]
„Verkauf, deinen Besitz und gib das Geld den Armen, dann komm und folge mir nach.“[3] Das ist die Bedingung, die der Herr dem reichen jungen Mann stellte, der ihm folgen wollte. Dieser junge Mann war gut – er befolgte die Gebote, was schon viel ist -, aber er war nicht frei. Alles, was er besaß, war zu einer Kette geworden, die ihn fesselte und daran hinderte, diese einmalige Gelegenheit zu nutzen, die sich ihm in seinem Leben bot. Er war unfähig, Jesus wirklich zusehen und zu merken, wie großartig das Angebot war, das dieser ihm machte. Die Evangelien überliefern uns diese Episode, weil der Herr uns das gleiche Angebot machen möchte… und wir Gefahr laufen, dieselbe abschlägige Antwort zu geben.
Vermeidungs- und Verteidigungsstrategien
Es gibt eine andere Armut, die vielleicht noch wichtiger ist: Es ist die innere Armut, die Demut dessen, der sich gut kennt und weiß, dass er ohne Gott nur wenig wert ist. Wer hingegen ausgesprochen selbstsicher ist und von niemandem Hilfe annimmt, ähnelt vielen der Schriftgelehrten und Pharisäer, mit denen Jesus sich auseinandersetzen musste. Sie hatten eine Antwort für alles, baten ihn nie um Hilfe und stellten ihm keine Fragen aus echtem Interesse. Auch ihre eigenen Zweifel oder Schwächen gaben sie nicht zu.
Gott allein kann geben, sagten wir vorhin, aber man muss bereit sein anzunehmen. Auch wir versteifen uns manchmal auf eine Meinung, sind stur, geben keinen Millimeter nach, noch geben wir demütig zu, wenn wir uns geirrt haben. Da wir jedoch wissen, dass Gott dem hilft, der immer offen für Überraschungen ist, lohnt es sich, um Rat zu bitten, zuhören zu lernen und in aller Einfachheit die Vorschläge anzunehmen, die uns jemand gibt, der uns helfen möchte. „Sollen sie ruhig sehen, wie du bist und dich verachten. – Es soll dich nicht betrüben, nichts zu sein, denn so muss Jesus alles in dir aufbauen“[4], riet der hl. Josefmaria. Gott selbst wird uns helfen, wenn wir zu den Sakramenten gehen oder sein Wort lesen, gerade wenn wir meinen, dass wir es in diesem Augenblick unseres Lebens nicht brauchen.
Man erzählt, dass der Vogel Strauß seinen Kopf versteckt, wenn er Gefahr kommen sieht (obwohl das nicht stimmt). Ähnliches kann bei uns der Fall sein, wenn wir spüren, dass in unserem Leben etwas nicht richtig läuft, z.B. wenn wir merken, dass es uns schwer fällt, Freunde zu finden, wenn wir uns unfähig fühlen, unsere Leidenschaften zu beherrschen oder Angst haben zu versagen, ausgelacht oder alleine gelassen zu werden… Jemand, der nicht arm ist vor Gott, will sich lieber nicht mit der Wahrheit zu konfrontieren. Er zieht es vor, die Gefahr nicht zu sehen oder sie zu beschönigen. Deshalb will er nicht hinsehen, oder er verschließt sich – wie ein Igel – im Schweigen, manchmal sogar, indem er die anderen kritisiert, damit seine Schwäche nicht bemerkt wird.
Wer sich mit seinen eigenen Fehlern nicht auseinandersetzt, muss eine Maske aufsetzen, damit seine Mitmenschen in ihm jemand anderen sehen (eine sorgenfreie Person, immer glücklich und selbstsicher …). Im Endeffekt wird sein Leben zu einem Theaterspiel, einer Pantomime. Früher oder später wird er sich fragen: Wer bin ich eigentlich? Woran glaube ich? Mögen meine Freunde mich oder den Menschen, für den sie mich halten? „Herr“, - so betete der hl. Josefmaria – „gib, dass ich mich dazu entschließe, durch Buße endlich die elende Maske herunterzureißen, die ich mir selbst aus meinen Erbärmlichkeiten gebildet habe…“[5].
Wer nicht demütig ist, wird bald feststellen, dass sein Leben sich in ein komplexes Labyrinth verwandelt hat. Die beste, manchmal die einzige Art, aus einem Labyrinth herauszukommen, ist zu fliegen.
Wer nicht demütig ist, wird bald feststellen, dass sein Leben sich in ein komplexes Labyrinth verwandelt hat. Die beste, manchmal die einzige Art, aus einem Labyrinth herauszukommen, ist zu fliegen. Deswegen erheben wir uns in unserem Gebet bis zur Gegenwart Gottes. Er wird uns helfen, aufrichtig und demütig zu sein. Jemand, der arm vor Gott ist, fühlt sich nicht gedemütigt, wenn er seine Schwächen anerkennt und in den Sakramenten oder in der geistlichen Leitung um Hilfe bittet. Er lebt so mit offenem Visier und zeigt froh und optimistisch sein wahres Gesicht und seine Seele, wie sie ist.
„Der, dessen Seele frei ist, losgelöst von den Dingen der Welt – sagt der Papst– wird im Himmelreich „erwartet““[6]. Materiell arm und innerlich arm – nur so sind wir in der Lage, dem Herrn auf dem Berg in Galiläa zusammen mit den Aposteln aufmerksam zuzuhören – ohne uns zu zerstreuen oder abzulenken. Arm vor Gott, frei von Habgier und Stolz, sind wir fähig, uns dem Glück zu öffnen, das uns die anderen Seligpreisungen verheißen.
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Fragen für das persönliche Gebet
Könnte ich nicht auf manche Ausgaben verzichten? Habe ich das Geld nicht lange in der Tasche? Gebe ich Almosen im Rahmen meiner Möglichkeiten?
Worin suche ich meine Sicherheit? In materiellen Dingen (Kleidung, elektronische Geräte, teure Vorhaben)? Im Bild, das die anderen von mir haben? Oder im Umgang mit Gott und in echter Freundschaft? Sorge ich mich sehr um das, was andere von mir denken?
Bemühe ich mich darum, dass die Sachen, die ich benutze (Kleidung, Telefon …), lange halten oder benötige ich oft Neues? Brauche ich unbedingt die Dinge, die meine Freundinnen oder Freunde besitzen?
Habe ich mir vorgenommen, jeden Tag zwei oder drei kleine Opfer zu bringen, die mir helfen, auf oberflächliche Dinge zu verzichten, die nicht nötig sind (z.B. beim Gebrauch von Handy, Fernsehen, Aufzug …)?
Zeige ich mich so, wie ich bin? Stört es mich, wenn ich zu Recht kritisiert werde? Wann habe ich zuletzt um Verzeihung gebeten? Bitte ich manchmal um Rat?
J. Narbona / J. Bordonaba
[1] Mt 5, 3.
[2] Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 630.
[3] Mt 19, 21.
[4] Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 596.
[5] Ders. Kreuzweg, VI Station.
[6] Papst Franziskus, Predigt, 01.11.2015.