Betrachtungstext: 14. Woche im Jahreskreis – Montag

Die Bitte des Jaïrus – Die Diskretion einer Frau – Beharrliches Gebet

JAIRUS ist in der ganzen Stadt ein hoch angesehener Mann, von den Menschen geliebt und geachtet. Heute jedoch ist vielleicht der traurigste Tag seines Lebens: Gerade hat er mitansehen müssen, wie seine Tochter verstarb. Sie litt seit einiger Zeit an einer Krankheit, die trotz aller Versuche nicht geheilt werden konnte. Für viele war das traurige Ende vorhersehbar. Als die Leute in sein Haus strömen, um sich von dem kleinen Mädchen zu verabschieden, wird Jaïrus auf einmal klar, dass die Hoffnung noch nicht gänzlich verloren ist. Er hatte von einem Mann gehört, der Wunder vollbringt, und macht sich auf die Suche nach ihm. Als er ihn findet, wirft er sich vor ihm nieder und fleht ihn an: Meine Tochter ist eben gestorben; komm doch, leg ihr deine Hand auf und sie wird leben! (Mt 9,18).

In dem kurzen und eindringlichen Satz des Synagogenvorstehers liegt ebenso viel Trauer wie Hoffnung. Auf die erschütternde erste Nachricht – meine Tochter ist eben gestorben – folgt eine Bitte, die in Wahrheit eher ein Befehl ist: Komm, leg ihr deine Hand auf. Es ist eine dringende Bitte, die aus dem Glauben und dem Vertrauen in die Allmacht Jesu kommt. Deshalb beschließt er sie mit einer Gewissheit: Und sie wird leben. Die drei Akkorde des Gebetes des Jaïrus können uns als Vorbild für unser eigenes Gebet dienen. Der Mann trotzte dem gesunden Menschenverstand, als er sich an den Herrn wandte, und er tat es, weil er fest davon überzeugt war, dass ein Wunder möglich war.

„Alles hat seine Zeit“, sagte der heilige Josefmaria einmal, „unser Herr kennt unsere Nöte sehr gut. Aber er möchte, dass wir ihn mit der gleichen Beharrlichkeit bitten wie die Gestalten im Evangelium.“1 Die gläubige Bitte des Jaïrus muss Jesus sehr bewegt haben. So stand er auf und ging mit seinen Jüngern zum Haus des Mannes. Wir wissen nicht genau, wie empfänglich der Herr für unsere Probleme und Bitten ist, doch wir können sicher sein, dass er sie besser kennt als wir selbst. Auf jeden Fall möchte er uns durch unser Bittgebet an seinem Wirken teilhaben lassen. Abgesehen davon, stärkt das Bittgebet unseren Glauben und führt uns allmählich in das Geheimnis des Willens Gottes ein.


WÄHREND Jesus auf dem Weg zum Haus des Jaïrus war, näherte sich ihm unbemerkt eine kranke Frau. Matthäus berichtet, dass sie schon seit zwölf Jahren unter einem Blutfluss litt. In dieser Zeit hatte sie ihr gesamtes Vermögen für Heilmittel ausgegeben, jedoch ohne Erfolg. Die Szene lässt vermuten, dass sie sich schon oft an Gott gewandt und um Hilfe gebeten hatte. In diesem Moment spürte sie, dass Jesus ihr geben konnte, was sie sich so sehr wünschte. Sie trat von hinten heran und berührte den Saum seines Gewandes; denn sie sagte sich: Wenn ich auch nur sein Gewand berühre, werde ich geheilt (Mt 9,20-21).

Als der Herr merkte, dass eine Kraft von ihm ausgegangen war, wandte er sich um, und als er sie sah, sagte er: Hab keine Angst, meine Tochter, dein Glaube hat dich gerettet! (Mt 9,22). Anders als Jaïrus hatte es diese Frau nicht gewagt, ihre Bitte laut vorzutragen. Vielleicht schämte sie sich für ihre Krankheit und fühlte sich nicht stark genug, um allen Anwesenden ihr Leiden zu erklären. Stattdessen vollzog sie eine Geste, die menschlich gesehen nicht viel Sinn machte, die aber von einem kühnen Glauben zeugte: Sie berührte den Mantel Jesu. Und was alle damals verfügbaren Behandlungen nicht zustande gebracht hatten, wurde durch diesen gewagten und diskreten Akt des Glaubens erwirkt.

Papst Franziskus erklärte: „Daraus verstehen wir, dass auf dem Weg des Herrn alle zugelassen sind: niemand soll sich als Eindringling, Unbefugter oder Rechtloser empfinden. Für den Zugang zu seinem Herzen, zum Herzen Jesu, gibt es nur eine Voraussetzung: zu spüren, dass man der Heilung bedarf, und sich ihm anzuvertrauen.“2 Welche Krankheiten schleppe ich möglicherweise mit mir, über die ich vielleicht nicht einmal nachzudenken wage und die ich nicht nach außen tragen möchte, ähnlich wie jene kranke Frau? Glaube ich daran, dass Gott stark genug ist, mich zu heilen, wenn es das Beste für mich ist? Die Tochter des Jaïrus und diese Frau sind weitere Beispiele dafür, dass der Herr nicht für die Gerechten gekommen ist, sondern für die Sünder (vgl. Lk 5,32).


ALS Jesus das Haus des Jaïrus betrat und die Flötenspieler und die Menge der klagenden Leute sah, wandte er sich an die Anwesenden und sagte: Geht hinaus! Das Mädchen ist nicht gestorben, es schläft nur (Mt. 9,24). Wie der Evangelist berichtet, lachte die Menge daraufhin über ihn (vgl. Mt 9,23-24). Jaïrus fühlte sich wahrscheinlich entmutigt, als er dieses Gelächter hörte. Vielleicht dachte er zunächst, dass die Situation aussichtslos war: Seine Tochter war tot und damit hatte es sich. Doch er fasste schnell neuen Glauben und erneuerte seine Bitte. Er entschied, den Worten des Meisters Folge zu leisten, schickte alle Gäste weg und führte Jesus in das Zimmer seiner Tochter. Und dieser nahm das Mädchen bei der Hand und wirkte das Wunder: Da stand es auf (Mt 9,25).

Manchmal, wenn wir eine Bitte an den Herrn richten, können wir wie Jaïrus Momente der Hoffnungslosigkeit durchleben. Wir sehen, dass unsere Gebete nicht sofort Früchte tragen und andere Menschen unseren Glauben nicht ernst nehmen. Doch Gott legt großen Wert auf unser vertrauensvolles beharrliches Gebet, denn er weiß besser als wir, wie sehr wir durch diese Bemühung gestärkt und unsere Herzen in dieser Hoffnung geläutert werden. Tatsächlich liegt das eigentliche Wunder oft genau darin und ist deswegen vielleicht weniger sichtbar, aber umso tiefgreifender. Daher ist die Ausdauer ein Merkmal des Gebets. Papst Franziskus betont: „Gott ist geduldiger als wir, und wer mit Glauben und Beharrlichkeit an die Tür seines Herzens klopft, wird nicht enttäuscht. Gott antwortet immer. Immer. Unser Vater weiß gut, was wir brauchen; die Beharrlichkeit dient nicht dazu, ihn zu informieren oder zu überzeugen, sondern sie dient dazu, in uns die Sehnsucht und die Erwartung zu nähren.“3

Sowohl Jaïrus als auch die kranke Frau zeigen uns den Weg zum Herzen des Herrn: das eindringliche und demütige Bittgebet. Der Mann tut es ausdrücklich und klar; die Frau tut es diskret, aber mutig. Beide überzeugen Jesus durch die Anerkennung ihrer Not, ihre Kühnheit und ihren Glauben. Die Jungfrau Maria kann uns helfen, unsere Bitten auf diese Weise an ihren Sohn zu richten.


1 Hl. Josefmaria, Aufzeichnungen aus einem Beisammensein, 2.1.1971.

2 Franziskus, Angelusgebet, 1.7.2018.

3 Franziskus, Audienz, 11.11.2020.