VIELE KLASSISCHE Denker stimmen darin überein, dass Verfehlungen für den Menschen auf dieser Erde unvermeidlich sind. Im Römerbrief schildert der heilige Paulus seine eigene Erfahrung: Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das vollbringe ich (Röm 7,19). Damit bestätigt Paulus eine alte Weisheit des Volkes Israel: Siebenmal fällt der Gerechte und steht wieder auf (Spr 24,16). Neben der Erfahrung der Sünde haben wir jedoch die Gewissheit, dass Jesus uns vergibt. Als Petrus den Meister fragte, wie oft er vergeben solle, antwortete der Herr: Ich sage dir nicht: Bis zu siebenmal, sondern bis zu siebzigmal siebenmal (Mt 18,22). Diese Haltung der Barmherzigkeit steht nicht im Widerspruch zu einer anderen Aussage Jesu: Es ist unvermeidlich, dass Ärgernisse kommen. Aber wehe dem, durch den sie kommen! (Lk 17,1).
Im Evangelium ist jemand, der Ärgernis gibt, eine Person, die andere durch ihr Verhalten vom Guten abbringt oder zum Bösen verleitet. Jesus spricht mehrfach darüber, besonders wenn er die Lebensweise mancher Pharisäer kritisiert: Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen, aber richtet euch nicht nach ihren Taten; denn sie reden nur, tun es aber nicht (Mt 23,3). Diese Pharisäer sollten das Gesetz des Mose verkörpern, doch ihr Leben stand im Widerspruch zu ihren Worten. Solche Inkohärenz ist, wie Papst Franziskus sagte, „eine der gefährlichsten Waffen, die der Teufel nutzt, um das Volk Gottes zu schwächen und vom Herrn zu entfernen. Das eine sagen und etwas anderes tun – das ist Inkohärenz, die zum Ärgernis wird.“ Er fordert uns auf, „uns zu fragen: Wie steht es um meine Kohärenz? Lebe ich im Einklang mit dem Evangelium, im Einklang mit dem Herrn?“1
Jesus prangert die Sünde des Ärgernisses an und lobt hingegen die Einheit des Lebens: Sieh, ein echter Israelit, an dem kein Falsch ist (Joh 1,47). Das demütige Zeugnis jener, die sich von Gott lieben lassen, bringt Licht in die Welt und kann anderen helfen, das Antlitz Gottes zu entdecken.
ES WÄRE BESSER für ihn, man würde ihn mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer werfen, als dass er für einen von diesen Kleinen zum Ärgernis wird (Lk 17,2). Die eindringliche Aussage Jesu verdeutlicht den ernsthaften Schaden, den man jenen zufügen kann, die aufgrund ihres Alters oder ihrer Schwäche besonders schutzbedürftig sind. Im Evangelium zeigt Jesus immer wieder eine besondere Zuneigung zu den Kleinen und Schwachen.
Diese Zuwendung Gottes zu den Schwächsten wird bis heute sichtbar durch Eltern und andere Menschen, die sich der Kinder annehmen. Papst Franziskus betonte in einer Audienz: „Sobald die Kinder geboren sind, erhalten sie, neben Nahrung und Fürsorge, die Bekräftigung ihrer geistigen Liebesfähigkeit. Die Gesten der Liebe zeigen sich durch die Gabe des persönlichen Namens, die gemeinsame Sprache, den Austausch von Blicken, das Strahlen eines Lächelns. So lernen sie, dass die Schönheit der menschlichen Verbundenheit unsere Seele anspricht, unsere Freiheit berührt, das Anderssein des Anderen akzeptiert, ihn als Gesprächspartner anerkennt und achtet. (...) Und das ist Liebe, die einen Funken der Liebe Gottes mitbringt!“2
Diese Liebe Gottes zu den Schwächsten kann nur von einem Menschen angenommen werden, der sich selbst als Kind versteht. Der heilige Josefmaria sagte, dass „alles Gewundene und Komplizierte, dieses Kreisen und Immer-wieder-Kreisen um das eigene Ich eine Mauer bildet, die häufig verhindert, dass einer die Stimme des Herrn hört“3: Es ist die Mauer der Selbstgenügsamkeit. Die Einfachheit hingegen öffnet uns für die Erfahrung der Liebe. Wir bitten Gott um die Gabe der geistlichen Kindschaft, um uns von Jesus als seine geliebten Kinder betrachten zu lassen; wir beten auch für die schwächsten Menschen, die niemanden haben, der ihnen in ihrer Verletzlichkeit beisteht.
WENN DEIN BRUDER sündigt, weise ihn zurecht; und wenn er umkehrt, vergib ihm! Und wenn er sich siebenmal am Tag gegen dich versündigt und siebenmal wieder zu dir kommt und sagt: Ich will umkehren!, so sollst du ihm vergeben (Lk 17,3). Jesus offenbart hier sein Herz voller Liebe und Erbarmen und fordert uns zu unserem eigenen Glück auf, diese Haltung ebenfalls zu leben. Wir wissen allerdings aus Erfahrung, dass Vergeben oft schwerfällt. Vielleicht bitten die Apostel Jesus deshalb nach seiner Rede über Vergebung und die Vermeidung von Ärgernissen: Stärke unseren Glauben (Lk 17,5). Es braucht manchmal Vertrauen und Glauben, um zu akzeptieren, dass wir wirklich immer vergeben sollen.
Papst Benedikt XVI. erklärte, dass „Vergebung keine Verleugnung von Vergehen ist, sondern eine Teilhabe an der heilenden und verwandelnden Liebe Gottes, die versöhnt und wiederherstellt“4. Wenn wir vergeben, ahmen wir die Haltung des Herrn nach und arbeiten gemeinsam mit ihm an unserer Rettung und der des anderen. Das Bewusstsein, dass Jesus immer vergibt, sollte uns dazu bewegen, ohne Groll zu leben und keine Hindernisse aufzustellen, wenn es darum geht, anderen zu vergeben. Der heilige Johannes Chrysostomus mahnt uns: „Gott verabscheut niemanden, aber er weist den zurück, der Groll hegt und im Zorn verharrt.“5
Durch die Erfahrung von Gottes Vergebung gewinnen wir Einsicht in die Güte und Schönheit seiner Liebe. Diese Erkenntnis erweitert unseren Geist, befreit uns von Stolz und ermöglicht uns, die Welt durch die Augen Jesu zu sehen. Bitten wir Maria, das Urbild des Glaubens, um ihre Hilfe, damit wir diesen Blick auf uns selbst und auf unsere Mitmenschen gewinnen.
1 Franziskus, Tagesmeditation, 13.11.2017.
2 Franziskus, Audienz, 14.10.2015.
3 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 90.
4 Benedikt XVI., Botschaft, 27.4.2012.
5 Hl. Johannes Chrysostomus, Über den Verrat des Judas, 2.