Betrachtungstext: 2. Woche der Fastenzeit – Samstag

Die Leere des jüngeren Sohnes – Die Sehnsucht des Vaters – Die Freiheit des älteren Sohnes

DIE PHARISÄER und Schriftgelehrten munkelten untereinander. Sie ertrugen es nicht, dass der Herr sich mit öffentlichen Sündern traf. Doch Jesus kannte ihre Gedanken und trug ihnen drei Gleichnisse vor, um sie erahnen zu lassen, wie die Liebe Gottes in Wirklichkeit ist. Als erstes erzählte er ihnen das Gleichnis vom Hirten, der seine Herde zurücklässt, um das verlorene Schaf zurückzuholen (vgl. Lk 15,4-7). Dann das von der Frau, die ihr ganzes Haus auf den Kopf stellt, bis sie die verschollene Drachme wiederfindet (vgl. Lk 15,8-10). Schließlich hielt er sich bei einer längeren Geschichte auf: der vom verlorenen Sohn und vom barmherzigen Vater (vgl. Lk 15,11-32).

Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere von ihnen sagte zu seinem Vater: Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht! Da teilte der Vater das Vermögen unter sie auf (Lk 15,11-12). Hierauf packte der junge Mann alles zusammen und zog in die Ferne. Er wollte ein ganz anderes Leben beginnen, die häusliche Disziplin hinter sich lassen. Er dachte, er würde, wenn er seinen Leidenschaften freien Lauf ließe, endlich das Glück finden, das er so sehr ersehnte. Doch als das Vermögen ausgegeben war, überkam ihn neuerlich die Einsamkeit und Langeweile. Benedikt XVI. schildert seinen Zustand so: „Immer stärker wächst das Gefühl, dass dies noch nicht das Leben ist; ja, je länger diese ganze Situation andauert, um so weiter entfernt sich das Leben. Alles wird leer: Auch jetzt stellt sich die Sklaverei wieder ein, immer dasselbe tun zu müssen.“1

Der junge Mann war so verzweifelt, dass er anfing, Schweine zu hüten, gern hätte er seinen Hunger mit den Futterschoten gestillt, die die Schweine fraßen (Lk 15,16). Doch in diesem Moment erkannte er, dass sein Lebensniveau sogar noch unter dem dieser Tiere lag. Da ging er in sich und sagte: Wie viele Tagelöhner meines Vaters haben Brot im Überfluss, ich aber komme hier vor Hunger um. … Dann brach er auf und ging zu seinem Vater (Lk 15,17.20). „In gewisser Weise ist das menschliche Leben eine ständige Heimkehr ins Haus unseres Vaters“, predigte der heilige Josefmaria, „Heimkehr durch Reue, diese Bekehrung des Herzens, die den Wunsch, uns zu ändern, in sich schließt, den festen Entschluss, unser Leben zu bessern, und die sich daher auch in Werken des Opfers und der Hingabe äußert. Wir kehren heim ins Haus unseres Vaters durch das Sakrament der Vergebung, indem wir, unsere Sünden bekennend, Christus anziehen und so seine Brüder werden, Glieder der Familie Gottes.“2


SEIT SEIN jüngerer Sohn ausgezogen war, war der Vater nicht mehr derselbe wie früher. Oft fragte er sich: „Was wird wohl aus ihm geworden sein? Wo wird er sich aufhalten? Wird es ihm gut gehen?“ Täglich stieg er aufs Dach in der Hoffnung, seinen Sohn über die Straße zurückkehren zu sehen. So vergingen die Monate, bis er einmal fernab eine Person erspähte, die sich seinem Anwesen näherte. Auch wenn er wegen der Entfernung unmöglich erkennen konnte, wer es war, war dem Vater klar: Er war es. Und er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn (Lk 15,20).

In der Tiefe seines Herzens hatte der Vater auf diesen Moment gewartet. Daher konnte er sich nun nicht zurückzuhalten. Als der Sohn beginnt, ihm die Rede vorzutragen, die er vorbereitet hatte, um seine Verzeihung zu erlangen – Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt –, scheint er nicht einmal hinzuhören. Die gesetzten Worte interessieren ihn nicht. Er möchte nur eines: diesen Moment richtig genießen. Holt schnell das beste Gewand und zieht es ihm an, steckt einen Ring an seine Hand und gebt ihm Sandalen an die Füße! Bringt das Mastkalb her und schlachtet es; wir wollen essen und fröhlich sein (Lk 15,22-23). Er will nicht, dass sein Sohn sich Selbstvorwürfe macht, sooft er sich an seine vergangenen Sünden erinnert. Daher bietet er ihm einen warmen, herzlichen Empfang. Papst Franziskus streicht dies heraus: „Der Vater hätte sagen können: Na gut, mein Sohn, komm nach Hause, geh zurück an die Arbeit, geh in dein Zimmer, packe aus und geh an die Arbeit! Und das wäre eine gute Vergebung gewesen. Aber nein! Gott kann nicht vergeben, ohne zu feiern! Und der Vater feiert, weil er sich freut, dass sein Sohn zurückgekehrt ist.“3

Angesichts der väterlichen Umarmung erkennt der Sohn, dass das Glück, bei seinem Vater zu sein, viel tiefer ist als das, was er aus anderen Genüssen gewinnen konnte. Und es ist auch sicherer, denn nicht einmal seine Sünden konnten verhindern, es wiederzuerlangen: „Du hast recht, du steckst in tiefem Elend“, beschreibt der heilige Josefmaria eine ähnliche Situation, „Auf dich selbst gestellt – wo wärest du jetzt, wie weit wärest du gekommen? ... Du siehst es ein: ,Nur eine Liebe, die voller Barmherzigkeit ist, vermag mich immer noch zu lieben.‘ Sei getrost: Wenn du ihn nur suchst, wird er dir weder seine Liebe noch seine Barmherzigkeit versagen.“4


WÄHREND all dieser Zeit war der ältere Sohn zu Hause geblieben. Er verbrachte seine Tage mit der Arbeit auf dem Gutshof und nahm sich der Bedürfnisse seines Vaters an. Doch sein Herz hatte sich von der Wirklichkeit, die er in Händen hatte, mehr und mehr entfernt. Oft, vor allem wenn die Tage intensiver waren, konnte er seine Fantasie nicht davon abhalten, sich dorthin zu begeben, wo sein Bruder war. Manchmal fühlte er sich sogar schuldig, weil er den Wunsch spürte, das Haus seines Vaters zu verlassen, denn das konnte er nicht tun: Er musste die Erwartungen erfüllen, die nun allein auf ihm, dem einzigen Sohn, lasteten.

Vielleicht war er in diese Gedanken vertieft, als er auf dem Rückweg von der Feldarbeit Musik und Gesang vernahm. Er erschrak und rief einen der Knechte, um herauszufinden, was da los war. Dein Bruder ist gekommen und dein Vater hat das Mastkalb schlachten lassen, weil er ihn gesund wiederbekommen hat (Lk 15,27). Aufgebracht weigerte er sich, sich dem Fest anzuschließen. Erst als der Vater herauskam, um ihn zu holen, ließ er Dampf ab: Siehe, so viele Jahre schon diene ich dir und nie habe ich dein Gebot übertreten; mir aber hast du nie einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte (Lk 15,29).

Es schmerzt den Vater zu wissen, dass sein Sohn nicht glücklich war, dass er die Pflichten des Elternhauses nur aus Gesetzestreue lebte. „Ich habe gehorcht, ich verdiene eine Gegenleistung.“ Er kritisiert oder tadelt ihn jedoch nicht für diese Haltung. Er antwortet lediglich: Mein Kind, du bist immer bei mir und alles, was mein ist, ist auch dein (Lk 15,31). „Wir sind nicht frei, wenn wir uns vom Haus des Vaters trennen“, erinnert der Prälat des Opus Dei, „sondern wenn wir uns als Kinder Gottes annehmen.“5 In Freiheit im Haus des Vaters zu leben, ist viel herrlicher als jedes gemästete Kalb. Deshalb bitten wir unsere Mutter, dass wir es zu genießen wissen, Kinder zu sein, und es verstehen, so oft wie nötig zum Vater zurückzukehren.


1 Benedikt XVI., Predigt, 18.3.2007.

2 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 64.

3 Franziskus, Angelus-Gebet, 27.3.2022.

4 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 897.

5 Msgr. Fernando Ocáriz, Pastoralbrief, 9.1.2018.

Foto: Nqobile Vundla (unsplash)