Betrachtungstext: 25. Woche im Jahreskreis – Dienstag

Die Kirche, die Familie Jesu – Maria, die Frau des Hörens – Mit offenem Herzen

JESUS war bereits in ganz Galiläa als Messias bekannt. Die Menschen strömten zu ihm hin: Einige brachten ihre Kranken, andere vertrauten ihm ihre Sorgen an und suchten seinen Rat. Vielleicht brachten manche auch ihre Kinder, damit er sie segne. Der Herr predigte, hörte zu, beantwortete Fragen und nahm Anteil am Schicksal der Menschen. Er scheute weder ihre Schmerzen noch ihre Krankheiten oder Sorgen. Jeder Tag von Jesus war wie ein Laib Brot, von dem hungrige Hände Stück für Stück abbrachen, bis nichts mehr übrig war. Seine vollkommene Hingabe am Kreuz wurde durch sein tägliches Sich-Verschenken an die Menschen vorbereitet.

An einem Tag, als Jesus wieder unter den Menschen war, versuchten seine Mutter und einige Verwandte, zu ihm zu gelangen, konnten aber wegen der Menschenmenge (Lk 8,19) nicht zu ihm vordringen. Die Jünger wiesen ihn darauf hin: Deine Mutter und deine Brüder sind draußen und wollen dich sehen. Darauf antwortete Jesus mit Worten, die geheimnisvoll den Kern seiner Frohbotschaft enthielten: Meine Mutter und meine Brüder sind diejenigen, die das Wort Gottes hören und es tun (Lk 8,20-21).

Diese Antwort dürfte bei den Zuhörern Verwunderung ausgelöst haben. Doch Jesus wollte nicht die Beziehung zu seiner Mutter in Frage stellen, sondern vielmehr seine Absicht betonen, eine Familie mit übernatürlichen Banden zu gründen – die Kirche. Diese Kirche würde im Laufe der Jahrhunderte aus Männern und Frauen bestehen, die sein Wort annehmen und in ihrem Leben Früchte tragen lassen. Ein mittelalterlicher Schriftsteller, der selige Isaak von Stella, formulierte pointiert: „Im Zelt des Mutterschoßes Marias weilte Christus neun Monate; im Zelt der glaubenden Kirche bis ans Ende der Welt; in der Erkenntnis und Liebe der gläubigen Seele bleibt er auf ewig.“1


PAPST BENEDIKT XVI. hebt eine Gabe der Gottesmutter besonders hervor: „Maria ist wahrhaft die Frau des Hörens: Das sehen wir in der Begegnung mit dem Engel, und wir sehen es wieder in allen Szenen aus ihrem Leben, von der Hochzeit in Kana bis hin zum Kreuz und zum Pfingsttag. (...) Es ist ein echtes Hören, (...) das nicht einfach ,Ja sagt, sondern das Wort verarbeitet und es in sich aufnimmt.“2 Allein die Tatsache, dass Jesu Mutter jubelnd das Magnificat rezitierte, zeigt, dass sie die Heilige Schrift nicht nur theoretisch kannte. Vielmehr identifizierte sie sich so sehr damit, dass sich die Worte des Alten Testaments in ihrem Herzen und auf ihren Lippen in ein Lied verwandelten. Papst Benedikt führt weiter aus: „Ihr Leben war vom Wort durchdrungen; sie war in das Wort eingetreten, hatte es aufgenommen, und es war in ihr zum Leben geworden.“3

Das Hören des Wortes Gottes entfremdet uns nicht von der Welt, sondern führt uns tiefer in sie hinein, offenbart uns die wahre Wirklichkeit. Papst Franziskus erklärt: „,Ja‘ zu sagen zum Herrn bedeutet, den Mut zu haben, das Leben, wie es kommt, in seiner Zerbrechlichkeit und Begrenztheit und oft sogar in seinen Widersprüchen, anzunehmen.“4 Das Leben Marias war geprägt von einer tiefen Fügsamkeit gegenüber dem göttlichen Willen und zugleich erfüllt von der Freude eines Menschen, der in die göttliche Logik eingetreten ist. Der heilige Josefmaria charakterisiert die Jungfrau so: „Zufrieden, wo immer Gott sie haben wollte, erfüllte sie feinfühlig seinen Willen.“6 Ihre eigenen Wünsche und Pläne ordnete Maria den Heilsplänen ihres Sohnes unter – und bewegte sich darin mit Leichtigkeit und vollkommener Freiheit.

Die Lebensgeschichten der Heiligen beweisen, dass dieses gläubige Hören ein Schatz ist, dem im gewöhnlichen Leben liebevolle Gesten entspringen, die dieses verwandeln. Damit wir die kostbaren Anregungen des Herrn in unserem Alltag nicht überhören, empfiehlt uns der heilige Josefmaria, Maria zu bitten, „sie möge uns beschaulich machen, sie möge uns lehren, den beständigen Ruf des Herrn vor der Tür unseres Herzens zu verstehen“5.


DER HEILIGE JOSEFMARIA betrachtete die Jungfrau Maria gerne im Moment der Verkündigung in stiller Versunkenheit im Gebet. Viele Künstler haben diese Szene dargestellt, oft mit Maria, die eine Heilige Schrift in Händen hält. Darin finden wir einen wichtigen Hinweis: Maria war offen für das Wort, das für sie nicht nur Erinnerungen an vergangene Ereignisse, sondern eine persönliche Botschaft Gottes an sie enthielt. Papst Franziskus sagte treffend: „Es gibt keine bessere Art zu beten, als sich wie Maria in eine Haltung der Offenheit zu begeben, mit einem für Gott offenen Herzen: ,Herr, was du willst, wann du willst und wie du willst.‘ Also mit einem für den Willen Gottes offenen Herzen. Und Gott antwortet immer.“7

Wenn wir die Heilige Schrift mit offenem Herzen lesen, beginnen wir zu erkennen, was Gott heute und jetzt zu uns sagen will. Sein Wort ist lebendig und kraftvoll, sodass wir selbst vertraute Passagen immer wieder neu und mit frischem Blick betrachten können. Dieses aufmerksame Hören auf das Wort Gottes führt uns dazu, es in unserem Leben umzusetzen und unsere Freiheit, unseren Verstand und unsere Liebe ganz in seinen Dienst zu stellen. In Wahrheit sind Hören und Handeln untrennbar miteinander verbunden. Wie der heilige Gregor lehrte: „Das Wort Gottes wird erst dann wirklich verstanden, wenn man beginnt, danach zu leben.“8 Bitten wir die Gottesmutter um die Gnade, die Heilige Schrift mit jener Offenheit des Herzens betrachten zu können, die ihr ganzes Leben geprägt hat, sodass wir Gottes Wort in uns aufnehmen und es in unserem Alltag lebendig werden lassen.


1 Sel. Isaak von Stella (+ um 1169), Predigt 51, Über die Aufnahme Mariens.

2 Benedikt XVI., Ansprache, 26.2.2009.

3 Ebd.

4 Franziskus, Ansprache, 26.1.2019.

5 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 148.

6 Ebd, Nr. 174.

7 Franziskus, Audienz, 18.11.2022.

8 Hl. Gregor d. Große, Predigten über Ezechiel, I, 10, 31.

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