Unterwegs zur Hundertjahrfeier.
Am 14. September hat der Vater die Gläubigen und Freunde des Opus Dei zur Teilnahme an den Vorbereitungsarbeiten der Regionalversammlungen eingeladen, deren Titel folgendermaßen lautet: Unterwegs zur Hundertjahrfeier des Werkes. Das Charisma vertiefen und den Wunsch auffrischen, uns für Gott, die Kirche und die Gesellschaft einzusetzen.1
Der sich nähernde Jahrestag lädt uns ein, uns zu fragen, wie wir uns den Herausforderungen der gegenwärtigen Zeit vom Geist des Opus Dei her stellen. Wir möchten das hundertjährige Bestehen des Werkes überall mit Blick in die Zukunft feiern.
„Die Hundertjahrfeier“, hat uns der Vater geschrieben, „wird vom 2. Oktober 2028 bis zum 14. Februar 2030 dauern, also bis zu dem Tag, an dem die Arbeit des Opus Dei unter Frauen hundert Jahre lang bestanden haben wird. Es wird also eine Feier mit zwei Daten sein, um die Einheit zum Ausdruck zu bringen (…). Ich möchte, dass wir alle an der Vorbereitung teilnehmen“ (Botschaft des Vaters, 10.6.2021). Für uns alle, die wir dieser Familie des Werkes angehören, wird dies eine Gelegenheit sein, um mit dem Licht des Glaubens und der göttlichen Gnade in zwei Wirklichkeiten tiefer einzudringen: in die Größe der Liebe Gottes, der uns persönlich berufen hat, und in die Schönheit der Sendung des Dienstes, den das Werk der Kirche und der Gesellschaft leisten soll.
Diese Unterlage enthält einige Ideen, die zur Reflexion über das Jubiläum inspirieren können, das die Tür zum zweiten Jahrhundert der Geschichte des Opus Dei öffnet. Es soll uns alle zur Teilnahme anspornen, indem wir Anregungen und Erfahrungen vorlegen, die dann in den regionalen Arbeitswochen bearbeitet werden. Die Schlussfolgerungen dieser Arbeitswochen werden die Leitlinie für die Vorbereitung des Jubiläums und außerdem eine relevante Grundlage für den ordentlichen Generalkongress des Jahres 2025 darstellen.
Mehr als um die Planung von Festveranstaltungen soll es bei der Vorbereitung auf das Jahrhundertgedenken darum gehen, eine Dynamik der Vertiefung in Gang zu setzen, die uns hilft, unseren Geist immer besser zu verstehen, zu verkörpern und zu kommunizieren, im Dienst an der Kirche und allen Männern und Frauen.
Die Hundertjahrfeier bietet uns vor allem eine neue Gelegenheit, das Wesentliche unseres Lebens wiederzuentdecken: die Liebe Gottes zu jedem einzelnen, der uns in seinem Sohn dazu beruft, durch die Gabe des Heiligen Geistes seine Kinder zu sein. Der Vater hat uns vor einigen Jahren nochmals daran erinnert: „Die Treue eines Christen ist eine dankbare Treue, denn wir sind nicht einer Idee treu, sondern einer Person: Christus Jesus, unserem Herrn, so dass jeder von uns sagen kann: ,Er hat mich geliebt und sich für mich hingegeben‘ (Gal 2,20). Zu wissen, dass Gott uns persönlich liebt, spornt uns mithilfe seiner Gnade zu einer treuen und beharrlichen Liebe an. Zu einer Liebe, die voller Hoffnung auf das blickt, was Gott durch das Leben einer jeden und eines jeden in der Kirche und in der Welt vollbringen wird – bei all unserer Gebrechlichkeit (Botschaft des Vaters, 10.10.2017). Deshalb drängt uns die Vorbereitung auf dieses Datum dazu, wahrhaft und täglich zunehmend beschauliche Seelen inmitten der Welt zu sein.
Herausforderungen unserer Zeit
Dieser Jahrestag ist, wie auch der Vater gesagt hat, „ein günstige Gelegenheit, um die Herausforderungen in den Blick zu nehmen, vor denen Kirche und Gesellschaft stehen, und uns über unsere Möglichkeiten der Hilfestellung Gedanken zu machen“ (ebd.). Der heilige Josefmaria hat uns eingeladen, „die Welt leidenschaftlich zu lieben“. Er bezog sich auf die reale Welt, auf die Welt, in der wir leben, mit ihren Möglichkeiten und Widersprüchen. Die Welt ist eine lebendige Wirklichkeit, die sich weiterentwickelt und verändert. „Jede Generation von Christen muss ihre eigene Zeit erlösen, muss sie heiligen“ (Christus begegnen, Nr. 132). Die Welt lieben setzt voraus, sie zu kennen und zu verstehen. In diesen Sinn ermutigt uns das Jubiläum dazu, uns von der Lage unserer Gesellschaften und unserer Zeit ein Bild zu machen, um sie mit dem Licht des Evangeliums zu erhellen.
Das Charisma des Opus Dei entfaltet sich unter Bedingungen, die in vielerlei Hinsicht nicht mehr dieselben sind wie vor hundert Jahren. „Die sich verändernden historischen Umstände können – mit den Anpassungen, die sich für das Gesellschaftssystem daraus ergeben – dazu führen, dass etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt gerecht und gut war, auch einmal aufhört, gerecht und gut zu sein. Daher soll es bei euch stets Raum für konstruktive Kritik geben, die dem starren und zerstörerischen Wirken der Trägheit den Boden entzieht“ (Hl. Josefmaria, Brief 29, Nr. 18). Während sich die Herausforderungen jeder Epoche ändern, erneuern sich die Generationen derer, die den Geist des Opus Dei mit ihrem Leben verkörpern, so dass sie mit der Kraft unserer ersten Brüder und Schwestern des Werkes aktuelle und lebenspendende Antworten geben können.
Deshalb müssen wir uns über die gegenwärtige Situation von Arbeitswelt, Familie, Beziehungen, Kultur, Gerechtigkeit und Frieden Gedanken machen, die zu heiligen wir berufen sind; und auch über Themen, die in den vergangenen Jahren besonders an Bedeutung gewonnen haben und unsere Gesellschaften prägen oder die voraussichtlich in den kommenden Jahrzehnten Relevanz gewinnen werden. Es geht darum, mit dem Blick eines Kindes Gottes besser zu verstehen, wie diese Welt, die wir leidenschaftlich lieben und für die wir uns einsetzen wollen, ist und was sie braucht; das heißt also die zahlreichen guten Wirklichkeiten, von denen wir umgeben sind, zu entdecken und zugleich die zahlreichen Aspekte zu sehen, die der Menschenwürde nicht Genüge tun. Um es mit Worten des heiligen Josefmaria zu sagen, geht es darum, sich zu fragen, wie wir für alles Gute aufnahmebereit bleiben können, mit „einer positiven und offenen Haltung, angesichts des aktuellen Wandels der gesellschaftlichen Strukturen und Lebensweisen” (Die Spur des Sämanns, Nr. 428); oder wie wir, was dasselbe ist, unsere Wünsche aktualisieren und vermehren, die Botschaft Christi in alle Kreise zu tragen, zu den vielen Menschen, die es brauchen.
Schauen wir ebenso auf die gegenwärtigen Herausforderungen der Kirche, die die unsrigen sind: die Säkularisierung und die Art der Verkündigung der Liebe Gottes heute; die Rolle der Laien und der Familien bei der Evangelisierung; die Dynamik von Tradition und Erneuerung; die Einheit und der Dialog; die Implikationen der kirchlichen „communio“ usw. Das Charisma, das Gott dem heiligen Josefmaria anvertraut hat, ist darauf gerichtet, „der Kirche zu dienen, wie die Kirche will, dass ihr gedient werde“ (Worte des heiligen Josefmaria bei der Eröffnung des Centro Elis, 21.11.1965). Wenn wir die Herausforderungen der Kirche in jedem Land und in der Gesamtkirche gut kennen, wird sich unsere Bereitschaft für diese Sendung erhöhen.
Die Gabe des Geistes wiederentdecken
In seiner Botschaft vom 10.6.2021 schlägt der Vater vor, dass dieses eine Zeit der Reflexion über „unsere Identität, unsere Geschichte und unsere Sendung“ sein soll, mit einer Zukunftsvision und dem Wunsch nach persönlicher Erneuerung.
Der Beginn der Vorbereitung auf das Hundertjahrjubiläum fiel mit der Veröffentlichung des Motu Proprio „Ad charisma tuendum“ zusammen, mit dem der Heilige Vater uns aufmuntert, unseren Fokus auf die Gabe zu richten, die Gott dem heiligen Josefmaria anvertraut hat, um sie in Fülle zu leben. Papst Franziskus fordert uns auf, das Charisma des Opus Dei zu pflegen, „um das evangelisierende Wirken seiner Mitglieder zu fördern“ und auf diese Weise „den Ruf zur Heiligkeit in der Welt durch die Heiligung der Arbeit und der familiären und gesellschaftlichen Aufgaben zu verbreiten“. Die Botschaft, die der heilige Josefmaria dem Willen Gottes gemäß verbreiten sollte, besitzt eine außergewöhnliche Anziehungskraft und einige Anwendungsmöglichkeiten, die die Kreativität anregen.
Wenn wir überlegen, welche Texte uns bei dieser Reflexion zur Vorbereitung der Arbeitswochen hilfreich sein könnten, werden uns viele Schriften des heiligen Josefmaria in den Sinn kommen, die verschiedene Aspekte des Charismas des Opus Dei entfalten. Unter vielen anderen Möglichkeiten werden hier drei seiner Briefe empfohlen:
Als erstes der Brief 292, der geschrieben wurde, um verschiedene Aspekte der Sendung der Gläubigen und Freunde des Werkes bei der Heiligung der Welt und des ehelichen und familiären Lebens zu unterstreichen. Sein Inhalt stellt einen Aufruf an alle Christen dar, mit Jesus Christus an der Erlösung mitzuwirken, nicht gleichgültig zu bleiben, als Ferment in der Masse zu wirken, Sauerteig zu sein, „der die Menschen vergöttlicht und sie, indem er sie göttlich macht, zugleich wahrhaft menschlich macht“ (Nr. 7a).
Als zweites der Brief 63, der verschiedene Aspekte des Geistes des Opus Dei behandelt. Der heilige Josefmaria reißt unterschiedliche Themen an, die durch den roten Faden des Spezifischen des von ihm gelehrten Geistes, ihrer Verwurzelung im Evangelium und ihrer Ausformung im Leben der ersten Christen zusammengehalten werden.
Als drittes der Brief 44, in dem es um die Liebe bei der Weitergabe des Glaubens geht. Der heilige Josefmaria erläutert, wie das Gespräch der Glaubensverkündigung mit Männern und Frauen, die sich dem Glauben der Kirche nähern wollen, sein soll und dabei Einfühlungsvermögen und die Achtung der Gewissensfreiheit mit der Treue zum Glaubensgut in Einklang gebracht werden.
Wenn wir einmal einen aufmerksamen Blick auf den Kontext, in dem wir leben, geworfen und unsere Überlegungen mit den Menschen in unserem Umkreis geteilt haben, werden wir sicher besser gerüstet sein, die angemessensten Wege suchen, um mit unseren Worten und unserem Leben die christliche Botschaft zu verkünden und den Geist des Opus Dei weiterzugeben. Dieser stellt gerade wegen seiner säkularen Natur eine Brücke des Dialogs in den Bereichen Arbeit, Familie, zwischenmenschliche Beziehungen, nahes Umfeld, Wissenschaft, Kunst oder Politik dar; eine ausgestreckte Hand zur Begegnung mit allen, die danach suchen, sich der Wahrheit zu nähern, die Würde der Personen und der Schöpfung zu fördern, das Gute zu tun und Schönes zu schaffen.
Angesichts komplexer Situationen und beschleunigter Veränderungen haben die Worte des heiligen Augustinus auch heute ihre Gültigkeit: „Die Menschen klagen darüber, dass die Zeiten böse sind. Hört auf mit dem Klagen. Bessert euch selbst. Denn nicht die Zeiten sind böse, sondern unser Tun. Und wir sind die Zeit“ (Sermo 8, 8). Daher ist die erste Erneuerung, die wir anstreben, die eigene, die jedes einzelnen. Um die Welt Gott näherzubringen, bemühen wir uns als erstes selbst um diese Nähe: beschaulich zu sein im Alltag.
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
In der Hundertjahrfeier vereinen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; Dankbarkeit und Hoffnung, Bitte um Vergebung und um Gnade. Papst Johannes Paul II. hat am Ende des Jubiläumsjahres 2000 dazu ermutigt, dankbar auf die Vergangenheit zurückzuschauen, die Gegenwart mit Begeisterung zu leben und sich voll Hoffnung der Zukunft zuzuwenden: „Duc in altum“ (Apost. Schreiben Novo millennio ineunte, Nr. 1). Ebenso schlug der selige Álvaro vor wichtigen Jahrestagen zu beten vor: „Danke, verzeih mir, hilf mir mehr!“ Diese Worte können uns als Inspiration für die Hundertjahrfeier dienen.
Es wird eine Zeit der Dankbarkeit sein: Anerkennung der Gabe Gottes, die das Charisma des Werkes, das Leben unseres Gründers und die vielfachen Gnaden bedeuten, die wir in diesen Jahren empfangen haben. Dankbarkeit allen Menschen gegenüber, die sich eingesetzt haben, diesen Geist in ihrem persönlichen Umfeld lebendig werden zu lassen. Und Dankbarkeit auch den Personen und Institutionen gegenüber, die uns begleitet haben: Eltern und Familien der Gläubigen des Werkes, Männer und Frauen, die mit dem heiligen Josefmaria zusammengearbeitet haben, Katholiken und Nichtkatholiken, die dem Opus Dei auf der ganzen Welt großzügig geholfen haben und dies weiterhin tun. Wir möchten uns besonders auch all jener erinnern, die einen Lebensabschnitt lang in diesen ersten hundert Jahren dieser Familie angehört haben und mit welchen uns ein besonderes Band verbindet.
Wir danken, es wird aber auch eine Zeit des Um-Vergebung-Bittens sein: für persönliche und kollektive Grenzen, für die Versäumnisse und den Schaden, den jeder von uns verursacht hat. Die Erinnerung an die Vergangenheit bedeutet eine Wiederentdeckung der Ursprünge und des Wesens des Charismas, seiner Originalität und seines Wertes. Und auch ein vertieftes Eindringen in die Geschichte, in Personen und konkrete Momente, mit ihren Licht- und Schattenseiten: Die – persönliche wie institutionelle – Geschichte ist Teil der Identität.
Schließlich wird es eine Zeit der Hoffnung sein, im Vertrauen in die Gnade und in die Aktualität und Kraft des Charismas des Opus Dei, jetzt und in Zukunft die komplexesten Wirklichkeiten zu erhellen. Wir vertrauen auf die Macht des Heiligen Geistes, nicht auf unsere eigenen Kräfte. So bereiten wir uns auch auf das Heilige Jahr 2025 vor, das erste des dritten Jahrtausends, das „Pilger der Hoffnung“ zum Thema haben wird (Papst Franziskus, Brief an Msgr. R. Fisichella zum Heiligen Jahr 2025, 11.2.2022).
Bei dieser Vertiefung in das Charisma gibt es eine individuelle Dimension, die jedes Einzelnen, es gibt aber auch eine institutionelle Dimension, die jeder einzelnen der so verschiedenartigen Initiativen, die die Mitglieder des Opus Dei mit Gottes Gnade im Laufe der Jahrzehnte auf die Beine gestellt haben. Wenn wir an diese Initiativen denken, ist der entscheidende Punkt der, dass jede einzelne danach trachtet, treibende Kraft für einen bedeutsamen christlichen Beitrag in ihrem Feld zu sein, sei dies nun Erziehung, Gesundheit, Armut, Jugend, Familie, Kommunikation usw., und sich daher großherzig entfaltet, um das Evangelium mit Weite und Tiefe zu verkünden. Jeder einzelne, der an diesen Initiativen beteiligt ist, möge an ihren Ursprung zurückdenken und überlegen, wie er den beruflichen und apostolischen Träumen, die sie entstehen ließen, noch mehr Strahlkraft verleihen kann. Und danach möge er mit neuem Schwung weitertun, die Richtung ändern, wenn sich die ursprünglichen gesellschaftlichen Bedürfnisse geändert haben, oder eine Etappe abschließen, was ihm erlaubt, eine neue zu beginnen, die den gegenwärtigen Anforderungen der Kirche oder der Gesellschaft besser entspricht.
Es geht um den Versuch, die eigene Identität und Geschichte zu erfassen, transparent zu sein und sich zu bemühen, ein eigenes Narrativ zu finden. Zu diesem Zweck wird es hilfreich sein, mit der Meinung von Angestellten, ehemaligen Schülern, begünstigten Familien zu rechnen sowie mit Meinungen aus dem Umfeld, in dem man agiert: die verschiedenen Auffassungen zu hören und sich allen zur Verfügung zu stellen, um gemeinsam auf die jeweiligen örtlichen Bedürfnisse zu reagieren.
Unter den Notleidenden
Die Perspektive des Jahrestages eröffnet eine neue Möglichkeit, um, wie der Vater schreibt, „die Liebe Gottes in unserem Leben dankbar zu erkennen und sie unseren Mitmenschen, vor allem den Notleidenden, zu bringen“ (Botschaft, 10.6.2021).
Wir finden Christus im geoffenbarten Wort, in den Sakramenten und auch in unseren Mitmenschen, besonders in den Armen. Papst Franziskus hat uns auch darauf hingewiesen: „Wir sind aufgerufen, Christus in ihnen zu entdecken, uns zu Wortführern ihrer Interessen zu machen, aber auch ihre Freunde zu sein, sie anzuhören, sie zu verstehen und die geheimnisvolle Weisheit anzunehmen, die Gott uns durch sie mitteilen will“ (Apost. Schreiben Evangelii gaudium, Nr. 198). Der heilige Josefmaria erinnerte öfters daran, dass er in den Armen und Kranken die Kraft fand, um das Opus Dei voranzubringen, und dass er sich auf ihr Gebet stützte, das besonders wertvoll ist.
Wie unsere Umstände auch sein mögen, es wird in unserem Umkreis immer bedürftige Personen geben. Die Liebe, die uns zur Begegnung führt, steht in innigem Zusammenhang mit der Anerkennung, dass ein jeder Gott und die anderen braucht, und mit dem Verzicht auf das, was uns in unsere bloß persönlichen Interessen einschließt. Die Armut erinnert uns daran, dass unsere Schätze in Gott und in den zwischenmenschlichen Beziehungen liegen und dass wir, wenn wir ein großzügiges und frohes Leben führen wollen, alle wirklich von den materiellen Gütern losgelöst leben müssen im Heute einer Konsumgesellschaft. Diese persönliche Erfahrung wird unseren Blick reinigen, so dass wir den anderen entdecken, wie der heilige Josefmaria sagte: „Die Armen – sagte unser Freund – sind mein bestes geistliches Buch und das Hauptmotiv für meine Gebete. Ich leide mit ihnen, und ich leide mit Christus wegen ihnen ... Und weil ich mit ihm leide, wird mir klar, dass ich ihn liebe und dass ich sie liebe” (Die Spur des Sämanns, Nr. 827).
Durch unsere berufliche Arbeit – durch unseren Alltag – können wir dazu beitragen, die Liebe Gottes unter denen zu verbreiten, die es am meisten nötig haben. Die Welt der Familie, der Arbeit und der gesellschaftlichen Netze brauchen Zeugnisse der Zusammenarbeit, der gegenseitigen Unterstützung und der Zurückhaltung zum Wohl der anderen, unserer Schwestern und Brüder, gemäß einem säkulären Stil der Nachfolge Jesu. Unser Lebensstil sitzt im Kern einer glaubwürdigen Evangelisierung.
Die beispiellose Entwicklung, die die Menschheit in den Bereichen der Technologie, der Wirtschaft und der Kommunikation erreicht hat, bietet eine Fülle von Ressourcen, die dazu dienen können, die Ungleichheiten zu beseitigen und die Mängel zu beheben, denen wir begegnen: sei es an Nahrung, Zuwendung, Wohnung, Arbeit, Erziehung, Rechten, Gesundheit oder Freiheit ... Wir nehmen diese Mängel als Vorenthaltung von etwas wahr, das der Menschenwürde und der rechten Ordnung der Gesellschaft zu eigen ist. Diese individuellen und gesellschaftlichen, globalen und komplexen Herausforderungen verlangen nach einer neuen „Fantasie der Liebe“ (Apost. Schreiben Novo millennio ineunte, Nr. 50), wie Papst Johannes Paul II. sagte, die aus der Nähe zum Leidenden zur integralen Entfaltung der Person beiträgt und so Ausdruck der persönlichen Fürsorge Gottes für jeden einzelnen ist.
Unser Gründer betonte, dass „ein Mensch oder eine Gesellschaft, die auf die Bedrängnisse und Ungerechtigkeiten nicht reagieren und sich nicht bemühen, sie zu lindern, nicht Mensch und nicht Gesellschaft nach dem Maß des liebenden Herzens Christi“ sind (Christus begegnen, Nr. 167). Auch heute bietet sich uns vor dem Horizont des Jahrhundertjubiläums „eine besondere Gelegenheit, den Dienst an den Bedürftigen auf persönliche und kollektive Weise neu zu beleben und uns seiner Bedeutung in der Botschaft des heiligen Josefmaria bewusst zu werden“ (Vortrag des Prälaten des Opus Dei auf der Tagung Be to Care, 29.9.2022). Dieser Vortrag des Vaters enthält wertvolle Gedanken für das Nachdenken darüber, was eine „neue Fantasie der Liebe“ mit sich bringt.
In diesen Jahren der Vorbereitung auf die Hundertjahrfeier müssen wir uns nach der sozialen Dimension der christlichen Berufung fragen, nach der Geltung und Reichweite der Soziallehre der Kirche, nach den Folgen, die sich aus der Heiligung der Arbeit für den Aufbau einer menschlicheren und christlicheren Gesellschaft ergeben. Wir können auch nachdenken über das mögliche soziale Vermächtnis dieses Jubiläums, als greifbaren Ausdruck der Dankbarkeit, die wir für die erhaltenen Gaben empfinden.
Gott macht alles neu (Offb 21, 5)
„Ihr, die jungen Leute, werdet eine wichtige Rolle spielen“, erklärte der Vater in seiner Botschaft vom 10.6.2021. Sie sind es, die die Botschaft des heiligen Josefmaria in die nächsten hundert Jahre hineintragen werden. „Alles ist getan, und alles ist noch zu tun“, sagte der heilige Josefmaria gelegentlich.
Jugend ist nicht nur ein biologisches Faktum. Sie ist ein Merkmal, das über die Zeit erhalten werden kann. „Darum werden wir nicht müde; wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert“ (2 Kor 4,16). Die Gnade Gottes verjüngt uns, wenn wir uns ihr öffnen. Gott erneuert die Welt, alle Dinge, alle Bereiche – unter Mitwirkung der Christen, die Botschafter seiner Barmherzigkeit sein wollen.
Anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Opus Dei lud der heilige Josefmaria ein zu „einer Erneuerung der Treue zum göttlichen Ruf, um inmitten der Welt Säleute der Freude und des Friedens zu sein“ (Weihnachtsbrief 1952). Wenn die Hundertjahrfeier jetzt näherrückt, werden wir die Schönheit des Gründungscharismas wiederentdecken und es mit Treue, Kreativität und Freude unter den aktuellen Umständen der Kirche und der Welt durchdenken, leben und weitergeben können, und zwar sowohl persönlich als auch institutionell. So antworten wir auf den Ruf von Papst Franziskus, der uns vom Beginn seines Pontifikats an „zu einer neuen Etappe der Evangelisierung, die von dieser Freude geprägt ist” (Apost. Schreiben Evangelii gaudium, Nr. 1), eingeladen hat.
Wir vertrauen den Weg zum Hundertjahrjubiläum der heiligen Maria, der Ursache unserer Freude, und dem heiligen Josef, dem Vorbild der Treue, an.
Rom, 18.12.2023
1 „Josefmaria Escrivá de Balaguer hat im Opus Dei die Regionalversammlungen oder Arbeitswochen vorgesehen als Werkzeuge der Reflexion, der Teilhabe und des Einander-Zuhörens unter den Mitgliedern des Werkes. Von Anfang an hatten sie beratenden Charakter und dienten dazu, jedem die Möglichkeit zu geben, die eigene Ansicht über Themen zu äußern, die den Geist und die Formen der Ausbreitung des Opus Dei auf der ganzen Welt betreffen“ (José Luis González Gullón, “Las semanas de trabajo en los años fundacionales”, Studia et Documenta 17, 2023, S. 268).
2 Studia et Documenta n. 17 (2023): 279-351 (https://www.isje.org/setd/2023/SetD-17-2023-10-CANO.pdf).
3 Josemaría Escrivá de Balaguer, Cartas (II), Rialp (2022): Carta n. 6.
4 Josemaría Escrivá de Balaguer, Cartas (I), Rialp (2020): Carta n. 4 (https://opusdei.org/es-es/article/carta-caridad-san-josemaria/).