Betrachtungstext: 10. Woche im Jahreskreis – Sonntag (A)

Gott ist barmherzig – Die Allmacht Gottes – Die Vergebung als Akt der Barmherzigkeit

AN LIEBE habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern (Hos 6,6), so tat sich Gott durch den Propheten Hosea dem auserwählten Volk kund. Nur scheinbar unvereinbar mit dieser Forderung von Liebe und Barmherzigkeit wirkt sein eigenes Handeln gegenüber zwei Stämmen Israels, worüber Gott selbst berichtet: Durch die Propheten habe ich zugeschlagen, habe sie durch die Worte meines Mundes umgebracht (ebd. v. 5). Gott hat mit starker Hand durchgegriffen, er hat es aber nicht gerne getan. Bitter klingt der Vorwurf, der die Bestrafung begründet: Eure Liebe ist wie eine Wolke am Morgen und wie der Tau, der bald vergeht (ebd. v. 4). Die Israeliten waren Gott gegenüber gleichgültig geworden und versuchten, ihre mangelnde Verbundenheit mit Schlacht- und Brandopfern wettzumachen. Gott musste die Stämme daher spüren lassen, dass sie sich auf Abwegen befanden, damit sie umkehrten; Gottes Gerechtigkeit steht also nicht im Gegensatz zu seiner Barmherzigkeit. 

Wenn die Pharisäer später einmal Jesus kritisieren werden, weil er mit einem Zöllner und öffentlich bekannten Sündern ein Mahl einnimmt, wird dieser sie ausdrücklich an jene Forderung Gottes erinnern: Darum lernt, was es heißt: ,Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer.‘ Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten (Mt 9,13). Und Papst Franziskus kommentiert: „Jesus betont, dass von nun an der Primat der Barmherzigkeit die Lebensregel seiner Jünger ist.“1

Es fällt jedoch nicht immer leicht, Gottes Güte und Barmherzigkeit in allem zu sehen, vor allem wenn wir Krankheit oder Tod, Ungerechtigkeit oder Hass, Einsamkeit oder Entfremdung zu spüren bekommen, am eigenen Leib oder bei nahestehenden Personen. Auch angesichts des Leids, das in der Welt auf die eine oder andere Weise, wegen persönlicher Schuld oder auch nicht, vorhanden ist, stellt sich die Frage, ob Gott wirklich barmherzig ist: Wie kann ein allmächtiger Gott gut sein, wenn das Böse existiert? Nicht selten kommt es zu einer falschen Gegenüberstellung von Allmacht und Güte Gottes, die den Glauben schwächt, anstatt ihn zu stärken.

„Oft ist es uns nicht gegeben“, nimmt Papst Benedikt Stellung, „den Grund zu kennen, warum Gott seinen Arm zurückhält, anstatt einzugreifen. (…) Im betenden Dialog sollten wir mit dieser Frage vor seinem Angesicht ausharren: Wie lange zögerst du noch, Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger? (Offb 6,10).“2 Und dann appelliert Benedikt an unseren Glaubenssinn: „Unser Protest will Gott nicht herausfordern, noch ihm Irrtum, Schwäche oder Gleichgültigkeit unterstellen. (…) Christen glauben nämlich trotz aller Unbegreiflichkeiten und Wirrnisse ihrer Umwelt weiterhin an die Güte und Menschenliebe Gottes (Tit 3,4). Obwohl sie wie alle anderen Menschen eingetaucht sind in die dramatische Komplexität der Ereignisse der Geschichte, bleiben sie gefestigt in der Hoffnung, dass Gott ein Vater ist und uns liebt, auch wenn uns sein Schweigen unverständlich bleibt.“3 Mit offenem Herzen wollen wir uns den Worten der heutigen Liturgie anschließen: „Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist die Kraft meines Lebens, vor wem sollte mir bangen?“4


WAS DEN PHARISÄERN nicht einmal in ihren kühnsten Albträumen in den Sinn gekommen wäre und sie in keinster Weise ahnten, war aber das: Jesus Christus saß mit dem Zöllner Matthäus nicht nur gemeinsam bei Tisch, sondern hatte ihn auch bereits in seine Nachfolge gerufen. Und Matthäus hatte Ja gesagt. Jesus beruft heute wie damals Menschen zur Hingabe, sei es im Ehestand oder im Zölibat. Wie Matthäus hören auch heute viele Menschen Gott an die Tür ihres Herzens klopfen; die göttliche Einladung äußert sich dabei häufig in einem unbändigen Verlangen nach einem Frieden und einer Freude, wie sie trotz aller und wiederholter Bemühungen in der Welt nicht zu finden sind. Wie leicht kann dieses Verlangen im Inneren aber gleichsam mundtot gemacht werden, weil man sich plötzlich dann doch wieder scheut, den Schritt zu tun! Ein übertriebenes Streben nach Sicherheit, ein allzu starkes Vertrauen auf die eigenen, selbstverständlich begrenzten Kräfte und das daraus resultierende Gefühl, der Heiligkeit, dem Glück, dem Frieden und der Freude, die Gott schenkt, nicht gewachsen zu sein, bringen die hochfliegendsten Lebensprojekte ins Wanken.

Doch Gott bleibt treu und verwirft den Menschen selbst dann nicht, wenn er seinem Vertrauen nicht entspricht. Gottes Barmherzigkeit umfängt selbst unsere Zurückweisung und zeigt sich gerade darin in ihrer unnachahmlichen Größe und Güte. Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken, bekräftigt Jesus (Mt 9,12). Und Gott gibt nicht auf. Bei Saulus zeigt sich Gottes barmherziges Wirken darin, dass er scheinbar gegen seinen Willen zu jenem Glauben geführt wird, der das auserwählte Volk von Anfang an beseelte und der die Kirche bis heute belebt. Doch auch Saulus wurde von Gott nicht einfach überrumpelt, vielmehr kannte Gott das Herz dieses Eiferers in seiner tiefsten Tiefe und wusste, dass er ihn suchte. Nun jubelt der Bekehrte, dass Gott die Macht besitzt, zu tun, was er verheißen hat (Röm 4,21). Der Glaube an, die Überzeugung von der Allmacht Gottes ist nicht vermessen. Dies beweist nicht nur die Geschichte unseres Vaters im Glauben, Abraham, oder des heiligen Paulus. Wir sehen das Wunder der Allmacht Gottes bis zum heutigen Tag ebenso in den vielen Jüngern, die den Ruf Jesu aufnahmen und sich bewusst sind, „gesandt zu sein, den Armen die Frohe Botschaft zu bringen und den Gefangenen die Freiheit zu verkünden“5, wie wir es in der heutigen Liturgie hören.

„Im Fall des Paulus ist das, was ihn verändert hat, nicht einfach nur eine Idee oder eine Überzeugung: Es war die Begegnung mit dem auferstandenen Herrn, die sein ganzes Dasein verwandelt hat“6, kommentiert Papst Franziskus das Ereignis, das dazu führte, dass aus dem Christenverfolger Saulus der ebenso glühende und kraftvolle Völkerapostel Paulus wurde, der das Evangelium Christi in der ganzen Welt verkünden und entscheidend zum Aufbau der Kirche beitragen sollte. Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden (2 Kor 5,17). Der apostolische Eifer entspringt nicht dem Studium oder anderen tiefen Einsichten und auch nicht der eigenen Initiative, sondern der Verwandlung durch Christus, wie Paulus hier schreibt. Der entscheidende Impuls für die Hingabe um des Evangeliums willen ist die Erfahrung der Liebe Gottes. In ihr besteht die Allmacht Gottes, durch sie erleben wir, wie Paulus, Barmherzigkeit, Vergebung und Verwandlung. Durch sie werden wir selbst zu jener Liebe fähig, die unsere Verkündigung glaubwürdig macht.


GEHT UND LERNT, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer! Denn ich bin nicht gekommen, um Gerechte zu rufen, sondern Sünder (Mt 9,13). Solange wir unterwegs sind, handelt Gott barmherzig und allmächtig an uns – um die einen in ihrem Ja zu ihrer Berufung täglich treuer werden zu lassen und die anderen durch Gebet, Opfer und den Beistand gläubiger Christen so zu leiten, dass jeder, wie der heilige Josefmaria sagte, „jenes göttliche Leuchten zu entdecken vermag, das selbst aus den ganz alltäglichen Wirklichkeiten hervorbricht“7. Zu den Äußerungen der Barmherzigkeit Gottes gehört die Vergebung. Es gibt keine Sünde, die Gott nicht bereit wäre, zu vergeben. Nur gegen die Ablehnung der Heilung bleibt Gott machtlos.

Weil uns vergeben wurde, sind wir gerufen, auch selbst zu vergeben. An der Vergebung kann man erkennen, so sagt Papst Franziskus, wer wirklich Gottes Kinder sind: „Die Vergebung von begangenem Unrecht wird zum sichtbarsten Ausdruck der barmherzigen Liebe, und für uns Christen wird sie zum Imperativ, von dem wir nicht absehen können“8, auch wenn es immer wieder schwer fällt. „Und doch ist die Vergebung das Instrument, das in unsere schwachen Hände gelegt wurde, um den Frieden des Herzens zu finden. Groll, Wut, Gewalt und Rache hinter uns zu lassen, ist die notwendige Voraussetzung für ein geglücktes Leben“9, so der Papst. Dabei geht es bei der Vergebung nicht um die Bagatellisierung der Tat, erklärt der christliche Philosoph Josef Pieper: „Nicht damit gemeint ist, etwas Schlechtes ,gut sein zu lassen‘, es einfach nicht wichtig zu nehmen – als sei da nur ein Versehen passiert. Vergeben kann man nur etwas, das man ausdrücklich für schlimm hält und dessen Negativität man gerade nicht ignoriert.“10

„Christus kam in diese Welt, der ewige Sohn wurde Mensch, gerade um zu vergeben“11, schreibt der Prälat des Opus Dei und lädt uns ein, seinem Beispiel zu folgen, denn, wie der heilige Johannes Chrysostomus sagte, „nichts macht uns Gott so ähnlich, als sich gegen die Bösen und Missetäter versöhnlich zu zeigen.“12 „Den anderen zu vergeben ist so entscheidend“, fährt Msgr. Fernando Ocáriz fort, „dass es Bedingung dafür ist, dass Gott uns vergibt. Wie gut ist es, Gott zu bitten, er möge uns lehren, immer und in Wahrheit zu vergeben. Mehr noch, wir wollen wagen, ihn wie unser Vater, der heilige Josefmaria, zu bitten, dass wir die anderen schließlich so sehr lieben, dass wir nicht lernen müssen zu vergeben. Es wäre großartig, dass wir uns danach sehnen, so weit zu kommen, uns niemals verletzt zu fühlen.“13

Ein junger Mann, der bei seinem Bischof in der Schweiz um die Aufnahme ins Priesterseminar gebeten hatte, ging nach Erhalt einer Absage nach Frankreich, um dort Priester zu werden. Zurückgekehrt in die Schweiz wurde er einem kleinen Dorf zugewiesen, wo er liebevoll das Grab der Eltern des Bischofs pflegte. Er hatte in seinem Herzen längst vergeben. Und der Bischof, der merkte, dass er sich geirrt hatte, bat ihn um Verzeihung. Bitten wir unsere Mutter um ein großmütiges, liebendes Herz, wenn es etwas gibt, das wir vergeben müssen.


1 Franziskus, Misericordiae vultus, 20.

2 Benedikt XVI., Deus caritas est, Nr. 38.

3 Ebd.

4 Schott-Messbuch, 10. Sonntag im Jahreskreis (A), Eröffnungsvers.

5 Schott-Messbuch, 10. Sonntag im Jahreskreis, Ruf vor dem Evangelium.

6 Papst Franziskus, Audienz, 29.3.2023.

7 Hl. Josefmaria, Gespräche, Nr. 119.

8 Franziskus, Misericordiae vultus, 9.

9 Ebd.

10 Josef Pieper, Über die Liebe, Kösel Verlag, IV.

11 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 16.2.2023.

12 Hl. Johannes Chrysostomus, Matthäus-Kommentar, XIX, 7, zitiert in Msgr. F. Ocáriz, Hirtenbrief, 16.2.2023.

13 Msgr. Fernando Ocáriz, Hirtenbrief, 16.2.2023.