DAS EVANGELIUM der heutigen Messe versetzt uns in jenen Moment zurück, als sich der Herr vor Antritt seines Leidenswegs nochmals an das Volk wandte. Jesus aber rief aus: Wer an mich glaubt, glaubt nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat, und wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat. Ich bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt (Joh 12,44-46). In jenen letzten Stunden seines öffentlichen Lebens ist es Jesus wichtig zu bezeugen, dass er in die Welt gekommen ist, um uns Klarheit zu bringen, die Liebe des Vaters kundzutun und damit Glück und Frieden in unsere Herzen zu säen.
Erneut erfahren wir, dass „Jesus“, wie der heilige Johannes Paul II. darlegte, „in ständiger und grundsätzlicher Beziehung zum Vater lebt und handelt. Er wendet sich häufig mit liebevollen Worten – als Sohn – an ihn: Abba, Papa. Auch bei seinem Gebet in Getsemani kommt ihm dieses Wort auf die Lippen. Als ihn seine Jünger bitten, sie beten zu lehren, lehrt er sie das ,Vater unser‘. Nach seiner Auferstehung, ehe er die Erde verlässt, scheint er sich noch einmal auf dieses Gebet zu beziehen, wenn er sagt: Ich gehe zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott. So hat sich Gott also, durch den Sohn, in der Fülle des Geheimnisses seiner Vaterschaft offenbart.“1
Jesus sah das Herzstück seiner Sendung darin, uns denjenigen nahezubringen, der ihn gesandt hat; und nicht nur das, er wollte uns durch seinen Tod und seine Auferstehung auch noch zu Gottes Kindern machen. Der heilige Josefmaria wies immer darauf hin, dass dies das Fundament ist, auf dem das Innenleben ruht: „Gott ist ein Vater voll Zartgefühl und unendlicher Liebe. Nenne ihn Vater, oftmals während des Tages. Sage ihm – du allein, in deinem Herzen –, dass du ihn liebst, dass du ihn anbetest, dass du dich stolz und stark fühlst, weil du sein Kind bist. All dies bildet ein authentisches Programm des inneren Lebens, das du dann durch deine – wenigen, aber (...) beständigen –Praktiken der Frömmigkeit kanalisieren kannst. So wirst du das Fühlen und Verhalten eines guten Kindes erlangen.“2
JESUS SETZT seine Rede fort: Wer meine Worte nur hört und sie nicht befolgt, den richte nicht ich; denn ich bin nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um die Welt zu retten (Joh 12,47). Jesus ist Retter – und ein viel größerer Retter, als unsere Fantasie sich je ausmalen könnte. Er ist auch Richter, doch ist seine Rechtssprechung anders als die der Menschen. Um der Gefahr zu entrinnen, allzu menschlich über Jesus zu denken, wollen wir uns mit dem heiligen Johannes Paul II. daran erinnern, dass Jesus vor allem Retter ist und als solcher auftritt und seine Sendung nicht darin sieht, die Menschen nach menschlichen Maßstäben zu richten. „Er ist vor allem derjenige, der den Weg der Rettung weist – und nicht der Ankläger der schuldig Gewordenen (...). Angesichts dieses Lichts des in Christus offenbar gewordenen Gottes, angesichts einer solchen Wahrheit muss man sagen, dass die Werke selbst jeden einzelnen richten.“3
Die Predigttätigkeit des Herrn war von Sanftmut geprägt, ganz im Sinne der Prophezeiungen: Er schreit nicht und lärmt nicht und lässt seine Stimme nicht auf der Gasse erschallen. Das geknickte Rohr zerbricht er nicht und den glimmenden Docht löscht er nicht aus; ja, er bringt wirklich das Recht (Jes 42,2-3; vgl. Mt 12,19-20). Der Herr sagt die Wahrheit rund heraus – und zeigt zugleich nicht die geringste Neigung zu Äußerungen, die jene Zuhörer demütigen oder niederdrücken könnten, die seine Worte nicht annehmen. Er will das Herz jedes einzelnen gewinnen: „Jesus will nicht gewaltsam überzeugen“, sagte der heilige Josefmaria, „und wenn er mit oder unter den Menschen war, bewegt er sie sanft dazu, ihm über die Suche nach dem wahren Frieden und der echten Freude nachzufolgen.“4
Es tut uns gut, uns an die unermessliche Geduld Gottes zu erinnern, der mit den Begrenzungen seiner Kinder rechnet. Jede Seele hat ihren Rhythmus. Es gibt viele Geschichten von Menschen, die dank der verständnisvollen Begleitung durch einen guten Freund am Ende die Freude entdecken, Jesus Christus das Herz zu öffnen. Das II. Vatikanische Konzil hält fest, dass „die Wahrheit nicht anders Anspruch erhebt als kraft der Wahrheit selbst, die sanft und zugleich stark den Geist durchdringt“5. Diese aus dem Leben Christi und der Erfahrung der Kirche gewonnene Überzeugung können wir mit dem heiligen Johannes Paul II. als die „Goldene Regel“6 für die Evangelisierung bezeichnen.
DIE PREDIGT des Herrn war von seinem innigen Wunsch getragen, den Willen des Vaters zu erfüllen: Denn ich habe nicht von mir aus gesprochen, sondern der Vater, der mich gesandt hat, hat mir aufgetragen, was ich sagen und reden soll (Joh 12,49). Jesus lebte vor dem Antlitz des Vaters und zog daraus die Kraft, seine Mitmenschen zu erleuchten. Das Wirken des Herrn lässt sich nicht als bloße Menschenliebe begreifen, sondern entspringt der Quelle seiner Liebe zu seinem göttlichen Vater. Auch wir möchten den Willen Gottes entdecken und uns mit ihm vereinen, denn hierin liegt das Leben: wenn wir mit anderen reden, wenn wir Bildungsaktivitäten voranbringen oder uns einfach mitten in unseren gewöhnlichen Beschäftigungen befinden.
Unsere Aufgaben im Angesicht Gottes zu erfüllen, wird uns auch helfen, die scheinbaren Niederlagen und scheinbar fruchtlosen Zeiten von diesem Blickwinkel aus zu sehen. Jede Energie, die wir einsetzen, um Gutes zu tun, wird fruchtbar, auch wenn wir uns nicht mit eigenen Augen davon überzeugen können. „Die Fruchtbarkeit ist oft nicht sichtbar, nicht greifbar und kann nicht gemessen werden“, bestätigt Papst Franziskus in seiner Enzyklika Evangelii Gaudium, und er empfiehlt: „Man weiß wohl, dass das eigene Leben Frucht bringen wird, verlangt aber nie zu wissen wie, wo oder wann.“7 Wenn uns Mutlosigkeit erfasst, genügt ein Blick auf unseren göttlichen Vater. Der Papst rät zu großem Vertrauen: „Lernen wir, in den zärtlichen Armen des Vaters zu ruhen, inmitten unserer kreativen und großherzigen Hingabe. Machen wir weiter, geben wir ihm alles, aber lassen wir zu, dass er es ist, der unsere Mühen fruchtbar macht, wie es ihm gefällt.“8 Vielleicht zeigt uns Gott in den Momenten, in denen wir mit unserer Aufgabe ganz offensichtlich überfordert sind, dass er es ist, der alles neu macht; das zu verstehen und zu leben ist der Weg, um das eigene Leben auf Fels zu gründen.
In unserem Bestreben, wie Christus mit den Herzenswünschen des himmlischen Vaters im Einklang zu stehen, kann uns helfen, das ,Vater unser‘ von Neuem zu verkosten. „Wenn wir also beten ,Dein Wille geschehe‘“, hilft uns Papst Franziskus auf die Sprünge, „dann sind wir nicht aufgefordert, unterwürfig das Haupt zu beugen, so als wären wir Sklaven. Nein! Gott will, dass wir frei sind; seine Liebe macht uns frei. Denn das ,Vater unser‘ ist das Gebet der Kinder, nicht der Sklaven. Es ist das Gebet der Kinder, die das Herz ihres Vaters kennen und sich seines Liebesplans bewusst sind.“9 Sehr helfen kann uns außerdem, jene Worte unserer Mutter von Neuem zu bedenken, mit denen sie ihren Wunsch äußerte, immer nach dem Willen Gottes zu handeln: „Dein Wille geschehe.“
1 Hl. Johannes Paul II., Audienz, 23.10.1985.
2 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 150.
3 Hl. Johannes Paul II., Audienz, 30.9.1987.
4 Hl. Josefmaria, Brief 4, Nr. 2c.
5 II. Vatikanisches Konzil, Dignitatis Humanae, Nr. 1.
6 Vgl. Hl. Johannes Paul II., Tertio Millennio Adveniente, Nr. 35.
7 Franziskus, Evangelii gaudium, Nr. 279.
8 Ebd.
9 Franziskus, Audienz, 20.3.2019.