Für mich war er der Vater Escrivá

José A. Giménez-Arnaú, Spanischer Botschafter; in: ‘ABC’, Madrid, 1. Oktober 1978

Als ich auf die 30 zuging, entschloss ich mich zu heiraten. Da ich seit dem Ende des mörderischen Bruderkrieges nicht mehr in Spanien gelebt hatte, hatte ich die Freunde und Bekannten, von denen ich während der fast drei Kriegsjahre getrennt war, mehr oder weniger vergessen. So wandte ich mich an den, zu dem ich schon vor vielen Jahren in Notfällen Zuflucht nahm, an meinen Bruder Enrique, der den Platz des Erstgeborenen eingenommen hatte, nachdem mein Bruder Faustino mit 22 Jahren an Typhus gestorben war.

„Enrique, ich möchte heiraten und habe keinen Pfarrer, der mich traut.“ Mein Bruder lächelte, um anzudeuten, dass Probleme wie dieses leicht zu lösen waren. „Mach dir keine Sorgen. Ich habe den richtigen Priester für dich.“ „Wieso richtig?“ „Nun, er war mit deinem Vater befreundet, Mitschüler und Freund unseres Bruders Faustino und auch von mir. Wenn dich das noch nicht überzeugt: Er ist dazu ein ganz außergewöhnlicher Mensch.“ Ich schwieg, weil es mich überraschte, von der Existenz eines Menschen mit den beschriebenen Eigenschaften zu erfahren, der mir völlig unbekannt war. „Wer ist es denn?“ „Ich spreche von Vater Escrivá.“ Der Name sagte mir nichts. Enrique führte eine Begegnung herbei, so dass ich wenige Tage später im Haus meines Bruders mit diesem Priester zu Mittag aß. Ich wusste nichts von seinen apostolischen Plänen, nichts von seiner Vergangenheit, aber als ich mich nach jenem ersten Treffen von ihm verabschiedete, hatte ich begriffen, dass jener zukünftige priesterliche Zeuge meiner Eheschließung ein begnadeter Mensch war, in dem Sinn, wie jemand es durch die dritte Person der Dreifaltigkeit ist. (...)

Mit der Zeit wurde jener unbekannte Priester vielen vertraut, von den einen verehrt, von den anderen verleumdet. Ich folgte meiner diplomatischen Laufbahn und vergaß seine Persönlichkeit, seine ansteckende Freundlichkeit und seine immer gleiche Liebenswürdigkeit nie. Ich hörte erst wieder von ihm, als ich erfuhr, dass er auch meinen Bruder Ricardo getraut hatte, mit dem mich vieles, nun also auch dieses verband. Vom Opus Dei, dem unbedeutenden Samenkorn, das immerzu wuchs, hörte ich erst später, ebenso von der Priestergesellschaft vom Heiligen Kreuz, vom Weg und von der großen Ernte. Ich kam überall in der Welt herum und stieß immer wieder auf junge Leute, die mich – besser gesagt, meine Frau – darum baten, ihnen Betten, Kochtöpfe, Geschirr zu kaufen oder eine Wohnung zu suchen... Und stets antwortet ich mit dem gleichen Refrain: „Ich helfe euch gern, aber ihr sollt wissen, dass ich nicht vom Opus bin.“ Und in der Tat hatte ich nichts damit zu tun, auch wenn ich ab und zu Schläge von schlecht informierten Bürgermeistern einstecken musste, eine Strafe, die jemanden traf, der wohl Grund dazu gab, aber nicht den, den sie irrtümlich vermuteten.

Ich unterschied geflissentlich zwischen jenem tugendreichen Priester, dem aragonesischen Freund meines Hochzeitstages, diesem anziehenden und großzügigen Menschen und einem Werk, das ständig wuchs wie der winzige Schneeball, der einen Berg hinunterrollt und sich dabei in eine Lawine verwandelt.

Wir schrieben uns selten und fast immer aufgrund dieser widersprüchlichen Situation meiner Freundschaft mit ihm und meiner Zurückhaltung angesichts des Werkes. Wir begegneten uns in Spanien, in Portugal und in Italien. Fast immer sprachen wir am Ende von Aragonien und meiner Familie, für die er nur lobende Worte hatte. So stellte ich fest, dass mein Vater genau wie „Mosén Escrivá“ – wie man bei uns sagt – davon überzeugt war, dass die Heiligkeit „Tag für Tag hergestellt wird“ und zwar durch die berufliche Arbeit. Es bewegte mich und machte mich stolz, ihn von Faustino, meinem ältesten Bruder sprechen zu hören, und von Enrique, mit dem ihn eine wirkliche Freundschaft verband (1). Man könnte denken, alles ist irgendwie schon vorbereitet und läuft vor einem wie im Theater ab. Aber plötzlich muss mit offenen Karten gespielt werden und bei dieser Gelegenheit stellt man fest, dass die Wahrheit die Wahrheit ist. Ich konnte also immer damit rechnen, dass seine Mitarbeiter, wenn sie meine Familiennamen hörten, sagten: „Wir schätzen sie alle sehr bei uns!“; aber an jenem 26. Juni 1975, wenige Minuten nach seinem Tod, seinem beneidenswerten Tod, eine telefonische Nachricht zu erhalten, die mich über sein Ableben informierte und darüber, dass man den Heiligen Vater und dann den spanischen Botschafter, Giménez-Arnaú angerufen hätte – das war schon schwieriger vorauszusehen gewesen. Das nach meiner impertinenten Wiederholung des „Du weißt doch, dass ich nicht vom Opus bin“, worauf er mir einmal eine verdient scharfe Antwort gab: „Du bist ein aragonesischer Sturkopf, und ich bin es müde, immer dasselbe von dir zu hören. Es ist mir egal, ob du vom Werk oder von Real Madrid bist. Was mich interessiert, ist etwas anderes. Bist du mein Freund?“ „Ja, natürlich!“ „Nun, dann ist die Frage ja erledigt.“ (...)

Wenige Minuten, nachdem ich die Nachricht von seinem Tod erhalten hatte, weinte ich neben Msgr. Alvaro del Portillo über meinen toten Freund. Ich weinte auch wegen meines Egoismus. Alvaro del Portillo weinte nicht. Weder er noch die Seinen. Sie weinten nicht, weil der Vater Escrivá weiter bei ihnen war, ihnen half, sie ermunterte, sie begleitete...

Ich dachte an meinen Freund, der zweimal in der spanischen Botschaft hatte zu Mittag essen wollen, unter der Bedingung, dass ich diese Besuche erwiderte und mit ihm in Bruno Buozzi aß; und außerdem, dass wir – das war ein stillschweigendes Übereinkommen – niemals über Politik redeten: weder über die spanische noch die italienische noch sonst eine auf der Welt.

Am ersten Jahrestag nahm ich an einer überwältigenden Trauerfeier teil, wo die Leute auch nicht weinten, weil sie immer im Gespräch mit ihm waren. Niemals habe ich etwas derartiges gesehen. Nach einigen Worten von Msgr. Alvaro del Portillo ging eine große Menge von Gläubigen in einer beeindruckenden Stille zur Kommunion.

1) Diese Freundschaft war folgendendemaßen entstanden:

Einer der Mitstudenten von Josemaría Escrivá in der juristischen Fakultät in Saragossa war Enrique Giménez- Arnaú. Dieser beschreibt seinen Kommilitonen, der während des Kurses 1925/26 schon 24 Jahre alt und gerade zum Priester geweiht worden war: „Das Einzige, was ihn von uns unterschied, war seine Soutane. Ansonsten war er einer mehr, er unterhielt sich mit uns in den Gängen der Universität, er nahm Anteil an unseren studentischen Sorgen, an den Ängsten und Freuden der Examen.“

Enrique Giménez-Arnau war damals 17, also 6 Jahre jünger als Josefmaria. Was den beiden Kommilitonen wohl half, Freundschaft zu schließen, war der Umstand, dass Enrique wenig Latein konnte. Er musste es aber beherrschen um sein Examen in Kirchenrecht ablegen zu können. Josemaría bot sich an, ihm Privatstunden zu geben. Daraus entwickelte sich bald eine Freundschaft zwischen dem jungen Priester und der Familie Giménez-Arnaú. Obwohl er nur über sehr geringe Einkünfte verfügte, weigerte er sich, dafür eine Bezahlung zu verlangen. Es war eine für ihn sehr typische Geste, durch Großzügigkeit seine Freundschaft zu zeigen, die ein Leben lang anhielt.

Die zwei Freunde verloren sich nach Beendigung der Ausbildung aus den Augen und trafen erst wieder ein Jahrzehnt später aufeinander, als sie sich 1938, mitten im Bürgerkrieg, zufällig auf einer Straße in Burgos begegneten…..