Brief des Prälaten (März 2008)

Die Karwoche rückt näher. Bischof Echevarría lädt dazu ein, Gott und den Nächsten mit vermehrter Anstrengung, zu lieben.

Es hat mir große Freude gemacht, vor zwei Wochen für achtundvierzig Stunden in Holland zu sein. Wie immer auf diesen kurzen Reisen – wie auch auf den längeren – danke ich Gott dafür, die Einheit des Werkes, das cor unum et anima una (1) spüren zu dürfen, wo doch alle so verschieden sind. Unser Vater, der um diese Verschiedenheit von Anfang an gebetet hat, war sehr dankbar, als er sie immer mehr verwirklicht sah und feststellen konnte, dass diese Vielfalt eine stärkere und freudigere Einheit begünstigte.

Wir nähern uns bereits der Karwoche und Ostern. Die Hälfte der Fastenzeit ist vorüber, und wir sollten unseren Schritt beschleunigen. Im sportlichen Wettkampf verdoppeln die Läufer ihre Anstrengung, wenn sie sich dem Ziel nähern. Wenn sie bis dahin ihre Kraft noch nicht voll eingesetzt haben, so verausgaben sie sich nun in der Hoffnung, eine gute Zeit zu erreichen oder sogar zu gewinnen. Manches Mal kommt mir in den Sinn, dass die Zeit schneller läuft als unsere Wünsche nach Heiligkeit und Bekehrung. Und das sollte nicht so sein, denn wir müssen immer im Schrittmaß Gottes gehen.

Verhalten wir uns wie die Sportler. Denn was sind diese Wochen anderes als ein Training, um geläutert zu den Ostertagen zu gelangen, die uns von neuem ermöglichen, uns inniger mit dem Sieg Christi über die Sünde und den Tod zu verbinden? Das bekannte Bild aus dem Sport, das wir auch beim hl. Paulus finden (2), ist von den Kirchenvätern weiter entfaltet worden. Schaut, wie sich zum Beispiel der hl. Leo der Große ausdrückt. Er fordert die Christen auf, ihre Anstrengungen zu verdoppeln, "um den Siegeskranz beim Lauf im geistlichen Stadion zu erlangen" (3); und er erläutert auch den Grund, warum wir uns in diesen Wochen mehr als sonst bemühen sollen: "Niemand von uns ist so vollkommen und so heilig, dass er nicht noch vollkommener und noch heiliger sein könnte. Daher wollen wir alle zusammen, ohne Unterschied des Ranges und ohne Unterschied der Verdienste, mit frommem Eifer von dem Punkt, wo wir sind, dahin laufen, wohin wir noch nicht gelangt sind" (4).

Im vergangenen Monat habe ich Euch vorgeschlagen, besonders die Abtötung und die Buße zu pflegen. Heute möchte ich bei der Übung der leiblichen und geistigen Werke der Barmherzigkeit verweilen, die ebenfalls in der Fastenzeit im Vordergrund stehen. In seiner Botschaft zur Fastenzeit dieses Jahres hat der Papst sich auf das Almosen konzentriert. Er macht darauf aufmerksam, dass dieser Akt der Nächstenliebe den Notleidenden zu Hilfe kommt, gleichzeitig aber auch eine asketische Übung ist, um die Seele von der Gebundenheit an irdische Güter zu befreien (5).

Wenn wir den Bedürftigen zu Hilfe kommen, so wie es uns Christus im Evangelium lehrt (6), dann werden wir dem Herrn immer ähnlicher, der auf die Erde gekommen ist, um die Menschen von ihrem Elend, vor allem von der Sünde zu befreien; gleichzeitig leisten wir Jesus selbst einen Dienst, der sich mit den Geringsten seiner Brüder hat identifizieren wollen: "Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen."(7)

Im Licht dieser Worte des Herrn erkennen wir, dass die Werke der Liebe und besonders das Almosengeben die rein materielle Sphäre übersteigen und sich vor allem als ein Zeichen der Liebe erweisen, mit der Gott selbst uns liebt: Jedes Mal, wenn wir aus Liebe zu Gott unsere Güter mit dem bedürftigen Nächsten teilen, erfahren wir, dass die Fülle des Lebens aus der Liebe kommt und dass alles zu uns zurückkehrt als Segen des Friedens, der inneren Zufriedenheit und Freude.(8)

Jeder setze also nach seinen Möglichkeiten das so tief im Evangelium verwurzelte Werk der Nächstenliebe in die Tat um, mit dem der Herr selber für den, der sie ausübt, eine besondere geistliche Fruchtbarkeit verbunden hat, denn die Liebe deckt viele Sünden zu (9); und wir alle brauchen wahrhaftig die Vergebung Gottes.

Die Kirche hat die praktische Nächstenliebe nie als auf den materiellen Bereich begrenzt verstanden, wie es nur zu verständlich ist. Denn es gibt in der Tat viele Arme, denen es nicht an wirtschaftlichen Mitteln fehlt, sondern an Zuwendung, an Liebe; ihr Leben verläuft in trauriger Einsamkeit oder umgeben von kalter Gleichgültigkeit. Diese Perspektive lässt uns verstehen, was der heilige Josefmaria nicht müde wurde zu betonen: "Die Liebe besteht mehr im »Verstehen« als im »Geben«" (10). Diese geistliche Maxime hat viele Anwendungsbereiche im normalen Leben und wird immer hochaktuell sein.

Auch wenn mit dem sozialen Fortschritt auf Dauer die dringendsten körperlichen Bedürfnisse – wie Ernährung, Kleidung, Unterkunft, medizinische Versorgung usw. – befriedigt werden, so wird doch nie der Mangel an Zuneigung, Verständnis, Verzeihung, Anteilnahme behoben sein, den viele Leute verspüren. Während die ersteren seitens des Staates planvoll angegangen werden können, gehören die zweiten zur Intimsphäre eines jeden, wo die persönliche Beziehung unersetzlich ist. Hier liegt vor den Christen ein weites Feld, um den anderen den Trost der Liebe Christi zu bringen.

"Liebe – Caritas – wird immer nötig sein, auch in der gerechtesten Gesellschaft. Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen als Menschen abzuschaffen. Immer wird es Leid geben, das Tröstung und Hilfe braucht. Immer wird es Einsamkeit geben. Immer wird es auch die Situationen materieller Not geben, in denen Hilfe im Sinn gelebter Nächstenliebe nötig ist. Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht, wird letztlich zu einer bürokratischen Instanz, die das Wesentliche nicht geben kann, das der leidende Mensch – jeder Mensch – braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung" (11).

Bei der aufmerksamen Lektüre des Evangeliums entdecken wir genau das. Sicher sorgt sich Jesus um die Scharen, die nichts zu essen haben, um die Kranken, die man zu ihm bringt, damit er sie heilt, um die Menge, die die Heilsbotschaft hören möchte (12)… Aber er kümmert sich auch um die Einzelnen: Er wendet sich dem Aussätzigen zu, der zu seinen Füßen um Heilung bittet; er spricht allein mit Nikodemus, der die Wahrheit sucht; er führt am Brunnen von Sichar ein langes Gespräch mit der Samariterin, um sie zu bekehren; er spricht die reuige Sünderin im Haus des Pharisäers an und gießt Gottes Vergebung in ihre Seele  (13)…

Von den ersten Christen sagte man voller Bewunderung: "Seht, wie sie einander lieben!" (14)Dieses Lob für unsere ersten Geschwister im Glauben müsste auch jetzt ertönen, wo immer sich ein Jünger des Meisters befindet. So ist der folgende Hinweis des hl. Josefmaria ganz aktuell: "Wenn du merkst, dass du jetzt oder sonst so oft in deinem Alltag dieses Lob nicht verdienst und dass dein Herz nur schwerfällig auf die göttlichen Anregungen eingeht, dann erkenne auch, dass jetzt die Zeit gekommen ist, den Kurs zu begradigen. Beherzige die Aufforderung des heiligen Paulus: Lasst uns denn allen Gutes tun, besonders jenen, die durch den Glauben derselben Familie wie wir angehören (Gal 6, 10), dem mystischen Leib Christi." (15) Daher, so fährt unser Vater fort, "besteht unser wichtigstes Apostolat als Christen, das beste Glaubenszeugnis gegenüber der Welt, darin, dass wir innerhalb der Kirche für eine Atmosphäre echter Liebe sorgen. Wenn wir uns nicht wirklich lieben und statt dessen Anfeindungen, Verleumdungen und Intrigen Raum geben, wie kann sich dann jemand von solchen angeblichen Verkündern der frohen Botschaft des Evangeliums angezogen fühlen?" (16)

Am nächsten 15. März feiern wir liturgisch das Hochfest des hl. Josef, das in diesem Jahr vorverlegt wurde, weil der 19. auf den Mittwoch der Karwoche fällt. Das Leben des hl. Patriarchen, das ganz und gar der Sorge um Jesus und Maria gewidmet war, zeigt uns eine Liebe, die bis zum völligen Vergessen seiner selbst geht. Wenn wir am 19. März unsere Hingabe an Gott erneuern und voll Staunen das Beispiel dieses Mannes betrachten, dann wollen wir uns in die Wahrheit vertiefen, dass – wie der hl. Johannes erläutert – die Liebe zu Gott ihren konkreten Ausdruck in der Liebe zum Nächsten findet. "Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns hingegeben hat. So müssen auch wir für die Brüder das Leben hingeben. Wenn jemand Vermögen hat und sein Herz vor dem Bruder verschließt, den er in Not sieht, wie kann die Gottesliebe in ihm bleiben? Meine Kinder, wir wollen nicht mit Wort und Zunge lieben, sondern in Tat und Wahrheit." (17)

In seiner Botschaft zur Fastenzeit erinnert der Papst an die Witwe, die einige Geldstücke in den Tempelschatz wirft. Diese arme Frau wird von Jesus für ihre Großzügigkeit gelobt, denn sie hat alles gegeben, was sie besaß. Daraus, dass diese Szene sich historisch während der Tage vor dem Leiden und Tod des Herrn, des größten Zeichens der Liebe Gottes, abspielt, zieht Benedikt XVI. eine konkrete Lehre: "Wir können lernen, aus unserem Leben eine Gabe zu machen; indem wir ihn nachahmen, wächst die Bereitschaft, nicht nur von unserem Besitz zu geben, sondern uns selbst.

Ist nicht etwa das ganze Evangelium in dem einen Gebot der Liebe zusammengefasst? Die Praxis des Almosens in der Fastenzeit wird also zu einem Mittel, in unserer christlichen Berufung voranzuschreiten. Wenn der Christ sich hingibt ohne zu zählen, bezeugt er: Nicht der materielle Reichtum diktiert die Gesetze der Existenz, sondern die Liebe." (18)

Ich bete dafür, dass die andächtige Teilnahme an der Liturgie der drei österlichen Tage uns anregen möge, den Reueschmerz wegen unserer Sünden zu erneuern, die der Grund für das Leiden des Herrn sind; und auch, unsere Liebe zu Gott und unsere Dankbarkeit zu vermehren, so dass wir uns verstärkt im materiellen und geistlichen Dienst an den Menschen, die Gott jeweils an unsere Seite stellt, verausgaben. Wie möchtest du Jesus in diesen Tagen begleiten? Mit welchem Eifer versuchst du, keine Geste des Meisters zu verpassen, seinen heiligen Leichnam zu bewachen mit deinem Gebet und deiner Sühne – welches zwei Arten sind, Liebe zu zeigen?

Außer den liturgischen Festen bringt uns der März noch weitere Gedenktage. Am 11. ist der Geburtstag unseres geliebten Don Alvaro; und am 23. der Jahrestag seines Heimgangs in den Himmel vor nunmehr vierzehn Jahren. An den Tagen zuvor war er im Heiligen Land auf den Spuren Christi gewandelt und hat uns dabei ein wunderbares Beispiel der Frömmigkeit hinterlassen. Bitten wir Gott, er möge uns allen eine so große Treue zum Geist des Werkes gewähren, wie sie im Leben dieses treuen Vaters und Hirten des Opus Dei aufleuchtet.

Und ich möchte Euch daran erinnern, dass es am 19. März fünfundzwanzig Jahre her sind, dass die päpstliche Bulle, mit der das Opus Dei als Personalprälatur errichtet wurde, übergeben wurde. Wie Don Alvaro versicherte, omnia bona pariter cum illa, brachte die Erfüllung des besonderen Anliegens unseres Vaters wirklich viel Gutes für das Werk. Ein Blick auf das vergangene Vierteljahrhundert genügt, um viele Gründe zur Dankbarkeit der Heiligsten Dreifaltigkeit gegenüber zu finden – und wir kennen sie keineswegs alle! Meine Töchter und Söhne, sorgen wir uns liebevoll um das Werk, wiederholen wir häufig jenes Stoßgebet des hl. Josefmaria, das von seinem ersten Nachfolger ergänzt wurde: Cor Mariae dulcissimum, iter para et serva tutum! Und danken wir dem Diener Gottes, Johannes Paul II., dass er ein so fügsames Werkzeug in den Händen Gottes gewesen ist. Unser Vater nahm dieses Anliegen jeden Tag in seine Messe. Wir wollen uns seiner eucharistischen Frömmigkeit anschließen und dazu auch den Jahrestag seiner Priesterweihe am 28. März nutzen.

Heute gehen meine Besinnungstage zu Ende. Ich bitte Euch, mich mit Euren Gebeten zu unterstützen, damit auch ich mich in dieser Fastenzeit von Grund auf bekehre und so geläutert zum Osterfest gelange. Ich möchte voller Liebe zu Gott, zu meinen Töchtern und Söhnen und zu allen Menschen sein.

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(1) Apg 4, 32 (Vg)

(2) vgl. 1 Kor 9, 24-27; Phil 3, 12-14

(3) Hl. Leo der Große, 7. Homilie über die Fastenzeit

(4) Hl. Leo der Große, 2. Homilie über die Fastenzeit

(5) vgl. Benedikt XVI., Botschaft für die Fastenzeit 2008, 30.10.2007, Nr. 1

(6) vgl. Mt 6, 2-4

(7) Mt 25, 35-36

(8) Benedikt XVI., Botschaft für die Fastenzeit 2008, 30.10.2007, Nr. 4

(9) 1 Petr 4, 8

(10) Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 463

(11) Benedikt XVI., Enzyklika Deus caritas est, 25.12.2005, Nr. 28

(12) vgl. Mt 14, 13-21; Mk 1, 32-34; Mk 6, 33-34

(13) vgl. Mt 8, 1-4; Joh 3, 1-21; Joh 4, 7-30; Lk 7, 36-50

(14) Tertullian, Apologeticus 39

(15) Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 225

(16) Ebd., Nr. 226

(17) 1 Joh 3, 16-18

(18) Benedikt XVI., Botschaft für die Fastenzeit 2008, 30.10.2007, Nr. 5