Betrachtungstext: 5. Woche der Fastenzeit – Freitag

Den Schmerz der Gottesmutter betrachten – Demut, um für die Wahrheit offen zu sein – Die Zeichen Jesu erkennen

DIE KIRCHE gedenkt am Freitag vor dem Karfreitag traditionell der Schmerzen, die die Gottesmutter im Laufe ihres Lebens erdulden musste. Schon früh wurde sie darauf vorbereitet – bei der Darstellung des neugeborenen Jesus im Tempel. Damals richtete der greise Simeon eine prophetische Ankündigung an sie: Deine Seele wird ein Schwert durchdringen. So sollen die Gedanken vieler Herzen offenbar werden (Lk 2,35). Die Evangelisten schildern mehrere leidvolle Ereignisse im Leben der seligen Jungfrau: die Flucht nach Ägypten, um das Kind zu retten; die bangen drei Tage, in denen der zwölfjährige Jesus in Jerusalem vermisst wurde … Doch nichts war schmerzhafter als die Stunden rund um seinen Tod: die Begegnung mit ihm auf dem Weg zur Schädelstätte, die Kreuzigung, die Abnahme seines Leichnams und das Begräbnis.

Jede einzelne dieser Situationen erinnert uns daran, dass das Leid unweigerlich zum menschlichen Leben gehört – selbst dem vollkommensten Geschöpf, das je aus Gottes Händen hervorging, der Mutter Jesu, blieb es nicht erspart. Maria wusste, dass sich Simeons Prophezeiung bewahrheiten würde: Dieser (...) wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird (Lk 2,34) – lange bevor Jesus seinen Jüngern offenbarte, dass er nicht gekommen sei, Frieden zu bringen, sondern das Schwert (vgl. Mt 10,34). Papst Franziskus erklärte dazu: „Der Glaube lässt sich nicht auf einen Zuckerguss reduzieren, der das Leben versüßt. Das geht nicht. Jesus ist ein Zeichen des Widerspruchs. (...) Ihn aufzunehmen bedeutet, zu akzeptieren, dass er meine Widersprüche, meine Götzen, die Einflüsterungen des Bösen aufdeckt.1

Maria ist Lehrmeisterin des stillen, verborgenen Opfers. Durch ihre unauffällige Gegenwart unter dem Kreuz und ihre Vereinigung mit dem Willen Gottes spendete sie Jesus tiefen Trost: „Was konnte sie denn tun?“, versucht der heilige Josefmaria ihrem Herzen nachzuspüren. „Mit der erlösenden Liebe des Sohnes eins werden und dem Vater den unermesslichen Schmerz darbringen, der wie ein scharfes Schwert ihr reines Herz durchbohrte.“2 Das Böse und das Leid bleiben auf dieser Erde ein Geheimnis – doch im Mensch gewordenen Christus, der alle Leiden durchlitten hat, eröffnet sich uns im Leid Sinn, Nähe und Trost.


WENIGE TAGE vor Karfreitag, so berichtet das Evangelium, traten einige Juden Jesus gegenüber zunehmend feindselig auf. Einige wollten ihn sogar steinigen – wegen seines Anspruchs, eins mit dem Vater zu sein. Doch Jesus ließ sich nicht abschrecken. Mehr als alles andere sehnte er sich danach, dass sich die Herzen seiner Zuhörer für das Geheimnis seiner Person öffnen. So lenkte er ihre Aufmerksamkeit auf die unleugbaren Wunder, die er vollbracht hatte: Viele gute Werke habe ich im Auftrag des Vaters vor euren Augen getan. Für welches dieser Werke wollt ihr mich steinigen? (Joh 10,32). Aber sie wollten sich der Wahrheit nicht öffnen – sei es, weil das, was vor ihnen lag, ihren Horizont überstieg, sei es, weil ihr vorgebliches Interesse an der Wahrheit nicht aufrichtig war.

Papst Franziskus betont: „Nur die Demut öffnet uns weit für die Erfahrung der Wahrheit, der echten Freude, der Erkenntnis, die zählt. Ohne Demut sind wir ,abgeschnitten‘ – abgeschnitten vom Verständnis Gottes und vom Verständnis unserer selbst.3 So wie Kinder nicht immer verstehen, warum ihr Vater so handelt, wie er handelt, so erscheint uns oft das göttliche Handeln rätselhaft. Das soll uns nicht wundern und auch nicht gegen Gott aufbringen. Gottes Größe anzuerkennen, bedeutet eben auch, unsere Kleinheit zu akzeptieren und zu wissen, dass Gottes Wege unsere menschliche Logik übersteigen. Der Heilige Geist kann auch heute Wunder wirken, doch wir müssen bereit sein, demütig auf sein Wehen zu hören. Der heilige Josefmaria betont: „Demut bedeutet, dass wir uns so sehen, wie wir sind, ungeschminkt, wahrhaftig. Und indem wir unsere Armseligkeit begreifen, öffnen wir uns der Größe Gottes – das ist es, was unsere eigentliche Größe ausmacht.“4


JE NÄHER sein Leidensweg rückt, desto offener spricht Jesus von seiner Gottessohnschaft: Wenn ich nicht die Werke meines Vaters vollbringe, dann glaubt mir nicht! Aber wenn ich sie vollbringe, dann glaubt wenigstens den Werken, wenn ihr mir nicht glaubt! Dann werdet ihr erkennen und einsehen, dass in mir der Vater ist und ich im Vater bin (Joh 10,37-38).

Die in den Evangelien überlieferten Wunder sagen viel aus über Jesus von Nazaret. Johannes nennt sie „Zeichen“, weil ihr Hauptzweck nicht darin besteht, Krankheit oder Leid in der Welt zu beenden, sondern die göttliche Person Christi und seine messianische Sendung aufzuzeigen. Die in den Evangelien bezeugten fünfunddreißig Wunder laden dazu ein, in das Geheimnis seiner Person einzutreten. Einige zeigen seine Herrschaft über die Natur – etwa die Vermehrung der Brote und Fische oder sein Gehen auf dem Wasser. In ihnen leuchtet der schöpferische Geist Gottes auf, der über dem Wasser schwebte (Gen 1,2). Andere, wie die Totenerweckungen, offenbaren seine Macht über das Leben selbst.

In wenigen Tagen, in den Drei Heiligen Tagen vom Leiden und von der Auferstehung des Herrn, wird Jesus sein Leben hingeben – auf einzigartige Weise, denn nur er hat Macht darüber: Deshalb liebt mich der Vater, weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. Niemand entreißt es mir, sondern ich gebe es von mir aus hin. Ich habe Macht, es hinzugeben, und ich habe Macht, es wieder zu nehmen (Joh 10,17-18). Jesus ist heute derselbe wie vor zweitausend Jahren in Palästina – und auch heute erfüllt er unser Leben mit Zeichen, die Gottes Nähe bezeugen. Bitten wir die Gottesmutter, dass wir mit demütigem Herzen die Zeichen ihres Sohnes erkennen können.


1 Franziskus, Homilie, 15.9.2021.

2 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 288.

3 Franziskus, Audienz, 22.12.2021.

4 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 96.