DER HERR zieht mit seinen Jüngern durch die Gegend von Galiläa und verkündet jenen, die kommen, um ihn zu hören, das Reich Gottes. Jesus verwendet in seinen Predigten Gleichnisse: kurze Erzählungen, die auf einfache Weise eine tiefe Wahrheit des geistlichen Lebens offenbaren. Er nimmt alltägliche Beispiele aus der Arbeitswelt, wie die Aussaat, den Fischfang oder die Hausarbeit. Andere Male entnimmt er sie dem gesellschaftlichen und familiären Leben, wie zum Beispiel eine Hochzeitsfeier, die Beziehung eines Vaters zu seinen Kindern oder den Gutsbesitzer, der Tagelöhner sucht. Er erzählt sogar von Ereignissen, die für viele Zuhörer ungewöhnlich sein mochten, wie z. B. von einem Schatzfund oder einem Raubüberfall auf der Straße. All diese Bilder sind leicht zu verstehen, sie sind viel mehr als eine theoretische Belehrung. Papst Franziskus erklärt in seinem Schreiben über die Verkündigung des Glaubens: „Ein anziehendes Bild lässt die Botschaft als etwas empfinden, das vertraut, nahe, möglich ist und mit dem eigenen Leben in Verbindung gebracht wird. Ein gelungenes Bild kann dazu führen, dass die Botschaft, die man vermitteln will, ausgekostet wird; es weckt einen Wunsch und motiviert den Willen im Sinne des Evangeliums.“1
Jesus verwendet diese Gleichnisse gerne, weil er um die menschliche Wesensart weiß. Er weiß um die Macht eines Beispiels aus dem Alltag der Menschen. Seine Haltung dazu bringt seine Einfachheit, Nähe und seinen Wunsch zum Ausdruck, sich in den anderen hineinzuversetzen. Christus vermittelt keine Gedanken, die der Welt, in der wir leben, fremd sind, sondern die mit der Alltagsrealität eng verbunden sind. Deshalb schrieb der heilige Josefmaria: „Bitte den Herrn, Er möge uns, seinen Kindern, die ,Sprachengabe‘ gewähren, das heißt die Gabe, uns bei allen verständlich zu machen. Den Berichten des Evangeliums kannst du entnehmen, weshalb ich mir diese ,Sprachengabe‘ für alle wünsche. Dort stoßen wir auf zahlreiche Gleichnisse und Beispiele, die die Lehre greifbar und die spirituellen Inhalte anschaulich machen, ohne dass sie das Wort Gottes herabwürdigen oder verzerren. Allen – Gelehrten wie Ungelehrten – fällt das Bedenken und Erfassen der göttlichen Botschaft leichter, wenn sie durch verständliche Bilder zu uns gelangt.“2 Bei all dem geht es nicht nur darum, eine gute Verpackung für das zu finden, was wir sagen wollen, sondern darum, die Menschen so zu lieben, wie Christus es getan hat.
IM GLEICHNIS vom Sämann erzählt Jesus, wie die Samen, die nicht auf geeigneten Boden fielen, von den Vögeln gefressen wurden oder, wenn sie aufgingen, schnell verdorrten, weil es ihnen an Feuchtigkeit mangelte oder sie von den Dornen erstickt wurden. Diejenigen Samen hingegen, die auf gutem Boden landeten, trugen Frucht, und zwar hundertfach (vgl. Lk 8,5-8). Der Herr zeigt, dass der Sämann die Saat über das ganze Feld streut, ohne besonders darauf zu achten, wie sie aufgenommen wird: Er streut sie in weitem Bogen aus, in der Hoffnung, dass sie aufgeht. Der Same ist im tiefsten Sinne Christus selbst, den Gott uns übergeben hat. Das II. Vatikanische Konzil hielt fest: „Die es im Glauben hören und der kleinen Herde Christi (Lk 12,32) beigezählt werden, haben das Reich selbst angenommen; aus eigener Kraft sprosst dann der Same und wächst bis zur Zeit der Ernte (vgl. Mk 4,26-29).“3
„Dieses Gleichnis vom Sämann ist ein wenig die ,Mutter‘ aller Gleichnisse, denn es spricht vom Hören des Wortes“, lehrte Papst Franziskus. „Es erinnert uns daran, dass es ein fruchtbares und wirksames Samenkorn ist; und Gott streut es überall großzügig aus, ungeachtet der Verschwendung. So ist das Herz Gottes! Jeder von uns ist ein Boden, auf den der Same des Wortes fällt, niemand wird ausgeschlossen!“4 Wir empfangen Gott selbst. Die Art und Weise, uns von diesem Samen erreichen zu lassen, besteht daher nicht in erster Linie darin, dass wir uns uns einer gewissen sittlichen Lebensweise anpassen oder eine gewisse Lehre in unsere Köpfe aufnehmen, sondern dass wir Gott, der uns entgegengekommen ist, eine Antwort der Liebe geben.
Es liegt zum Teil an uns, ob diese Saat aufgeht und hundertfache Frucht trägt. Der Herr bietet allen das Glück an, aber er fordert es nicht; es ist die freie Entscheidung eines jeden, es anzunehmen. Gott hat uns als freie Menschen geschaffen, und dieses Gleichnis ist ein Ausdruck dieser Wirklichkeit. Der Prälat des Werkes schrieb: „Der leidenschaftliche Kampf um Freiheit,die Sehnsucht nach ihr beim Einzelnen und in den Völkern sind positive Merkmale unserer Zeit. Der Respekt vor der Freiheit jeder Frau und jedes Mannes bedeutet, sie ernstzunehmen als Personen, die verantwortlich sind für ihre eigenen Handlungen und die über ihr Leben selbst bestimmen können. Auch wenn die Freiheit nicht immer dazu führt, das Beste aus sich herauszuholen, kann man ihren Wert doch nie hoch genug einschätzen; denn ohne Freiheit kann man nicht lieben.“5
DAS GLEICHNIS ist sprachlich sehr verständlich. Dennoch bitten die Jünger Jesus um eine Erklärung und der Meister nennt die verschiedenen Gründe, warum der Same in der Erde nicht aufgeht und das Wort Gottes im Leben der Menschen keine Wurzeln schlagen kann: Es ist das Wirken des Teufels, die fehlende Verwurzelung im Moment der Prüfung, es sind die Reichtümer und weltliche Interessen ... Gleichzeitig weist er darauf hin, dass der Samen auf guten Boden bei denen gefallen ist, die das Wort mit gutem und aufrichtigem Herzen hören, daran festhalten und Frucht bringen in Geduld (Lk 8,15).
Manchmal geben wir den äußeren Umständen die Schuld, wenn etwas nicht so läuft wie geplant: Ein unvorhergesehenes Ereignis kann ein Arbeitsprojekt, eine familiäre Unternehmung oder eine Veranstaltung mit Freunden erschweren. Der heilige Josefmaria lädt uns jedoch ein,auch diese Besonderheiten, auch die Schwierigkeiten, die das Samenkorn durchlaufen kann, auf heilige Weise zu leben; das heißt, er ermutigt uns, nicht in das zu verfallen, was er Blechmystik6 nennt: „Wenn ich doch ledig geblieben wäre, wenn ich doch einen anderen Beruf gewählt hätte, wenn ich doch eine bessere Gesundheit besäße, wenn ich noch jung wäre, wenn ich doch schon alt wäre ...!“7 Gott kommt uns im gegenwärtigen Moment, hier und jetzt, entgegen, auch dort, wo wir es nicht erwarten.
Das Gleichnis weist darauf hin, dass die Umstände nicht das letzte Wort haben: Es sind die freien Entscheidungen der Menschen, die für die Annahme des göttlichen Geschenks ausschlaggebend sind. Durch das Wirken der Gnade und unser persönliches Bemühen sind wir in der Lage, nach und nach all das zu beschneiden, was den Samen erstickt. Die Gottesmutter, der fruchtbare Acker, auf dem Gott selbst Fleisch geworden ist, wird uns helfen, den Boden zu bereiten, damit Jesus auch in unseren Herzen aufgehen kann.
1 Franziskus, Evangelii Gaudium, Nr. 157.
2 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 895.
3 II. Vatikanisches Konzil, Lumen Gentium, Nr. 5.
4 Franziskus, Angelus-Gebet, 12.7.2020.
5 Msgr. Fernando Ocáriz, Pastoralbrief, 9.1.2018, Nr. 1.
6 Original Spanisch: Mística ojalatera. Der Ausdruck enthält ein unübersetzbares Wortspiel. Hojalata heißt „Blech“, und ojalá ist ein Seufzer, der mit „o wenn doch ...“ oder „hätte ich doch …“ übersetzt werden könnte. Dieser Seufzer Mystik ist also zugleich eine Blechmystik.
7 Hl. Josefmaria, Gespräche, Nr. 116.