DER BLINDE von Jericho sitzt Tag für Tag am selben Platz und bittet um Almosen. Und jeden Abend kehrt er mit ein paar Münzen heim, die ihm mitleidige Menschen zustecken, die sein eigentliches Leid aber nicht lindern: Niemand kann ihm das Augenlicht schenken. Doch eines Tages zieht eine Menschenmenge an ihm vorbei, er fragt, was los sei, und erhält die Antwort: Jesus von Nazaret geht vorüber. Da zögert er nicht eine Minute, sondern ruft mit aller Kraft: Jesus, Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! (Lk 18,35-39). Die unerwartete Nachricht hatte sein Herz im Nu mit Glauben und Hoffnung erfüllt.
Jesus kommt auch an uns vorbei, wenn wir Glauben und Hoffnung benötigen, die nicht aus unserer Kraft kommen. „Der Herr sucht uns in jedem Moment“1, sagte der heilige Josefmaria. Er begegnet uns in der Arbeit, zu Hause, auf der Straße – überall dort, wo wir sein Mitgefühl brauchen. Er ist gegenwärtig in unseren Mitmenschen, besonders in den Schwachen, Kranken und Alten, und selbst unsere Fehler und Grenzen kann er zu einem Ort der Begegnung machen.
Der heilige Josefmaria empfahl, uns die Worte des Blinden zu eigen zu machen. Dessen Seele hatte sich im Glauben an Jesus derart entzündet, „dass er schrie: Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner! Empfindest du nicht auch das Bedürfnis zu schreien, du, der du tatenlos am Wegesrand stehst, am Rande dieses Lebenswegs, der so kurz ist; du, dem Licht fehlt; du, der du mehr Gnade benötigst, um entschieden die Heiligkeit zu suchen? Drängt es dich nicht zu rufen: Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner? Da hast du ein herrliches Stoßgebet – sage es oft!“2
DER BLINDE musste viele Hindernisse überwinden: die Distanz, den Lärm, die Stimmen, die ihn zum Schweigen bringen wollten. Doch nichts hielt ihn auf. Seine Sehnsucht nach Licht und seine Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit war größer als jede Hürde. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und ließ ihn zu sich herführen (Lk 18,39-40). So wie der Blinde Jesus mit seinem flehenden Schrei zum Anhalten brachte, können auch wir den Herrn mit unserem Gebet „anhalten“. Je drängender wir rufen, desto gewisser ist er uns schon nahe und wir sind auf dem Weg, das verlorene Licht wiederzuerlangen.
Papst Franziskus sagte: „Der Glaube ist ein Schrei; der Unglaube bedeutet, jenen Schrei zu ersticken. Die Menschen, die den Blinden zum Schweigen bringen wollten, waren keine gläubigen Menschen. Er dagegen, ja er war gläubig. (...) Der Glaube ist Protest gegen einen qualvollen Zustand, dessen Grund wir nicht verstehen; der Unglaube bedeutet, eine Situation zu ertragen, an die wir uns angepasst haben. Der Glaube ist die Hoffnung, gerettet zu werden; der Unglaube gewöhnt sich an das Übel und macht weiter, als ob nichts wäre (...). Die ganze Welt bittet und fleht, dass das Geheimnis der Barmherzigkeit seine Erfüllung finden möge – nicht nur die Christen beten: Sie teilen den Schrei des Gebets mit allen Männern und Frauen.“3
Angesichts der Frage Jesu an den Blinden, was er denn wolle, kommentierte Gregor der Große: „Konnte der, der das Augenlicht schenkt, nicht wissen, was der Blinde wollte? Natürlich wusste er es. Aber er will, dass der Blinde ihn bittet – er fragt ihn, um sein Herz zum Gebet zu bewegen.“4
„WAS DER Blinde vom Herrn erbat, war nicht Gold, sondern Licht“5, betonte derselbe Kirchenlehrer. Herr, ich möchte sehen können, sagte er. Und Jesus antwortete: Sei sehend; dein Glaube hat dich gerettet (Lk 18, 41-42). Einst fielen die Mauern Jerichos ein, nachdem die Israeliten die Stadt mit der Bundeslade sieben Mal umrundet und kräftig in die Posaunen geblasen hatten. Jetzt genügten ein paar glaubenserfüllte Rufe, um das Wunder zu erwirken. Glaube ist, so schrieb Paulus im Hebräer-Brief, Grundlage dessen, was man erhofft, ein Zutagetreten von Tatsachen, die man nicht sieht (Hebr 11,1).
Der heilige Johannes vom Kreuz brachte auf verschiedene Weisen zum Ausdruck, dass das, was wir erlangen, proportional ist zu dem, was wir erhoffen.6 Und Johannes Chrysostomus illustrierte diesen Gedanken: „So wie diejenigen, die mit kleinen Gläsern kommen, wenig Wasser aus einem Brunnen schöpfen, und diejenigen, die größere Gläser bei sich haben, viel schöpfen (...), so empfängt die Seele die Gnade nach dem Maß ihrer Absicht.“7
Darum ließ Jesus den Blinden, den er vom ersten Augenblick an gehört hatte, in seinem Gebet ausharren. „So ist es auch bei dir“, schrieb der heilige Josefmaria. „Jesus vernimmt schon den ersten Ruf der Seele, aber er wartet. Er will uns zu der Überzeugung führen, daß wir ihn brauchen; er will, dass wir ihn hartnäckig bitten wie jener Blinde am Wegesrand.“8
Maria, unsere Mutter, hat – obwohl sie voll der Gnade war – unaufhörlich gebetet und tut es noch heute. Bitten wir sie, in uns das Verlangen nach Gott zu vermehren und uns den Glauben des Blinden von Jericho zu schenken: einen Glauben, der ruft, der vertraut – und der die Gabe erlangt.
1 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 196.
2 Ebd., Nr. 195.
3 Franziskus, Audienz, 6.5.2020.
4 Gregor der Große, Homiliae in Evangelia 2,5
5 Ebd.
6 Z. B. „Denn Hoffnung vom Himmel erstrebet / ihr Ziel, wie auch hoch sie sich hebet“, Johannes vom Kreuz, Geistesflug zu Gott.
7 Hl. Johannes Chrysostomus, Kommentar zu dieser Stelle des Evangeliums in: Catena aurea.
8 Hl. Josefmaria, Freunde Gottes, Nr. 195.

