DER HEILIGE GEIST hatte Simeon offenbart, er werde nicht sterben, bevor er den Gesalbten des Herrn gesehen habe. Wir wissen nicht, wie diese Mitteilung erfolgte. Sagen können wir, dass Simeon eine Berufung zur Hoffnung hatte – und in gewisser Weise sind auch wir dazu berufen. Wir alle haben die Hoffnung, die Werke des Messias zu sehen: seine heilende Gnade, die Freude und das Glück der Erlösung schon hier auf Erden. In Simeon haben wir alle eine Verheißung des Heils erhalten, die sich hienieden, auf dieser Erde, sichtbar und hörbar erfüllt. Der Messias ist nicht fern; er ist herabgestiegen, ist einer von uns geworden, wir können ihn berühren.
Wir wissen auch nicht, wie Simeon Christus erkannte. Im Evangelium wird kein Erkennungszeichen erwähnt. Alles deutet darauf hin, dass es der Geist selbst war, der Simeon antrieb, ihn zu finden. Da waren Maria und Josef mit ihrem Erstgeborenen. Es war unerhört, dass Gott sich zum Kind machte, und es war undenkbar, dass Gott Sohn einer offenbar so einfachen jungen Frau war. Nichts unterschied sie von den anderen Frauen um sie herum, die ebenfalls mit ihren Erstgeborenen gekommen waren, um sich der Reinigung zu unterziehen. Maria war gekommen wie alle anderen auch, um die Gebote Gottes zu erfüllen, aus Liebe, nicht weil sie es nötig hatte – ebensowenig war ihr Sohn, Jesus, verpflichtet, die Sünden der Menschen auf sich zu nehmen, dennoch lud er unsere Schwächen auf sich.
Die Art und Weise, wie Gott sich zeigte und täglich zeigt, kann uns verwirren. Wir können zerstreut sein und ihn nicht erkennen, wenn er nahe an uns vorübergeht. Viele hielten ihn bloß für einen der vielen Einwohner Nazarets, für einen unter zahllosen Tempelbesuchern. Die Ankunft des Messias und die Rettung aller Menschen erfolgen unauffällig, in der Tiefe und sacht. Gott drängt sich nicht auf, deshalb hat er unser Fleisch angenommen. Wir bitten Gott, er möge uns wie Simeon unsere Augen öffnen, damit wir die Erlösung erkennen, die im Gange ist.
NUN LÄSST DU, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen (Lk 2,29-30). Wir wollen uns fragen: Bin ich aufmerksam genug, um Gottes Erlösungswerk, sein verborgenes und stilles Handeln in allem, was mich umgibt, zu entdecken? In der Heiligen Messe nehmen wir unmittelbar am Erlösungswerk teil, das Jesus vollbracht hat. Wir greifen seine Gnade mit Händen und machen uns seine Verdienste zu eigen. Wir essen seinen Leib und trinken sein Blut, von dem – so singen wir im Hymnus Adoro Te devote – „schon ein kleiner Tropfen sühnet alle Schuld, bringt der ganzen Erde Gottes Heil und Huld“1.
Simeon sah das Kind nur ein einziges Mal, aber dieser Moment war ein ganzes Leben des Hoffens wert. Uns hingegen kann es passieren, dass wir uns daran gewöhnen, die Erlösung zu berühren. Der Empfang der Eucharistie erscheint uns allzu normal, allzu ähnlich von einem Tag zum nächsten. Nehmen wir uns ein Beispiel an den Hirten, die nahe bei Bethlehem Wache hielten. „Es waren“, wie Benedikt XVI. sie schildert, „wache Menschen, in denen der Sinn für Gott und seine Nähe lebendig war. Menschen, die auf Gott warteten und sich nicht damit abfanden, dass er uns im Alltag fern scheint. An das wachende Herz kann sich die Botschaft der großen Freude richten: Heute Nacht ist euch der Erlöser geboren. Und nur das wachende Herz ist fähig, die Botschaft zu glauben. Nur das wachende Herz verleiht den Mut, aufzubrechen, um Gott als Kind im Stall zu finden.“ 2
Simeon bereitete sich täglich darauf vor, dem Messias zu begegnen; jedes Mal sehnte er sich mehr danach, ihn zu sehen, und jeder Tag konnte entscheidend sein. Auch wir sind zutiefst davon überzeugt, dass das Göttliche überwältigend und begeisternd ist. Daher kann uns unsere scheinbare Gleichgültigkeit schmerzen, die der heilige Josefmaria so in Worte fasste: „So viele Jahre täglich kommuniziert! – Ein anderer wäre heilig, hast du mir gesagt, und ich bin noch immer derselbe!“3 Doch Gott rechnet auch mit dieser unserer Begrenztheit. Und der heilige Pfarrer von Ars verweist auf den großen Wert des Naheliegenden: „Glückseliger als die Heiligen des Alten Testaments, besitzen wir Gott nicht nur durch die Größe seiner Unermesslichkeit, kraft deren er in allem gegenwärtig ist, sondern haben ihn bei uns, wie er sich im Schoß Mariens neun Monate lang befand, wie er am Kreuz hing. Glückseliger noch als die ersten Christen, die fünfzig oder sechzig Wegmeilen zurücklegten, um das Glück zu haben ihn zu sehen, besitzen wir ihn in jeder Pfarrkirche. Jede Pfarrkirche kann sich nach Belieben solch süßer Gegenwart erfreuen. Oh, glückliches Volk!“4
DAS SCHWERT, das das Herz der Mutter Jesu durchstoßen wird, bildet den bitteren Kontrapunkt in einer Szene, die überströmt von Freude und Hoffnung. Es ist der Schatten, der das Reale der Szene hervorhebt. Der heilige Papst Johannes Paul II. erläutert dazu: „Maria sagt nichts auf die Prophezeiung des Schwertes hin, das ihre Seele durchdringen wird. So wie Josef nimmt sie diese geheimnisvollen Worte an, die die Vorhersage einer sehr schmerzvollen Prüfung enthalten und zugleich den tiefsten Sinn der Darstellung Jesu im Tempel zum Ausdruck bringen. Tatsächlich war das gemäß dem göttlichen Plan damals dargebrachte Opfer – wie es das Gesetz des Herrn vorschreibt: ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben (Lk 2, 24) – ein Auftakt für das Opfer Jesu.“ 5
Auch unser Leben ist ein Gemälde aus Licht und Schatten, ein Geflecht aus Hoffnung und Entmutigung, aus Kampf und Niederlage. Gott weiß das, und gerade in dieser unserer offensichtlichen Gebrechlichkeit scheint er uns am nächsten. Gott lehnt die Illusion einer perfekten, vollendeten, problemlosen Welt entschieden ab; er ist in der Zerbrechlichkeit des Alltags zu finden, in dem, was scheinbar nicht glänzt. Dass Gott bedingungslos auf die Normalität setzt, mag viele Seelen befremden, ist jedoch die Konsequenz seiner Option für die Freiheit. Gott erhebt seine Stimme nicht, er erzwingt sich nicht den Zugang zu unserem Leben. Das Zeichen, das uns Weihnachten bringt, ist – mit Worten von Papst Franziskus – „die bis zum Äußersten getriebene Demut Gottes (...). Gott, der uns mit einem von Liebe erfüllten Blick anschaut, der unser Elend annimmt, Gott, der in unser Kleinsein verliebt ist.“ 6
Maria, unsere Mutter, lernte Gott in ihrem neugeborenen Sohn zu entdecken. Seine Tränen, sein Hunger und sein Schlaf sind göttlich und daher erlösend. Der polnische Papst fährt fort: „Von der Prophezeiung des Simeon an vereint Maria ihr Leben auf intensive und geheimnisvolle Weise mit der leidvollen Sendung Christi: Sie wird die treue Mitarbeiterin ihres Sohnes werden bei der Erlösung des Menschengeschlechts.“ 7
1 Hymnus Adoro te devote.
2 Benedikt XVI., Predigt, 24.12.2008.
3 Hl. Josefmaria, Der Weg Nr. 534.
4 Hl. Pfarrer von Ars, Predigt zu Fronleichnam.
5 Hl. Johannes Paul II., Audienz, 18.12.1996.
6 Franziskus, Predigt, 24.12.2014.
7 Hl. Johannes Paul II., Audienz, 18.12.1996.

