Betrachtungstext: 4. Dezember – 5. Tag der Novene zur Unbefleckten Empfängnis

Hunger und Durst nach Gott – Ein mitfühlender Blick – Die Nahrung Jesu

SELIG, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden (Mt 5,6). Als Jesus diese Seligpreisung verkündete, meinte er weniger eine physiologische als eine viel tiefergehende Bedürftigkeit. Ihm stand auch nicht bloß eine angemessene Verteilung der materiellen Güter vor Augen, sondern eher das Bedürfnis, das der Psalmist beschreibt, wenn er sagt: Gott, mein Gott bist du, dich suche ich, es dürstet nach dir meine Seele. Nach dir schmachtet mein Fleisch wie dürres, lechzendes Land ohne Wasser (Ps 63,2). Es handelt sich um einen Hunger, den gewöhnliche Nahrung nicht stillen kann. Wie der heilige Augustinus kommentierte: „Du hast uns für dich geschaffen, Herr, und unser Herz ist unruhig, bis es ruht in dir.“1

Diese innere Not erlebte die Jungfrau Maria, als sie nach dem Paschafest in Jerusalem auf dem Heimweg mit Josef plötzlich feststellte, dass ihr zwölfjähriger Sohn nicht in Sicht war. Sie hatten gedacht, er sei mit der Pilgergruppe mitgekommen, doch es stellte sich heraus, dass dies nicht der Fall war. In ihrer Sorge suchten sie ihn bei den Verwandten und Bekannten. Als sie ihn nicht fanden, kehrten sie nach Jerusalem zurück und suchten nach ihm (Lk 2,44-45). Man kann sich die Ängste vorstellen, die das Fehlen des Kindes in ihnen auslöste – Ängste, die wir nachempfinden können, wenn wir jenen verlieren, der unsere tiefsten Sehnsüchte stillen kann. Der heilige Josefmaria drückte dies aus, als er sagte: „Wo ist Jesus? Herrin, das Kind ... Wo ist es? Maria weint. Vergeblich sind du und ich von einer Gruppe zur anderen, von einer Reisegesellschaft zur nächsten gelaufen: Sie haben ihn nicht gesehen. Umsonst versucht Josef, seine Tränen zurückzuhalten – jetzt weint auch er ... Und du ... und ich ...“2

In jedem Menschen gibt es ein Verlangen nach Fülle, das nicht weniger als ein Zeichen der Gegenwart Gottes in unserer Seele ist. Es ist ein Hunger, der uns darauf hinweist, wer wir sind und wo wir hinwollen. Es ist kein Verlangen, das im Moment befriedigt werden kann, sondern das unser gesamtes Leben in die richtigen Bahnen lenken soll. Wie Papst Franziskus betont, kann es „die Saiten im Tiefsten unseres Wesens zum Schwingen“ bringen und erlischt auch nicht angesichts von Schwierigkeiten oder Rückschlägen. „Es ist wie mit dem Durst: Wenn wir nichts zu trinken finden, bedeutet das nicht, dass wir aufgeben; im Gegenteil, die Suche beschäftigt unsere Gedanken und Handlungen immer mehr, bis wir bereit sind, jedes Opfer zu bringen, um ihn zu stillen, fast wie besessen. Hindernisse und Misserfolge ersticken die Sehnsucht nicht, nein, im Gegenteil, sie machen sie sogar noch lebendiger in uns.“3 An jenem Tag verspürte Maria die Sehnsucht nach ihrem Sohn mehr den je, denn für den Moment hatte sie denjenigen verloren, der ihrem Leben Sinn gab.


NACH DREI Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen. Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten (Lk 2,46-47). Marias Durst nach Jesus war gestillt. Doch neben der Freude, ihren Sohn wiedergefunden zu haben, empfand sie auch Verwunderung: Was trieb dieses Kind dazu, die Gelehrten Israels zu belehren?

Jesus stillte den Hunger dieser Menschen nach Gott, denn zu diesem Zweck war er gesandt worden. Und wenn er diese älteren Menschen im Tempel betrachtete, fühlte er etwas Ähnliches wie später bei der Brotvermehrung: Ich habe Mitleid mit diesen Menschen; sie sind schon drei Tage bei mir und haben nichts mehr zu essen (Mt 15,32). Der Herr versteht unsere Leiden und will, wie damals, dass seine Jünger ihre Gleichgültigkeit überwinden und aktiv werden: Gebt ihr ihnen zu essen! (Mk 6,37). Der heilige Josefmaria drückte sich so aus: „Wir wünschen uns das Wohl, das Glück und die Freude der Menschen, die uns nahestehen; uns bedrückt das Los jener Menschen, die nach Brot und nach Gerechtigkeit hungern und dürsten, das Los jener, die die Bitternis der Einsamkeit spüren, das Los jener, die an ihrem Lebensabend keinen liebevollen Blick und keine helfende Hand finden.“4

Es ist anzunehmen, dass Jesus nach dem Vorbild seiner Mutter einen besonders mitfühlenden Blick entwickelt hat. Maria zeigt in vielen Momenten ihre Aufmerksamkeit für die Bedürfnisse der anderen: Sie erkennt, dass ihre Cousine Elisabeth ihre Fürsorge schätzen würde, sie bemerkt, dass in Kana der Wein fehlt, sie begleitet die Apostel bei den ersten Schritten der Kirche ... Und auch heute steht sie allen ihren Kindern bei, um ihren Hunger und Durst nach Gott zu stillen.


MARIA und Joseph staunten, als sie ihren Sohn in dieser Pose im Tempel antrafen. Seine Mutter näherte sich ihm und sagte: Warum hast du uns das angetan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht. Daraufhin hören wir Jesus die ersten Worte sagen, die die Schrift von ihm aufzeichnet, und sie können etwas verstörend wirken: Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört? (Lk 2,48-49).

Jesus spricht bei mehreren Gelegenheiten darüber, was seine eigentliche Nahrung ist. Zum Beispiel, als er die samaritanische Frau trifft. Sein Durst war nicht so sehr auf das Wasser gerichtet als vielmehr darauf, dieser Frau das Reich Gottes zu verkünden. Und als die Apostel darauf bestehen, dass er isst, sagt er, dass er eine Speise hat, die sie nicht kennen, nämlich: Den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat, und sein Werk zu vollenden (Joh 4,34). Worin aber der Wille des Vaters besteht, zeigt uns die Tempelszene deutlich: allen das Heil zu verkünden. In aller Deutlichkeit wird Jesus einmal sagen: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt (Mt 4,4). Die Verkündigung der Frohbotschaft ist daher, wie Papst Franziskus sagte, „die größte Gerechtigkeit, die dem Herzen der Menschheit angeboten werden kann, die sie unbedingt braucht, auch wenn sie sich dessen nicht bewusst ist“5.

Der Evangelist hält fest, dass Maria und Josef die Worte ihres Sohnes nicht vollständig verstanden. Zugleich betont er, dass Jesu Mutter alle diese Dinge in ihrem unbefleckten Herzen bewahrte (vgl. Lk 2,51). Maria nimmt in ihrem eigenen Leben vorweg, was ihr Sohn als wesentliches Merkmal seiner Jünger hervorheben wird: Wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter (Mt 12,50). Bitten wir Maria, uns zu zeigen, wie auch wir uns diese Speise zunehmend zu eigen machen können, um damit unseren tiefsten Hunger und Durst zu stillen.


1 Hl. Augustinus, Bekenntnisse I, 1.

2 Hl. Josefmaria, Der Rosenkranz, 5. Freudenreiches Geheimnis.

3 Franziskus, Audienz, 12.10.2022.

4 Hl. Josefmaria, Liebe zur Kirche, Nr. 47.

5 Franziskus, Audienz, 11.3.2020.