Betrachtungstext: 30. Woche im Jahreskreis – Samstag

„Das ganze Leben des Herrn hat es mir angetan“ – Christus erhebt unsere Wünsche – Die Demut lässt uns die eigene Größe anerkennen

Korb mit einem Tuch und darin fünf Broten und zwei Fischen

„ES IST nicht möglich, in Christus den Gott-Menschen vom Erlöser zu trennen“1, schrieb der heilige Josefmaria. Während seines Erdenlebens brachte Jesus Christus in jeder seiner Handlungen seinen Erlösungsauftrag zum Ausdruck. Alles, was er tat, diente seinem Wunsch, uns von der Sünde zu befreien. Unablässig bekundete er den göttlichen Eifer, den er ausgehend von Worten des Jesaja zu Beginn seines öffentlichen Wirkens angekündigt hatte: Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe (Lk 4,18-19).

Jesu Erlösungswille zeigte sich besonders in seinen Wundern und in seiner Predigt. Er zeigte sich aber auch in den alltäglichen Handlungen wie einem Gespräch bei Tisch oder einem gemeinsamen Weg mit seinen Jüngern. Deshalb sagte der heilige Josefmaria: „Das ganze Leben des Herrn hat es mir angetan.“2 Jesus in der gesellschaftlichen Realität seiner Zeit agieren zu sehen, hilft uns, diese Umstände zu heiligen: Auch diese Momente sind Teil unserer Identität als Christen.

Lukas berichtet, dass Jesus an einem Sabbat in das Haus eines führenden Pharisäers zum Essen (Lk 14,1) kam. Wir können davon ausgehen, dass er die Einladung annahm, um in einem ruhigeren Rahmen, außerhalb der Hektik des Alltags, die Heilsbotschaft zu verkünden. Ob bei einem Festmahl, einer zufälligen Begegnung an einem Brunnen oder beim Betrachten eines Kindertanzes: Jesus legte seine Mission nie ab. Vielmehr verwandelte er diese Ereignisse in den Ort, an dem seine Sendung konkret wird. Der heilige Josefmaria leitete aus den Berichten des Evangeliums das Ziel für einen jeden Apostel ab: „Das ist deine Aufgabe als christlicher Staatsbürger: dazu beizutragen, dass die Liebe und die Freiheit Christi alle Äußerungen unseres heutigen Lebens prägen: Kultur und Wirtschaft, Arbeit und Freizeit, Familienleben und das ganze soziale Miteinander …“3


BEIM Bankett beobachtet Jesus, wie sich einige Geladene die Ehrenplätze aussuchten (Lk 14,7). Infolgedessen beschließt er, ein Gleichnis zu erzählen: Wenn du von jemandem zu einer Hochzeit eingeladen bist, nimm nicht den Ehrenplatz ein! Denn es könnte ein anderer von ihm eingeladen sein, der vornehmer ist als du, und dann würde der Gastgeber, der dich und ihn eingeladen hat, kommen und zu dir sagen: Mach diesem hier Platz! Du aber wärst beschämt und müsstest den untersten Platz einnehmen (Lk 14,8-9).

Jesus beginnt seine Belehrung, indem er auf die Suche des Menschen nach Anerkennung eingeht, ohne sie zu verurteilen. Keiner ist besser als Christus in der Lage, die väterliche Hand Gottes in diesen Sehnsüchten zu entdecken. Jesus liest in jeder Seele und zieht die menschlichen und edlen Sehnsüchte, die er vorfindet, heran, um sie zu erheben und auf eine übernatürliche Ebene zu heben. Ähnlich versuchte der heilige Josefmaria, den Rat, den er den Menschen erteilte, die sich an ihn wandten, auf Wünsche zu gründen, die Gott in ihre Herzen gelegt hatte: „Lass zu, dass deine Seele sich in Sehnsüchten verzehrt … Sehnsucht nach Liebe, nach Selbstvergessenheit, nach Heiligkeit, nach dem Himmel … Verliere dich nicht in Gedanken darüber, ob all das auch einmal Wirklichkeit werden wird – wiewohl so mancher überkluge Ratgeber dir dazu rät. Nein, entfache deine Sehnsüchte immer mehr: denn der Heilige Geist selbst sagt, dass ihm die Menschen gefallen, die große Wünsche im Herzen tragen.“4

Jesus nennt ihnen eine Möglichkeit, um dem Anspruch nach einer gesellschaftlichen Sonderstellung sogar noch näher zu kommen: Vielmehr, wenn du eingeladen bist, geh hin und nimm den untersten Platz ein, damit dein Gastgeber zu dir kommt und sagt: Mein Freund, rück weiter hinauf! Das wird für dich eine Ehre sein vor allen anderen Gästen (Lk 14,10). Christus ermutigt uns, nicht bei der menschlichen Anerkennung stehenzubleiben, die legitim und ehrenvoll ist, sondern die göttliche zu suchen, die die einzig wirklich wertvolle Anerkennung ist. Und auch wenn eine großzügige Geste von uns von den anderen zumeist unbemerkt bleibt, so wissen wir doch mit Gewissheit, dass Gott sie gesehen hat. Dies ist der Weg, der uns zu ihm führt und der uns zugleich, wie Papst Franziskus sagte, „zu dem führt, was im Leben wesentlich ist, zu seiner wahrsten Bedeutung, zum verlässlichsten Grund, warum das Leben es wert ist, gelebt zu werden. Nur die Demut öffnet uns für die Erfahrung der Wahrheit, der echten Freude, der Erkenntnis, die zählt.“5 Worauf es ankommt, ist nicht, nach der Logik der Welt groß zu sein, sondern klein und einfach zu werden, denn so finden wir Christus.


DER KERN der Lehre, die Jesus bei diesem Festmahl erteilt, ist die Demut: Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden (Lk 14,11). Eine der ersten Voraussetzungen, um in das Himmelreich zu gelangen, ist die zu wissen, wo wir stehen, um in unserer wahren Identität als Mitglieder dieser neuen Familie wachsen zu können. Um dies zu tun, ist es notwendig, die tiefe Bedeutung der Demut zu verstehen, jener Tugend, die, wie der heilige Josefmaria sagte, „uns gleichzeitig zur Erkenntnis der eigenen Armseligkeit wie der eigenen Größe verhilft“6.

Die Demut erleichtert es uns, zu erkennen, dass wir alles vom Herrn erhalten haben. Der Stolz hingegen verleitet uns dazu, in unsere eigenen Sicherheiten zu vertrauen. In diesem Sinne sprach der heilige Josefmaria von zwei Arten von Stolz: einem schlechten, der unsere Schwächen ausblendet, und einem guten, der die Wahrheit und das Wirken unseres Herrn in unserem Leben erkennt. Der heilige Josefmaria schrieb: „Es ist eine schlechte Vergöttlichung, wenn sie uns blind macht, wenn sie uns nicht erlaubt, klar zu sehen, dass wir auf tönernen Füßen stehen, denn der Prüfstein zur Unterscheidung zwischen guter und schlechter Vergöttlichung ist die Demut. Sie ist also gut, solange man nicht das Bewusstsein verliert, dass diese Vergöttlichung ein Geschenk Gottes, eine Gnade Gottes ist; sie ist schlecht, wenn die Seele sich selbst – ihren Werken, ihren Verdiensten, ihrer Vortrefflichkeit – die geistige Größe zuschreibt, die ihr gegeben wurde.“7

Dieser gute Stolz führt uns dazu, unser Elend nicht abzulehnen und es als Tür zu sehen, durch die wir Gott Einlass gewähren. Und genau das ist unsere Größe: dass Gott uns durch seine Barmherzigkeit in seinen Augen sehr wertvoll machen wollte. Die Demut begünstigt also, dass wir die Armut der Bedürftigen annehmen, um bei Gott zu betteln, ihn hereinzulassen, ihm zu erlauben, unsere scheinbaren Sicherheiten zu verändern. Wenn ein Herz „so zufrieden ist mit sich selbst“, schreibt Papst Franziskus, „dass kein Platz bleibt für das Wort Gottes, dafür, die Brüder und Schwestern zu lieben oder sich an den wichtigsten Dingen des Lebens zu erfreuen. So beraubt es sich der größten Güter. Daher nennt Jesus die Armen im Geiste glücklich, die ein armes Herz haben, in das der Herr mit seiner steten Neuheit eintreten kann.“8 Maria, die nur auf die göttliche Anerkennung bedacht war und ihre Sicherheit auf Gott setzte, erlangte den wahren Reichtum ihres Lebens: Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter (Lk 1, 48).


1 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 122.

2 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 56.

3 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 302.

4 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 628.

5 Franziskus, Audienz, 22.12.2021.

6 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 94.

7 Hl. Josefmaria, Briefe 2, Nr. 6.

8 Franziskus, Gaudete et Exsultate, Nr. 68.