Die "Blumen der Blöden"

In La Veguilla am Stadtrand von Madrid floriert Spaniens erfolgreichstes Unternehmen mit geistig Behinderten - von Leo Wieland (FAZ)

LA VEGUILLA, im Dezember. Diese Weihnachtsgeschichte beginnt mit den "Blumen der Blöden". Das heißt, sie begann strenggenommen schon im Voradvent vor fast leeren Beeten und Regalen. Die Alpenveilchen und Azaleen, die Petunien, Margeriten und Begonien aus den Pflanzengärten von La Veguilla am Madrider Stadtrand waren schon verkauft und weitgehend ausgeliefert. Das erfolgreichste Privatunternehmen mit geistig Behinderten in Spanien hatte abermals die Märkte der Hauptstadt erobert.

La Veguilla ist vielerlei: ein buchstäblich florierendes Geschäft, ein modernes biotechnisches Laboratorium für neue Züchtungen, Kreuzungen und Patente, vor allem aber ein Arbeitsplatz und ein Zuhause für fast 200 Behinderte, denen es Lohn, Selbstachtung und das Gefühl einbringt, "nützlich zu sein". Auf letzteres kommt es José Alberto Torres an. Er ist der Impresario, das Mädchen für alles, der Direktor der Pflanzen- und Baumschule und der Generalsekretär der Stiftung, die das inzwischen etablierte Experiment trägt. Er ist außerdem Mitglied des Opus Dei, jener katholischen Laienorganisation, die so effektvoll als finsterer Geheimbund durch Dan Browns Romane geistert.

Torres, ein gebürtiger Galicier, der Ducados raucht und eine dunkle Brille trägt, hat indes eher Lichtvolles im Sinn. Der weißhaarige "Agregado", so heißen die Mitglieder der Organisation, die einen freiwilligen Zölibat einhalten, ist auf seine Art ein Großfamilienvater. Seit einem Vierteljahrhundert widmet sich der leise und nachdenklich sprechende ehemalige Finanzbeamte einem besonderen "Werk Gottes". Es hat etwas ausgesprochen Irdisches, angefangen bei der feuchten Erde in den klimatisierten, mit künstlichem Tau bewässerten Blumentöpfen.

Zwischen den Glashäusern ist Rafael der Senior unter den Männern und Frauen zwischen 18 und 53 Jahren, die in La Veguilla gelernt haben, was ihnen bis dahin auch daheim niemand zugetraut hätte. Über einen wie ihn sagte einst ein Vater zu Torres: "Wenn Sie denken, daß mein Sohn eines Tages sich selbst erhalten kann, dann sage ich Ihnen nur eines: Das ist verrückt." Doch genau das gelingt den 100 Festangestellten und soll bald auch den knapp weiteren 100 Lehrlingen gelingen. Je nach Zustand, Fähigkeit und Ausdauer leisten diese Behinderten, die weder Pflegefälle sind noch schwere körperliche Gebrechen haben, in der Blumenfirma etwas, was einen Zweck hat. Eine 40-Stunden-Woche trägt ihnen ein Gehalt, die Anerkennung ihrer Umwelt und ein schwer einzuschätzendes Gefühl der Zufriedenheit ein.

Rafael, dem wir bei unserem Rundgang noch ein halbes Dutzend Mal begegnen, trägt einfach Dinge von hier nach dort. Er hat aber auch ein überall gern gesehenes freundliches Gesicht, mit freigebigem Gruß, der immer wiederholten stolzen Mitteilung, daß er schon 23 Jahre dabei sei, und einem unfehlbaren Gedächtnis dafür, welcher Heilige gerade für den Namenstag zuständig ist. Um ihn herum arbeiten seine Kollegen unter fachkundiger Anleitung nicht nur mit Blumen, sondern auch als Maurergehilfen, Handwerker und sogar bei Dr. Marisé Borja im Biolaboratorium. Wer nicht lesen kann, für den gibt es hilfreiche Symbole. Die da pflanzen, bewässern, umtopfen und verladen, sind, wie ihre Helfer sagen, "praktisch und geschickt". Weil man ihnen etwas zutraut, lernen sie dazu und eignen sich weitere Fähigkeiten an. Wenn es Schwierigkeiten gibt, sind außer Blumenfachleuten auch Psychologen, Psychiater und Ärzte zur Hand.

Ursprünglich war auf dem Gelände von La Veguilla noch zur Zeit des Diktators Franco eine Behindertenschule. Sie sollte in den siebziger Jahren aus finanziellen Gründen geschlossen werden und wurde daraufhin von den Eltern übernommen. Sie stand aber auf wackeligen Beinen, bis Torres im Jahr 1981, dem "Internationalen Jahr der Behinderten", die päpstliche Enzyklika "Laborem exercens" wörtlich nahm und daranging, aus der Theorie der "Beschäftigungstherapie" eine Praxis der Beschäftigung zu machen.

Er versuchte es erst mit Keramik, mit Wandteppichen und Möbeln, die im Zeichen der aufkommenden Globalisierung immer weniger wettbewerbsfähig waren. Die Blumen brachten schließlich den Durchbruch. Jetzt werden pro Jahr fünf Millionen Töpfe an Einzelkunden, vor allem aber an Großhändler verkauft. Der Humanist ist kein Händler der Barmherzigkeit, sondern ein Ökonom, wenn er sagt: "Wir verkaufen nicht Mitleid, sondern Qualität." Von dieser Qualität in ständiger Konkurrenz mit immer effektiveren neuen "Treibhausrobotern" hängen zugleich zahlreiche unmittelbar menschliche "Sekundäreffekte" ab. Solange sie stimmt, haben die schon erwachsenen "Jungen" und "Mädchen" einen Job und, wenn sie nicht bei ihrer Familie wohnen können, eine Unterkunft. Hier können sie auch alt werden und damit ihren Eltern die größte Sorge nehmen: "Was soll aus ihm (ihr) werden, wenn ich nicht mehr da bin?" In ihren Grenzen führen die Behinderten selbst ein normales Leben, jedenfalls im Vergleich zu einer staatlichen Anstalt, die für alles sorgt, außer für Sinn und Selbstbewußtsein. An Wochenenden haben sie frei und können, weil niemand sie zurückhält, auch mit dem Bus zur Kirmes in das nächste Dorf fahren. Die Erfahrungen mit den Blumenarbeitern ist, daß sie selten aggressiv oder depressiv sind und daß der Konfliktausgleich in einer Kooperative, in der sich im Idealfall die Defizite aller ergänzen, ganz gut funktioniert.

Eine Mutter hat sich gewundert, daß ihr behinderter Sohn, der zu Hause ein gewalttätiger Tyrann gewesen war und die eingeschüchterten Eltern zu verprügeln pflegte, in La Veguilla "so gehorsam" sei. Dort genügt im Zweifelsfall ein festes Wort. Torres kann sich über mangelndes Interesse zwar nicht beklagen, überlaufen ist sein Pflanzengarten aber auch nicht, weil manche Eltern entweder das Experiment nicht wagen oder aber lieber für ihr behindertes Kind die staatliche Rente kassieren wollen. Für die Blumen gibt es keine großen Subventionen vom Staat, außer Zuschüssen für die Sozialversicherung. Sonst fällt das Unternehmen, das eines Tages noch eine Aktiengesellschaft werden könnte, niemandem zur Last - im Gegenteil.

Für Torres war vielleicht der Tag, an dem die ersten beiden seiner Schützlinge heirateten, der eindrucksvollste, schon deshalb, weil er als Trauzeuge geladen war. Und dann kam der Tag, an dem Gonzalo ihn mit ernster Miene um ein Gespräch bat und seine Frau Pilar sich davor sogar sorgfältig die Lippen schminkte. Sie hatten einen Wunsch und eine Frage. Der Wunsch war: "Wir möchten ein Kind haben." Die Frage lautete: "Aber wird es dann genauso dumm sein wie wir?" Torres erwiderte, in ihrem Fall sei das, weil "nicht genetisch", auch nicht wahrscheinlich. Der Sohn ist inzwischen zehn Jahre alt und, was auch für seine Eltern nicht immer unproblematisch ist, "natürlich viel heller als sie". Doch die Selbstzweifel überlagern weder bei ihnen noch bei ihren Gefährten den Alltag zwischen Begonien. Die "Blumen der Blöden" haben es, wie es ein Madrider Freund, der diese Geschichte zum ersten Mal hörte, respektvoll ausdrückte, "in sich". Die Behinderten wissen das, habe doch Don Alberto einmal gesagt: "Ohne uns gäbe es keine blühenden Gärten in Madrid."

Frankfurter Allgemeine Zeitung