JESUS ist tief ins Gebet versunken, eine Haltung, die seine Jünger oft bei ihm beobachtet haben. Sie sehnen sich danach, diese Vertrautheit mit Gott zu erlangen, die ihr Meister so natürlich lebt und die sich in seinen Worten, Taten und in seiner Freude widerspiegelt. Deshalb kommen sie mit einer Bitte zu ihm, der wir uns anschließen wollen: Herr, lehre uns beten (Lk 11,1). Und Jesus vertraut seinen Aposteln das Gebet an, das sein Leben prägt und sein innerstes Verlangen zum Ausdruck bringt, den Willen des Vaters zu tun und sich ihm vollkommen zu überlassen: Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel, so auf der Erde (Mt 6,9-10). Und was ist Gottes Wille? Unser Heil und unser Glück. Daran erinnert uns später auch Paulus: Das ist es, was Gott will: eure Heiligung (1 Thess 4,3).
Im Leben Jesu sehen wir, dass er den Willen des Vaters nicht bloß resigniert annimmt, sondern ihn fest umarmt – bis zum Äußersten, bis zur Hingabe seines Lebens für uns. Der heilige Josefmaria skizzierte die verschiedenen Weisen, Gottes Willen anzunehmen, indem er schrieb: „Schleppe dein Kreuz nicht hinter dir her ... Trage es fest auf deinen Schultern. Denn wenn du es so trägst, wird dein Kreuz nicht mehr irgendein Kreuz sein, sondern das Heilige Kreuz. Verliere nicht den Mut unter dem Kreuz. Resignation ist ein wenig großzügiges Wort. Liebe das Kreuz. Wenn du es wirklich liebst, wird dein Kreuz ... ein Kreuz ohne Kreuz sein.“1
Vom heiligen Irenäus stammt folgender wegweisende Gedanke: „Gottes Herrlichkeit ist der lebendige Mensch, das Leben des Menschen aber ist die Anschauung Gottes.“2 Vor dem Angesicht Gottes leben zu wollen, der seinen eigenen Sohn zu unserem Heil hingab, ist die beste Entscheidung, die wir treffen können – niemand sorgt sich so sehr um unser Seelenheil wie Gott. Das Gebet, das Jesus die Apostel gelehrt hat, ist im Wesentlichen ein „Ja“ zu Gottes Willen, der uns glücklich machen will. Wenn wir das Vaterunser beten und die Worte des Herrn in ihrer vollen Tiefe verstehen, erfüllt es uns mit Frieden, Sicherheit und Kraft.
GOTT hat alles unternommen, um den Menschen, die er liebt, nahe zu sein und ihnen seine Liebe zu offenbaren. Der heilige Alphons Maria von Liguori legte ihm bewegende Worte in den Mund: „Mensch, bedenke, dass ich dir mit meiner Liebe zuvorgekommen bin. Noch bevor du in die Welt kamst, ja noch bevor die Welt existierte, galt dir bereits meine Liebe. So wie ich mich als Gott von Ewigkeit her liebe, so warst auch du immer schon in dieser Liebe gegenwärtig.“3 Das Gebet, das Jesus seine Apostel lehrt, erinnert uns an unser wahres Wesen: Wir sind geliebte Kinder Gottes, von Ewigkeit her erwählt, an seiner Freude teilzuhaben. Doch da wir noch in der Zeit und in der Hinfälligkeit des menschlichen Daseins leben, fällt es uns oft schwer, diese göttliche Liebe in ihrer ganzen Fülle zu erfassen.
Von Beginn an zeigt uns Jesus, wie wir uns mit erstaunlichem Vertrauen an Gott wenden können. Diese Nähe zu Gott, die Jesus verkündet, wird letztlich der Grund für seine Verurteilung sein: Er hat Gott gelästert! Wozu brauchen wir noch Zeugen? (Mt 26,65). Gott ist den Menschen nie so nahe gekommen wie in der Person Jesu. Unser Gebet mit dem seinem zu verbinden, schenkt uns Hoffnung und befähigt uns, den Willen des Vaters zu erfüllen. Nach und nach schwindet die Angst vor dem Unbekannten, dem Neuen, dem Unkontrollierbaren. Das Bewusstsein, dass wir Gottes Kinder sind, treibt uns an, uns mutig aufzumachen und vom Licht unseres Vaters erleuchten zu lassen. Papst Benedikt sagte dazu: „Das Dunkel mag zeitweise bequem erscheinen. Ich kann mich verstecken und mein Leben verschlafen. Doch wir sind nicht zum Dunkel berufen, sondern zum Licht.“4
Das Vaterunser führt uns zu einem immer tieferen Verständnis unserer Gotteskindschaft. Papst Franziskus beschreibt dieses unverdiente Geschenk Gottes so: „Das Heil, das Gott uns anbietet, ist ein Werk seiner Barmherzigkeit. Es gibt keine menschliche Tat, so gut sie auch sein mag, die uns ein solch großes Geschenk verdienen ließe. Aus reiner Gnade zieht Gott uns an sich, um uns mit sich zu vereinen. Er sendet seinen Geist in unsere Herzen, um uns zu seinen Kindern zu machen, um uns zu verwandeln und uns fähig zu machen, mit unserem Leben auf seine Liebe zu antworten.“5
IM HIMMEL herrscht stets Freude, auch weil Gott so schnell bereit ist zu vergeben. Die Art der Vergebung, die Gott gewährt, übersteigt dabei unser menschliches Vermögen. Jesus lädt uns mit dem Vaterunser jedoch ein, zumindest die Logik des Gebens und Nehmens in unseren Beziehungen aufzugeben: Denn in einem Umfeld, das von Verdienen und Schulden geprägt ist – „wie du mir, so ich dir“ – kann die Liebe nicht gedeihen. Es gibt ein liturgisches Gebet, das von einem „heiligen Tausch“ zwischen Gott und uns spricht. Es ist voller Achtung und Liebe. Wir sagen darin: „Wir bringen dir unsere Gaben dar“, und bitten darauf: „Nimm sie gnädig an und schenke uns dich selbst.“6 So klingt göttliche Logik.
In der Beichte erfahren wir Gottes Vergebung auf besondere Weise. Es ist eine Vergebung, die befreit – und unserer menschlichen Denkweise ebenfalls widerspricht. Denn nicht unsere Taten rechtfertigen uns, sondern unsere Bereitschaft, zu Gott zurückzukehren. Die Beichte lässt uns Gottes unverdiente Liebe direkt spüren. Papst Franziskus ermutigt uns, dieser Liebe nachzueifern: „Wie oft befreien wir uns von inneren Lasten, wie dem Gefühl, nicht geliebt oder geachtet zu sein, indem wir beginnen, andere bedingungslos zu lieben!“7
Das Bewusstsein, dass uns von Gott vergeben wurde, hilft uns außerdem, mögliche Kränkungen in einem anderen Licht zu sehen. Der heilige Josefmaria empfiehlt: „Bemühe dich, immer und sofort denen zu vergeben, die dich kränken; denn egal, wie schwer der Schaden oder die Beleidigung sein mag, Gott hat dir noch mehr vergeben.“8 Bitten wir Maria darum, dass wir die befreiende Vergebung ihres Sohnes erfahren und sie in unserem Leben gegenüber anderen verwirklichen können.
1 Hl. Josefmaria, Der Rosenkranz, 4. Schmerzhaftes Geheimnis.
2 Hl. Irenäus von Lyon, Gegen die Häresien, 4. Buch, 20. Kapitel, Nr. 7.
3 Hl. Alfons Maria von Liguori, Jesus lieben lernen, S. 15-16.
4 Benedikt XVI., Predigt, 22.3.2008.
5 Franziskus, Evangelii gaudium, Nr. 112.
6 Römisches Messbuch, 20. Sonntag im Jahreskreis (C), Gabengebet.
7 Franziskus, Predigt, 26.7.2022.
8 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 452.
