IN EINER jener Predigten, bei denen sich tausende Menschen um Jesus scharten, warnte der Herr seine Jünger: Hütet euch vor dem Sauerteig der Pharisäer, das heißt vor der Heuchelei! (Lk 12,1). Wenn Jesus die Pharisäer an anderer Stelle mit getünchten Gräbern (Mt 23,27) vergleicht, dann um zu sagen, dass sie von außen prächtig erschienen, innerlich aber leer und tot waren. Hinter einem vornehmen Auftreten verbargen sie ihr wahres Wesen, hinter spitzfindigen Argumenten ihre eigennützigen Absichten. Mehr darauf bedacht, Eindruck zu machen als zu dienen, gingen und wiesen sie Wege, die in die Irre führten.
Doch jede Täuschung ist von kurzer Dauer. So verheißt Jesus seinen Jüngern: Nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt wird, und nichts ist verborgen, was nicht bekannt wird. Deshalb wird man alles, was ihr im Dunkeln redet, im Licht hören, und was ihr einander hinter verschlossenen Türen ins Ohr flüstert, das wird man auf den Dächern verkünden (Lk 12,2-3).
Der Herr, der sich selbst als den Weg und die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6) bezeichnet, weist uns den wahren Pfad zum Reich Gottes: Er besteht darin, die Wahrheit zu umfangen. Wer aber die Wahrheit sucht, findet den Glauben und die Liebe – denn letztlich ist die Wahrheit nicht bloß ein Gedanke, sondern eine Person: Jesus Christus.
Wir geben Zeugnis von dieser Wahrheit, die in Jesus Gestalt angenommen hat, wenn wir als Kinder Gottes leben und den Menschen seine Liebe sichtbar machen. Papst Franziskus lädt uns ein, uns zu fragen: „Welche Wahrheit bezeugen unsere Werke, unsere Worte, unsere Entscheidungen? (...) Wir Christen sind keine außergewöhnlichen Männer und Frauen, wir sind jedoch Kinder des himmlischen Vaters, der gut ist und uns nicht enttäuscht und der uns die Liebe zu unseren Brüdern und Schwestern ins Herz legt. Diese Wahrheit wird nicht so sehr mit Worten bezeugt, sondern ist eine Daseinsform, eine Lebensweise und gibt sich in jeder einzelnen Tat zu erkennen.“1
WENN der heilige Josefmaria nach der Tugend gefragt wurde, die er am meisten schätzte, war seine Antwort immer dieselbe: die Aufrichtigkeit. Diese Tugend stellte er ins Zentrum der geistlichen Entwicklung eines Christen, der seinem Meister in der Welt nachfolgen will. Seine Schriften sind reich an Hinweisen darauf. So schreibt er zum Beispiel: „Du hast mich um einen Rat gebeten, wie du in deinen täglichen Kämpfen bestehen kannst. Und ich antwortete dir: Wenn du dein Herz öffnest, bring zuerst das zur Sprache, wovon du nicht möchtest, dass es bekannt wird. Auf diese Weise wird der Teufel jedes Mal besiegt. – Öffne deine Seele sperrangelweit, sei klar und einfach, damit die Sonne der Liebe Gottes bis in den letzten Winkel eindringen kann.“2
Im Evangelium begegnen wir zahlreichen Menschen, die neue Hoffnung und neuen Schwung für ihr Leben fanden, nachdem sie Jesus ihre Ängste und Schwächen anvertraut hatten. In der geistlichen Begleitung haben wir einen Bruder an unserer Seite, der uns hilft, uns selbst besser zu verstehen, und der das zu erhellen versucht, was uns widerfährt, damit wir entdecken, was der Herr uns damit sagen will.
In der geistlichen Begleitung bedeutet Aufrichtigkeit nicht nur, darüber zu sprechen, was gut oder schief gelaufen ist. Die Öffnung der Seele schließt die Offenbarung unserer tiefsten Gefühle und Wünsche ein. Dazu ist es zunächst notwendig, ehrlich zu sich selbst zu sein. Die Entdeckung der inneren Dimension von Wirklichkeiten, die uns glücklich oder traurig machen, schenkt uns wertvolle Erkenntnisse darüber, wo unser Herz sich befindet. Wie Papst Franziskus erklärt, erfordert dies allerdings „die Fähigkeit, innezuhalten, den ,inneren Autopiloten abzuschalten‘, um dann ein Bewusstsein zu erlangen von unseren Handlungen, den Empfindungen, die in uns wohnen, und den wiederkehrenden Gedanken, die uns oft unbemerkt beeinflussen.“3
DIE AUFRICHTIGKEIT des Lebens verträgt sich gut mit Fehlern und Unzulänglichkeiten, da sie uns dazu führt, diese nicht zu verbergen, sondern uns zu bemühen, sie zu überwinden. Der heilige Josefmaria sah diese Einfachheit im Evangelium begründet. Und so weist er darauf hin: „Sieh, die Apostel waren, bei all ihren offenkundigen und unleugbaren Schwächen, aufrichtig, schlicht …, durchsichtig. Auch du hast offenkundige und unleugbare Schwächen. – Möge dir nicht die Einfachheit fehlen.“4
Der Gründer des Opus Dei widmete der Demut im geistlichen Leben einen eigenen ausführlichen Brief. Er ermutigt seine Kinder darin, zu akzeptieren, dass sie auf tönernen Füßen stehen, aber keine Angst vor den Schwächen haben sollen, die sie an sich selbst und an anderen wahrnehmen können: „Machen wir uns nichts vor: Wir werden Schwächen haben. Und noch im Alter werden wir dieselben schlechten Neigungen haben wie mit zwanzig Jahren. Und der asketische Kampf wird gleichermaßen notwendig sein, und wir werden den Herrn um Demut bitten müssen. Es ist ein ständiger Kampf. Militia est vita hominis super terram. Frieden gibt es nur bei Kampf – Frieden ist die Folge des Sieges!“5
Über das Fundament, auf das wir unseren Kampf um die Heiligkeit gründen können, sagte er folgendes: „Für uns ist dies der Fels: Frömmigkeit, Gotteskindschaft, uns den Händen Gottes überlassen, Aufrichtigkeit und den Kopf dort haben, wo sich die Realität des gewöhnlichen Lebens abspielt: Ich will dich lieben, Herr, meine Stärke, Herr, du mein Fels und meine Burg und mein Retter (Ps 18,2-3).“6 Wenn wir uns als Kinder wissen, wissen wir auch, dass Gott stets bei uns ist und unsere Bedürfnisse im Blick hat. Und neben ihm befindet sich unsere Mutter, die wir um Hilfe anrufen, um in der Sicherheit, geliebte Kinder Gottes zu sein, unsere Fehler und Schwächen demütig anzunehmen.
1 Franziskus, Audienz, 14.11.2018.
2 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 126.
3 Franziskus, Audienz, 5.10.2022.
4 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 932.
5 Hl. Josefmaria, Brief 2, Nr. 10.
6 Ebd., Nr. 7.

