Betrachtungstext: 23. Woche im Jahreskreis – Sonntag (A)

Eine Familie, die sich für uns einsetzt – Auf einen Bruder oder eine Schwester schauen wie Gott – Die Zurechtweisung des Petrus durch Jesus

ALS DER HERR mit seinen Jüngern nach Galiläa kam, hielt er eine Rede, in der er einige Aspekte des Lebens in der Kirche beschrieb. Eines dieser Merkmale ist die Brüderlichkeit: Die Christen wachen über ihre Brüder und Schwestern, so wie Christus es tat, um sie alle zum Vater hinzuziehen. Jesus wusste sehr wohl, dass wir oft stur sind und im Zusammenleben andere verletzen können, die uns nahestehen. Für solche Situationen bietet er uns eine mutige Lösung. Anstatt dem anderen das Vertrauen zu entziehen oder sich von ihm zu distanzieren, gibt er seinen Jüngern den Rat: Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, dann geh und weise ihn unter vier Augen zurecht! Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen (Mt 18,15).

Die evangelische Praxis der brüderlichen Zurechtweisung besteht darin, dass uns ein anderer, nachdem er es im Gebet erwogen hat, eine Empfehlung gibt zur Verbesserung eines konkreten Aspekts unseres Lebens. Diese Hilfe gibt uns die Sicherheit, Teil einer Familie zu sein, die sich um uns kümmert. Sie zeigt, dass wir für jemanden wichtig sind und dass wir Unterstützung benötigen. Sie ist das Ergebnis davon, dass wir jemanden an unserer Seite haben, der uns nicht nur bei wichtigen Lebensentscheidungen berät, sondern der uns auch in den alltäglichen Herausforderungen versteht und ermutigt, auch wenn es oft dieselben Dinge sind. Auf diese Weise kann uns dieser Bruder oder diese Schwester in unserer Not beistehen. Die brüderliche Zurechtweisung ist das genaue Gegenteil von Kritik, Verleumdung oder Rufschädigung. Während letztere ein Urteil und eine Verurteilung beinhalten, ist diese brüderliche Hilfe eine Umarmung, die uns umfängt und uns ermutigt, positiv in die Zukunft zu blicken. Der Herr setzt darauf, dass andere Menschen uns mit seiner Gnade helfen, die beste Version von uns selbst zu sein, mit unserer Geschichte und unseren einzigartigen Eigenschaften. Wie Don Fernando Ocáriz, der Prälat des Werkes, geschrieben hat: „Gott bedient sich häufig echter Freundschaften, um sein Erlösungswerk zu vollbringen.“1


IN DER HEILSGESCHICHTE sehen wir, dass Gott stets innerhalb eines Volk, einer Gemeinschaft, einer Familie, einer Gruppe von Freunden wirkt; die Vorstellung, dass unsere Heiligkeit nicht darauf angewiesen ist, was andere für uns tun, könnte Zeichen einer gewissen Isolation sein. Es ist daher nur natürlich, dass es in einem freundschaftlichen Umfeld zur brüderlichen Zurechtweisung kommt. Dennoch ist ein erster Schritt, um Hilfe zu leisten, Verständnis füreinander zu haben. Es verhindert, dass wir an unbedeutenden Kleinigkeiten hängen bleiben, und lädt uns stattdessen ein, uns in die tiefe Sehnsucht nach Heiligkeit einzufinden, die das Handeln eines jeden Christen übernatürlich belebt und nach und nach alle Aspekte des täglichen Lebens durchdringt.

Der heilige Josefmaria betonte, dass die Liebe mehr „im Verstehen“ als „im Geben“ besteht.2 In erster Linie führt sie dazu, die Tugenden und Qualitäten anderer Menschen zu sehen. Wenn wir unserem Bruder oder einer Schwester helfen, versuchen wir, sie so zu sehen, wie Gott sie sieht, und wir versuchen, sie als etwas Wertvolles zu betrachten, indem wir das Gute in ihnen hochschätzen ebenso wie ihre Möglichkeiten, in der Liebe zu reifen. Was die Praxis der brüderlichen Zurechtweisung antreibt, ist daher nicht so sehr der Anspruch, eine äußere Ordnung aufrechtzuerhalten, sondern der Wunsch, dass die Person, die uns nahe steht, noch glücklicher wird. Diese Überzeugung, ihr Glück zu suchen, impliziert den größten Respekt vor ihrer Freiheit, denn nur so kann Brüderlichkeit feinfühlend und wahrhaftig sein.

„Versetze dich immer in die Lage deines Nächsten“, empfahl der heilige Josefmaria. „So wirst du alle Fragen und Schwierigkeiten gelassen und, ohne ärgerlich zu werden, betrachten können: Du wirst verstehen, entschuldigen, wenn nötig zurechtweisen ... und so dazu beitragen, dass es in der Welt mehr Liebe gibt.“3 Verstehen bedeutet nicht, den Schaden zu ignorieren, den wir erlitten haben, oder das, was die andere Person unserer Ansicht nach besser machen könnte; vielmehr ermöglicht es uns zu verstehen, dass wir alle Liebe und vor allem Vergebung benötigen, „so wie Gott“ – das sind Worte von Benedikt XVI. – „es mit jedem von uns getan hat und tut“4. Und es lehrt uns, dass Fehler in unserer Beziehung zu den anderen nicht das letzte Wort haben können. Wie der Prälat des Werkes schrieb, können wir sicher sein, „dass das Positive das Negative bei weitem überwiegt. Jedenfalls ist das Negative kein Grund zur Trennung, sondern zum Gebet und zur Hilfe; zu mehr Zuneigung, wenn es möglich ist; und gegebenenfalls zur brüderlichen Zurechtweisung.“5


JESUS SELBST praktizierte die brüderliche Zurechtweisung bei mehreren Gelegenheiten. Am auffälligsten ist vielleicht die Zurechtweisung von Petrus, nachdem dieser den Herrn nach dessen Ankündigung seines Todes und seiner Auferstehung mit den Worten gerügt hatte: Das soll Gott verhüten, Herr! Das darf nicht mit dir geschehen! Christus korrigierte Petrus' Ansicht umgehend, indem er sagte: Tritt hinter mich, du Satan! Ein Ärgernis bist du mir, denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen (Mt 16,22-23). Es ist bemerkenswert, dass Jesus denjenigen, dem er kurz zuvor die Schlüssel des Himmelreichs anvertraut hat, nun „Satan“ nennt. Noch erstaunlicher ist aber vielleicht, dass es von Seiten des Petrus keine negative Reaktion gibt. Die meisten Menschen hätte es zutiefst erschüttert, einen solchen Vorwurf aus dem Munde Christi zu hören.

Petrus verstand vielleicht nicht vollständig, was gerade geschah. Aber eines war ihm klar: dass Christus ihn von ganzem Herzen liebte. Jesus war nicht nur der erwartete Messias, sondern auch ein Freund, der sich um ihn sorgte, der ihm fortwährend Zuneigung zeigte und der ihm nach und nach die tiefen Geheimnisse seiner Heilspläne offenbarte. Die Zurechtweisung zielte in erster Linie darauf ab, Petrus‘ Sichtweise von Grund auf zu ändern. Daher stürzte ihn der Vorwurf trotz seiner Härte nicht in die Entmutigung, denn er war überzeugt, dass Jesus nur sein Bestes wollte und ihn an seiner göttlichen Weisheit teilhaben ließ. Und Christus wusste genau, wie er Petrus ansprechen konnte. Seine Worte deuten darauf hin, dass er großes Vertrauen in Petrus hatte und wusste, dass dieser aus dem Tadel Nutzen ziehen konnte, ohne sich verletzt zu fühlen.

Papst Franziskus betont, dass man „einen Menschen nicht lieblos und ohne Nächstenliebe zurechtweisen“6 kann. Die brüderliche Zurechtweisung benötigt einen Kontext – wie den, der zwischen Jesus und Petrus herrschte –, in dem Nähe, aufrichtiges Interesse und echte Sorge um das Leben des anderen spürbar geworden sind. Sie setzt voraus, dass man den Bruder oder die Schwester gut kennt. Mehr als ein Ausgangspunkt für eine freundschaftliche Beziehung ist sie eine weitere Etappe auf dem Weg der Brüderlichkeit, die es uns ermöglicht, viele Meilen gemeinsam zu gehen. Bitten wir Maria, uns zu helfen, über unsere Brüder und Schwestern wachen und sie mit einem verständnisvollen Blick wie dem ihren aufnehmen zu können.


1 Msgr. Fernando Ocáriz, Pastoralbrief, 1.11.2019, Nr. 5.

2 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 463.

3 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 958

4 Benedikt XVI., Botschaft zur Fastenzeit 2012, Nr. 1.

5 Msgr. Fernando Ocáriz, Pastoralbrief, 16.2.2023, Nr. 4.

6 Franziskus, Tagesmeditation, 12.9.2014.