Betrachtungstext: 4. Woche im Jahreskreis – Mittwoch

Die Weisheit Jesu – Frucht des vertrauten Umgangs mit Gott – Die wahre Weisheit

ALS JESUS zu Beginn seines öffentlichen Wirkens die Synagoge in Nazaret betrat, um dort zu lehren, staunten seine Nachbarn. Verwundert fragten sie einander: Woher hat er das alles? Was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist? (Mk 6,2). Viele der Anwesenden kannten Jesus persönlich – vielleicht hatte er für einige von ihnen gearbeitet, mit anderen war er befreundet. Seine Mitbürger wussten, dass er ein rechtschaffener Mann war, doch sie hatten ihn nie predigen hören oder Wunder vollbringen sehen. Was an jenem Tag geschah, überraschte sie zutiefst. Doch statt sich über seine Worte zu freuen, zeigten sie sich skeptisch: Ist das nicht der Zimmermann? (...) Leben nicht seine Schwestern hier unter uns? (Mk 6,3).

Die Evangelisten berichten immer wieder von der außergewöhnlichen Weisheit Jesu. Am Ende seiner Schilderung von Jesu verborgenem Leben in Nazaret fasst Lukas zusammen: Er wuchs heran und seine Weisheit nahm zu und er fand Gefallen bei Gott und den Menschen (Lk 2,52). Bereits als Zwölfjähriger beeindruckte Jesus die Gelehrten im Tempel: Alle, die ihn hörten, waren erstaunt über sein Verständnis und über seine Antworten (Lk 2,47). Später, während seines öffentlichen Lebens, sorgten seine Worte und seine Erscheinung überall für Erstaunen: Noch nie hat ein Mensch so geredet (Joh 7,46). Die Weisheit Jesu ließ ihn ganz anders predigen, als es die Schriftgelehrten und Pharisäer taten. Und dazu stellte er sich über das Gesetz, das die Obersten für das Volk auslegten, und den Tempel, in dem sie den Gottesdienst verrichteten.

Jesus ist in die Welt gekommen, um die Weisheit Gottes mit uns zu teilen. Sie reicht tiefer als alles menschliche Wissen und ist doch für jeden zugänglich. Wie der heilige Josefmaria sagte: „Um wirklich weise zu sein, braucht man keine umfangreiche Bildung“, denn der Herr teilt seine Weisheit „mit vollen Händen an diejenigen aus, die ihn mit aufrechtem Herzen suchen.“1 Bitten wir den Heiligen Geist um die Gabe der Weisheit, die uns lehrt, die Wirklichkeit mit göttlichen Augen zu sehen. Papst Franziskus mahnt: „Oft betrachten wir die Dinge nach unserem Gutdünken oder nach unserer Herzenslage, mit Liebe, mit Abneigung, mit Neid … Das ist nicht der Blick Gottes. Die Weisheit, die der Heilige Geist in uns wirkt, lässt uns alles mit den Augen Gottes sehen.“2


DIESE göttliche Weisheit zu erlangen, hat nichts mit der Gewinnung außergewöhnlichen Wissens oder intellektuellen Hochleistungen zu tun. Sie hängt nicht von unserer Begabung oder unserem persönlichen Einsatz ab. Vielmehr ist sie ein Geschenk – eine Frucht der Vertrautheit mit Gott. Der heilige Josefmaria drückt es so aus: „Es gibt ein Wissen, das man nur mit Heiligkeit erreicht. Und es gibt verborgene, verkannte, zutiefst demütige, opferbereite, heilige Seelen mit einem wunderbaren übernatürlichen Sinn“, mit einem erstaunlichen Wissen, das sich vor allem darin zeigt, „Gott zu kennen und zu lieben“3.

Der heilige Paulus betont, dass wahre Weisheit uns hilft, des Herrn würdig zu sein und in allem sein Gefallen zu finden. Ihr sollt Frucht bringen in jeder Art von guten Werken und wachsen in der Erkenntnis Gottes (Kol 1,9-10). Für den Heiden-Apostel ist das Evangelium eine Weisheit, die nicht Weisheit dieser Welt oder der Machthaber dieser Welt ist, die einst entmachtet werden. Vielmehr verkünden wir das Geheimnis der verborgenen Weisheit Gottes, die Gott vor allen Zeiten vorausbestimmt hat zu unserer Verherrlichung. Keiner der Machthaber dieser Welt hat sie erkannt (1 Kor 2,6-8).

Auch die Apostel wuchsen durch ihre Gemeinschaft mit Christus allmählich in diese göttliche Weisheit hinein. Die Nähe zu ihm prägte ihre Herzen – sie erlangten Weisheit und Klugheit, Sanftmut und Großherzigkeit, eine tiefere Sicht auf die Wirklichkeit. Vollendet wurde dieses Wachstum durch die Sendung des Heiligen Geistes. Diese Gabe bleibt dabei nicht den Aposteln vorbehalten – auch wir können sie empfangen. Besonders in den Sakramenten öffnet sich unser Herz für die göttliche Weisheit. Wenn wir Christus in der Kommunion empfangen oder uns im Gebet mit ihm verbinden, treten wir in eine tiefe Gemeinschaft mit ihm ein. So wird es uns möglich, mitten in der Welt eine beschauliche Haltung einzunehmen und das Leben mit den Augen Gottes zu sehen.


MIT DER Weisheit, so betont die Schrift, kommt alles Gute (Weish 7,11). Diese Gabe ist so wertvoll, dass König Salomo sie über alles stellte: Ich zog sie Zeptern und Thronen vor, Reichtum achtete ich für nichts im Vergleich mit ihr. Einen unschätzbaren Edelstein stellte ich ihr nicht gleich; denn alles Gold erscheint neben ihr wie ein wenig Sand und Silber gilt ihr gegenüber so viel wie Lehm. Mehr als Gesundheit und Schönheit liebte ich sie und zog ihren Besitz dem Lichte vor; denn niemals erlischt der Glanz, der von ihr ausstrahlt (Weish 7,7-10).

Wer von Gottes Weisheit erfüllt ist, lernt, in jeder Situation mit ihm zu leben – besonders in der Hingabe an seine Mitmenschen. Denn, wie Papst Benedikt betonte, liegt die wahre Weisheit gerade in der „totalen Unentgeltlichkeit der Liebe“4. Jeder Tag hält unzählige Gelegenheiten bereit, nach dieser göttlichen Gabe zu handeln. Papst Franziskus illustriert dies an einem Beispiel: „Wenn zwei Eheleute streiten, dann meiden sie einander oder begegnen einander mit grimmigen Blicken. Ist das die Weisheit Gottes? Nein! Doch wenn sie nach dem Streit sagen: ‚Der Sturm ist vorbei, schließen wir Frieden‘, und dann gemeinsam in Frieden weitergehen – ist das Weisheit? Ja! Und das kann man nicht erlernen: Es ist ein Geschenk des Heiligen Geistes.“5

Doch nicht jeder nahm die Weisheit Jesu an. Sein Besuch in Nazaret endete abrupt, weil einige seiner Nachbarn ihm Misstrauen und Ablehnung entgegenbrachten. Seine Weisheit rief nicht nur Staunen hervor – für manche wurde sie zum Anstoß. Später wird er sie an einem noch größeren „Skandal“ offenbaren: dem Skandal des Kreuzes. Dort zeigt sich die Weisheit Gottes in ihrer tiefsten Wahrheit – als die Kraft der Liebe, die sich bis zur völligen Hingabe am Kreuz erstreckt, um die Menschheit zu erlösen.

Möglicherweise war Maria an jenem Tag in Nazaret an seiner Seite. Vielleicht sah sie mit Schmerz, wie ihre Landsleute ihren Sohn zurückwiesen. Als „Sitz der Weisheit“ trug sie das Wort Gottes auf ihren Knien und bewahrte es in ihrem Herzen. Sie wird auch uns helfen, diese kostbare Gabe in unserem Leben anzunehmen.


1 Hl. Josefmaria, Im Zwiegespräch mit dem Herrn, S. 354.

2 Franziskus, Audienz, 9.4.2014.

3 Hl. Josefmaria, Im Zwiegespräch mit dem Herrn, S. 354.

4 Benedikt XVI., Audienz, 29.10.2008.

5 Franziskus, Audienz, 9.4.2014.

Foto: Eddie Gerald (wikimedia, CC BY-SA 3.0 IGO)