DIE HEUTIGEN LESUNGEN erinnern uns an unsere Geburt und Verfassung als Kinder Gottes in Jesus Christus. In der ersten Lesung hören wir einen Abschnitt aus dem Buch Sacharja, das zahlreiche Hinweise auf den kommenden Messias enthält, die in den Evangelien eindeutig auf Christus bezogen werden. Sacharja kündigt den Einzug Jesu in Jerusalem auf einem Esel an, den Verrat durch Judas für dreißig Silberstücke, die Zerstreuung der Jünger nach der Verhaftung Jesu, die Finsternis in der Todesstunde Jesu – und, wie wir heute hören, die Durchbohrung der Seite des gekreuzigten Messias: Sie werden auf mich blicken, auf ihn, den sie durchbohrt haben (Sach 12,10) – ein Satz, mit dem der Evangelist Johannes seine Schilderung der Passion beschließt (Joh 19,37).
In Sacharjas Prophezeiung beklagen und beweinen die Menschen den, den sie – in ihrer Verblendung – selbst ans Kreuz geschlagen haben. Wie ist ein solcher Wandel möglich? So hören wir Sacharja sagen: Über das Haus David und über die Einwohner Jerusalems werde ich einen Geist des Mitleids und des flehentlichen Bittens ausgießen. An jenem Tag wird für das Haus David und für die Einwohner Jerusalems eine Quelle entspringen gegen Sünde und Unreinheit (Sach 13,1). Mit dem Opfer Christi ist eine neue Zeit angebrochen – die durchbohrte Seite Jesu ist zur Quelle geworden.
Es gibt kein erschütternderes Bild als das des Gekreuzigten, der sich bis zum Ende verschenkt. Schauen wir auf ihn. Blicken wir ihn an – und staunen wir über seine unbegreifliche Güte. Wie der heilige Josefmaria betonte, kommt Christus „nicht, um uns zu verurteilen oder uns unsere Bedürftigkeit und Bosheit vorzuwerfen: Er kommt, um uns zu retten, uns zu vergeben und zu entschuldigen, um uns Frieden und Freude zu bringen. Wenn wir einmal dieses tröstliche Verhältnis des Herrn zu seinen Kindern erkannt haben, verwandeln sich unsere Herzen wie von selbst, und wir werden sehen, wie sich vor unseren Augen ein vollkommen neues Panorama eröffnet, voll von Bedeutung, Tiefe und Licht.“1
DER HEILIGE PAULUS besuchte und missionierte die Galater auf seiner zweiten Missionsreise in Kleinasien. Sie nahmen ihn auf wie einen Engel und erklärten, sie wären bereit, ihre Augen auszureißen, um sie ihm zu geben (vgl. Gal. 4,13-15). Mit seinem Brief will Paulus diese junge Gemeinde in ihrem neuen Glauben festigen. Er erinnert sie an ihre große Würde: Durch die Annahme des Glaubens – in der Taufe – sind sie Söhne Gottes in Christus Jesus (Gal 3,26) und damit auch seine Erben geworden.
Papst Franziskus, der dem Galaterbrief eine eigene Katechese widmete, sagte zu dieser Stelle: „Die Kindschaft, von der Paulus spricht, ist nicht mehr jene allgemeine, die alle Menschen einbezieht, als Söhne und Töchter des einen Schöpfers. (…) Nein. Das in Christus (Gal 3,26) macht den Unterschied, und dies geschieht durch die Teilhabe an der Erlösung Christi, beginnend mit dem Sakrament der Taufe. Jesus ist unser Bruder geworden und hat uns durch seinen Tod und seine Auferstehung mit dem Vater versöhnt. Wer Christus im Glauben annimmt, hat ihn und die Würde der Kindschaft – durch die Taufe – angezogen (vgl. V. 27).“2
Die Taufe verleiht uns eine neue Identität, die alle Unterschiede übersteigt: Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus (Gal 3,28) – Worte von revolutionärer Kraft, über die man nicht hinweglesen sollte: „Paulus bestätigt die tiefe Einheit, die zwischen allen Getauften besteht, ganz gleich, welchem Lebensstand sie angehören, Männer wie Frauen, denn jeder ist in Christus ein neues Geschöpf. Alle Unterschiede treten zurück hinter die Würde, Kinder Gottes zu sein, der mit seiner Liebe eine wahre und grundlegende Gleichheit schafft. Wir alle sind gleich durch die Erlösung Christi und die Taufe, die wir empfangen haben: Söhne und Töchter Gottes – gleich (…). Unsere Verantwortung ist es nun, entschieden diesen Weg der Gleichheit zu gehen, jener Gleichheit, die aus der Erlösung in Christus erwächst.“3
EIN CHRISTLICHER Autor schrieb: „ Alle Menschen sind Kinder Gottes, ihres Schöpfers. Aber die Christen wissen es – oder sie sollten es wissen –, und zwar nicht theoretisch, sondern existentiell: Jesus Christus hat ihnen Gott als den Vater gezeigt, nicht ,im Bilde‘, sondern in Fleisch und Blut, nämlich in sich selbst.“4 Als Kinder Gottes zu glauben, führt uns notwendigerweise dazu, das Kreuz zu lieben – wenn Pläne scheitern, Krankheit sich einstellt, Arbeit zur Last wird oder kleine, häufige Widerwärtigkeiten das Leben begleiten. Denn Christus hat klar gesagt: Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach (Lk 9,23).
Mit gläubiger Einsicht können wir lernen, die Dinge realistisch einzuschätzen, beginnend damit, dass wir den Erlöser der Welt anrufen: Herr, nur du weißt, was zwischen dem Anfang und Ende meines Lebens das Beste für mich ist. Ich überlasse mich dir – und nehme mein Kreuz an. Diese Haltung bestimmt dann das Alltagsgeschehen und führt zu einem friedvollen Sich-Überlassen, das dem Schmerzvollen, Unverständlichen und oftmals Unfasslichen seine Bitterkeit nimmt. Um diese Sicht zu bewahren – und weder falschen Trost zu suchen noch eine Art stoischer Gleichgültigkeit anzunehmen –, rät der heilige Josefmaria, das Kreuz-Tragen in kleinen Dingen zu üben: durch kleine freiwillige Verzichte, die keinen materiellen Schaden verursachen und nicht gegen die Gerechtigkeit verstoßen, oder indem wir die Zeit gut ausnützen und die Arbeit im Blick auf Gott verrichten, denn: „Der Herr hat ein Recht darauf – und für uns ist es eine Pflicht –, dass wir ihn ,in jedem Augenblick‘ verherrlichen.“5
Die natürliche Reaktion auf Schmerz ist Ablehnung oder die Frage nach dem Sinn. Maria wurde bereits unmittelbar nach der Geburt ihres Sohnes Schmerz angekündigt. Sie leidet dabei nicht erst unter dem Kreuz, sondern wird auch im Tagein, Tagaus ihrer Arbeit und ihres Familienlebens zur Miterlöserin im Glauben. Rufen wir sie an, die Meisterin des verborgenen und schweigenden Opfers! Denn mit dem Licht des Glaubens arbeitet Maria zumeist auf diese Weise mit ihrem Sohn zusammen: unbeobachtet – wissend und schweigend. Die Werke des Glaubens finden nicht in der großen Öffentlichkeit statt, sondern im Verborgenen – und der Vater, der auch das Verborgene sieht, wird sie vergelten (Mt 6,4).
1 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, 165.
2 Franziskus, Audienz, 8.9.2021.
3 ebd.
4 Peter Berglar, Opus Dei – Leben und Werk des Gründers Josemaría Escrivá, Köln 1992, S. 94-95.
5 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 508.