Betrachtungstext: 21. November – Unsere Liebe Frau in Jerusalem

Maria gehörte ganz Gott – Teil der göttlichen Familie – Treue im Großen und im Kleinen

NACH EINER ALTEN Überlieferung brachten Joachim und Anna – Anna bedeutet „Der Herr hat Erbarmen gehabt“ – ihre dreijährige Tochter Maria in den Tempel von Jerusalem, um sie dort Gott zu weihen, wie sie es vor der Geburt versprochen hatten. Dort sollte sie mit anderen Mädchen ihres Alters in den Traditionen und der Frömmigkeit Israels unterrichtet werden, bis sie zwölf Jahre alt war. Ähnliches berichtet das Alte Testament über Hanna, die Mutter des Propheten Samuel: Auch sie brachte ihren von Gott erbetenen Sohn in den Tempel, damit er dort – sein Leben lang – im Dienst des Herrn stehen könne (vgl. 1 Sam 1,21-28).

Nach ihrer Zeit im Tempel führte Maria ein gewöhnliches Leben im Haus ihrer Eltern. Sie wuchs wie andere Frauen ihres Volkes heran, ohne durch Besonderheiten aufzufallen. Als fromme Jüdin richtete sie ihr ganzes Leben auf den Herrn aus. Das heutige Fest, das in der Ostkirche schon sehr früh begangen wurde, – feiert – kurz vor Beginn der Adventszeit – Marias Zugehörigkeit zu Gott und ihre vollkommene, lebenslange Hingabe an das Heilsgeheimnis.

Der heilige Alfons von Maria lädt uns ein, uns Maria anzuvertrauen: „Wie das heilige Kind Maria sich Gott im Tempel sofort und als Ganzes dargebracht hat, so wollen auch wir uns am heutigen Tag ohne Zögern und Vorbehalt Maria darbringen.“1 Maria, die selbst Tempel Gottes werden wird, wird uns immer zu Jesus führen, wie Papst Franziskus betont: „Ihre Hände, ihre Augen, ihre Haltung sind ein lebendiger ,Katechismus‘ und verweisen stets auf Jesus als den Angelpunkt und die Mitte.“2


JESUS lehrte gerade vor einer größeren Menschenmenge, als ihn jemand unterbrach und zu ihm sagte: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir sprechen. Dem, der ihm das gesagt hatte, erwiderte er: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? (...) Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter (Mt 12,46-50).

Auf den ersten Blick scheint es, als ob Jesus die Bedeutung der Beziehung zu seiner Mutter herabsetzen wollte. Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass er vielmehr die innere Tiefe dieser Verbindung betont. Maria ist nicht nur deshalb mit Jesus verbunden, weil sie ihn geboren hat, sondern vor allem, weil sie Gottes Willen vollkommen angenommen hat. Der heilige Augustinus legte Jesus folgende Worte in den Mund: „Meine Mutter, die ihr selig nennt, ist deshalb selig, weil sie das Wort Gottes bewahrt; nicht weil in ihr das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat, sondern weil sie dieses Wort Gottes bewahrt, durch welches sie geworden ist und welches in ihr Fleisch geworden ist.“3

Mit seinen Worten weist Jesus darauf hin, dass alle, die den Willen Gottes tun, Teil seiner Familie werden können. Wer mit ihm sein Leben teilt und nach dem Willen des Vaters strebt, ist mehr als nur ein Mitarbeiter an einem Projekt zum Wohle der Gesellschaft. Der Katechismus fasst dies so zusammen: „Jünger Jesu werden heißt, die Einladung annehmen, zur Familie Gottes zu gehören und so zu leben wie er.“4


IN DEN Evangelien finden wir zahlreiche Beispiele, die Marias unerschütterliche Treue zum Willen Gottes veranschaulichen. Ihr „Ja“ bei der Verkündigung durch den Engel war, wie Papst Franziskus es beschreibt, „der erste Schritt einer langen Reihe von Gehorsamsakten (...), die ihren Weg als Mutter säumen werden“5. Den tiefsten Ausdruck fand diese Treue am Fuße des Kreuzes, an dem ihr Sohn Jesus sterbend hing. Die Evangelisten berichten nichts über Gesten oder Worte der Gottesmutter, sondern betonen lediglich: „Sie war da.“ Durch ihre bloße Anwesenheit spendete sie Jesus Trost und fand darin die Kraft, diesen übermenschlichen Schmerz zu ertragen. Sie hatte entdeckt, dass das größte Glück – diesmal gepaart mit unsäglichem Schmerz – manchmal einfach darin lag, bei ihrem Sohn zu „sein“.

Auch im verborgenen Alltag zeigte Maria unaufhörlich ihre Treue, selbst wenn die Evangelien darüber nicht explizit berichten. Ihr Alltag dürfte wie der der meisten Frauen ihrer Zeit verlaufen sein, in ihren alltäglichen Aufgaben erkannte und erfüllte sie den Willen Gottes. Sie heiligte das Kleine und Große, das jeder Tag mit sich brachte, das, was auf den ersten Blick nach wenig aussieht und doch viel bedeutete. Sie verstand es, in alles Liebe hineinzulegen. Wie der heilige Josefmaria schrieb, ging ihre Liebe „bis zum Äußersten, bis zum völligen Sich-selbst-vergessen“: „Glücklich an dem Ort, an dem Gott sie haben wollte, erfüllte Maria mit wachem Interesse seinen Willen. Dadurch ist selbst die unscheinbarste Geste bei ihr niemals leer, sondern zeigt sich stets gehaltvoll.“6

in ihrem Leben setzte unsere himmlische Mutter um, was Jesus später die Jünger lehren sollte: Wer in den kleinsten Dingen zuverlässig ist, der ist es auch in den großen (Lk 16,10). Seit ihrer Darstellung im Tempel drehte sich Marias gesamtes Leben um Gott. Suchen wir ihre Hilfe, damit auch wir unter der Leitung des Heiligen Geistes das Abenteuer der Treue entdecken können.


1 Hl. Alfons Maria von Liguori, Die Herrlichkeiten Mariens, Sarto Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 2018, Teil II, Kapitel III.

2 Franziskus, Audienz, 24.3.2021.

3 Hl. Augustinus, In Ioannis Evangelium 10,3.

4 Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2233.

5 Franziskus, Audienz, 10.5.2017.

6 Hl. Josefmaria, Christus begegnen, Nr. 148.