Betrachtungstext: 25. Woche im Jahreskreis – Sonntag (A)

Christus ruft alle in seinen Weinberg – Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens – Gott will das Beste für einen jeden

Landschaft mit Weinbergen und vielen Weinreben in der Sonne

BEI EINER GELEGENHEIT verglich der Herr das Himmelreich mit einem Gutsherrn, der frühmorgens ausging, um Arbeiter für seinen Weinberg anzuheuern (vgl. Mt 20,1-16). Als er die ersten Tagelöhner antraf, vereinbarte er mit ihnen den üblichen Lohn von einem Denar pro Tag und schickte sie aufs Feld. Als er später noch einige andere auf dem Markt stehen sah, die keine Arbeit hatten, entschied er, auch diese einzustellen. Er legte nicht fest, wieviel er ihnen bezahlen würde, sondern sagte er nur: Ich werde euch geben, was recht ist.

Mit diesem Satz schürte der Gutsherr alle möglichen Erwartungen. Einige nahmen an, dass die Nachzügler weniger verdienen würden als jene, die den ganzen Tag am Feld standen. Andere erwarteten, dass die Frühgekommenen eine Sonderprämie erhalten würden, wenn auch die Nachzügler einen ganzen Denar erhielten. Doch am Ende erhielten alle den gleichen Lohn. Da begannen die Arbeiter, die seit Tagesanbruch im Weinberg gearbeitet hatten, gegen den Besitzer zu murren. Er schien nicht zu berücksichtigen, dass sie die ganze Last des Tages und der Hitze getragen hatten. Da erwiderte der Gutsherr einem von ihnen: Freund, dir geschieht kein Unrecht. Hast du nicht einen Denar mit mir vereinbart? Nimm dein Geld und geh! Ich will dem Letzten ebenso viel geben wie dir. Darf ich mit dem, was mir gehört, nicht tun, was ich will?

Papst Franziskus kommentierte dazu bei einem Angelus-Gebet: „Jesus will uns den Blick jenes Gutsbesitzers betrachten lassen: den Blick, mit dem er einen jeden der Arbeiter anschaut, die auf Beschäftigung warten, und sie ruft, in seinen Weinberg zu gehen. Es ist dies ein Blick voller Aufmerksamkeit und Wohlwollen; es ist ein Blick, der ruft, der einlädt, aufzustehen, sich aufzumachen, da er das Leben für einen jeden von uns will, ein volles, engagiertes Leben, der Leere und Trägheit entrissen.“1 Christus nimmt alle auf, auch wenn sie – wie der gute Schächer (vgl. Lk 23,43) – erst in der letzten Stunde kommen. Wie der Prophet Jesaja sagte, soll der Frevler nach dem Wunsch Gottes seinen Weg verlassen, der Übeltäter seine Pläne. Er kehre um zum Herrn, damit er Erbarmen hat mit ihm, und zu unserem Gott; denn er ist groß im Verzeihen. Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege – Spruch des Herrn (Jes 55,7-8).


GERECHTIGKEIT wird traditionell als die Tugend verstanden, die uns veranlasst, jedem das Seine zu geben. Sie ist also eine innere Bereitschaft, die unterstreicht, dass wir in Beziehungen leben. Dabei sollten wir uns zunächst fragen, was wir Gott schulden oder wie wir eine gerechte Beziehung zu demjenigen aufbauen können, der die Quelle alles Guten ist, angefangen von unserem eigenen Leben.

Ein guter Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist der Dialog zwischen Priester und Gläubigen, mit dem die Präfation der Heiligen Messe beginnt: „In Wahrheit ist es würdig und recht, dir allmächtiger Vater, zu danken.“2 Auf den ersten Blick scheinen Dankbarkeit und Gerechtigkeit im Widerspruch zueinander stehen: Ein Geschenk zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es eine unverdiente – und ungeschuldete – Gabe ist. Dankbarkeit ist die Anerkennung dessen, dass jemand über das Geschuldete hinausgegangen ist. Vor Gott jedoch ändern sich diese Koordinaten radikal, denn er ist der Ursprung von allem, was wir sind und haben. Wie der heilige Paulus sagt: Was hast du, das du nicht empfangen hättest? (1 Kor 4,7). Unser Leben selbst ist ein unverdientes Geschenk; daher ist die Dankbarkeit Gott gegenüber eine tiefe Pflicht. Wir können ihm niemals vergelten, was er für uns tut, und darin liegt keine Ungerechtigkeit. Dennoch ist da etwas zutiefst Geschuldetes, zutiefst Gerechtes: ihm für alles zu danken.

Die Erkenntnis, dass unsere Beziehung zu Gott auf seiner freien Gabe beruht, führt uns dazu, das Leben als seine Kinder zu genießen. Und sie befreit uns von einer Sichtweise des Glaubens, die zu sehr auf die buchstäbliche Erfüllung der Gebote ausgerichtet ist. Anstatt uns von einer endlos scheinenden Liste von Vorschriften erdrücken zu lassen, mit denen wir den Preis für unsere Erlösung zu begleichen versuchen, haben wir eine Alternative: Wir können unsere Antwort auf Gottes Liebe als die Bereitschaft sehen, ihm jeden Augenblick unseres Lebens zu schenken. Wir tun dies in der Überzeugung, dass wir ihm nie genug für all das danken können, was er uns gegeben hat. So kann zum Beispiel die Treue zu einem geistlichen Lebensplan weniger als Gewissenslast aufgrund eingegangener Verpflichtungen empfunden werden, sondern vielmehr als direkter Ausdruck unserer Dankbarkeit gegenüber der Liebe, die Gott über jeden von uns ausgießt und die es uns erlaubt, ihm jederzeit nahe zu sein. Der heilige Josefmaria drückte es treffend aus: „Wenn ihr euch wirklich um Gerechtigkeit bemüht, werdet ihr oft eure Abhängigkeit von Gott betrachten – denn was hast du, das du nicht empfangen hättest? (1 Kor 4,7) –, und dies wird euch zu einer tieferen Dankbarkeit führen und den Wunsch in euch stärken, der grenzenlosen Liebe des Vaters besser zu entsprechen.“3


DIE INNIGE Dankbarkeit gegenüber Gott befreit uns von dem übermäßigen Verlangen, sein Handeln zu beurteilen. Wir können uns manchmal bei persönlichen Schwierigkeiten oder auch gesellschaftlichen Krisen so oder so ähnlich fragen: „Wie kann Gott so etwas zulassen?“ Wir können denken, dass andere Menschen gesegneter sind als wir und unsere Gebete unbeantwortet bleiben, und dann klagen: „Wie ungerecht.“ In solchen Momenten verhalten wir uns wie die Tagelöhner, die den ganzen Tag hart gearbeitet haben und es nicht fair fanden, dass der Gutsbesitzer großzügig zu jenen war, die er erst am späten Nachmittag eingestellt hatte. Statt sich darüber zu freuen, dass die Tagelöhner etwas zu essen kaufen konnten, waren sie in ihrer Erwartung enttäuscht, eine höhere Gnade zu empfangen.

Auch ist es wenig sinnvoll, Gott die Schuld für das Leid in der Welt zuzuschieben. Vieles davon resultiert aus der menschlichen Freiheit, aus Handlungen und Unterlassungen von uns selbst und anderen. Wir müssen uns in unserem Gebet davon überzeugen, dass Gott der Herr unseres Lebens und der Geschichte ist und dass er, obwohl er uns im Grunde genommen nichts schuldet, aber die Liebe selbst ist, immer das Beste für einen jeden von uns will. Und dabei wandelt er oft auch auf überraschende Weise Böses in Gutes. Der heilige Papst Johannes Paul II. wies auf die Tatsache der menschlichen Grenzen hin: „Die Gerechtigkeit übersteigt in gewisser Weise den Menschen, die Dimensionen seines irdischen Lebens und seine Möglichkeiten, in dieser Welt vollkommen gerechte Beziehungen unter allen Menschen herzustellen.“4

Das Gebet derer, die sich als Kinder Gottes wissen, zeichnet sich durch tiefes Vertrauen in den Einen aus, der uns unendlich liebt und immer unser Bestes will. So betet Jesus im Garten am Ölberg: Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht mein, sondern dein Wille soll geschehen (Lk 22,42). Wir können uns vorstellen, dass die Gottesmutter am Fuße des Kalvarienbergs ein ähnliches Gebet an Gott gerichtet hat. Obwohl sie in dieser Situation mit unermesslichem Leid konfrontiert war, vertraute sie auf den Herrn und wusste, dass sich letztendlich alles zum Guten wenden würde, wie der heilige Josefmaria betonte: „Gott lässt sich an Freigebigkeit nicht übertreffen.“5


1 Franziskus, Angelus-Gebet, 24.9.2017.

2 Schott-Messbuch, Eucharistisches Hochgebet.

3 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 167.

4 Hl. Johannes Paul II., Audienz, 8.11.1978.

5 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 623.