DIE PLÖTZLICHE Abkehr des reichen jungen Manns dürfte die Apostel getroffen haben. Vielleicht erinnerten sie sich an den Moment ihrer eigenen Berufung und dachten wohl, dass dieser junge Mann weit mehr menschliche Qualitäten besaß als viele von ihnen. Immerhin kam er aus einer angesehenen Familie, war wohlhabend und, was noch wichtiger war, schien alle Gebote zu befolgen. Und da er den aufrichtigen Wunsch hatte, Gott näher zu kommen, hatte er sich aus eigenem Antrieb an Jesus gewandt. Doch als der Herr ihn aufforderte, alles zu verkaufen, was er besaß, um ihm in Freiheit nachzufolgen, war sein Interesse verflogen. Der Sand, den er mit seinem Abgang aufwirbelte, hing noch in der Luft, als die Apostel ungläubig und beschämt zu ergründen versuchten, warum sie selbst damals Ja gesagt hatten zu Jesus – während ein menschlich so vorzüglicher Mann ihn zurückwies.
Wer kann dann noch gerettet werden? (Mt 19,25). Vielleicht stellen wir uns selbst tief in unserem Herzen diese Frage – so wie die Apostel, als sie sahen, dass sich selbst jemand von der menschlichen Größe des reichen jungen Mannes von Jesus abwandte. Manchmal kann es uns den Frieden rauben, zu merken, dass wir, obwohl wir versuchen, ein christliches Leben zu führen und Christus nachzufolgen, schwach sind und uns immer wieder von ihm entfernen. Und wir fragen uns: Wenn es mir schon so schwer fällt, den Weg zu gehen, der ich mir der Liebe Gottes bewusst bin, wie sollen dann andere den Weg finden, die Gott noch gar nicht kennen? Ist es überhaupt möglich, im Auf und Ab des Lebens treu zu bleiben in der Nachfolge des Herrn?
Die Antwort des Meisters auf unsere Zweifel ist diese: Für Menschen ist das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich (Mt 19,25). Der heilige Josefmaria empfiehlt, auf den Herrn zu vertrauen, wenn wir merken, dass wir nichts Rechtes zustande bringen, und zu bekennen: „Das, mein Jesus, kann dich nicht wundern; es ist unmöglich, dass mir etwas gelingt. Doch wenn du mir hilfst, wenn du es für mich tust, wirst du sehen, wie gut alles wird.“1
WER KANN dann noch gerettet werden? (Mt 19,25). Diese Frage stellten sich die Apostel auch noch ein anderes Mal, nämlich als der Meister sie mit folgenden Worten konfrontierte: Amen, ich sage euch: Ein Reicher wird schwer in das Himmelreich kommen (Mt 19,23). Jesus hatte sie verstehen lassen, dass ihre Rettung immer ein Werk Gottes und seiner Barmherzigkeit ist. Er ließ sie zugleich aber auch darüber nicht im Unklaren, dass die Nachfolge mit Anforderungen verbunden ist. Ihm – als Apostel – aus der Nähe zu folgen, verlangt eine Radikalität entlang des ganzen Lebens und die stete Bereitschaft für das, was der Herr von jedem verlangt.
Der Weg der Armut ist ein göttliches Geschenk und eine freie Entscheidung. Gott schenkt uns unverdient seine Liebe – eine Liebe, die, wie Papst Franziskus sagte, „nicht von unserer Gesetzestreue, von unseren Fähigkeiten oder unserer Religiosität abhängt“, sondern eine Gabe des Heiligen Geistes ist: „Es ist der Geist der Liebe, der in uns die Liebe einpflanzt, er ist es, der uns das Gefühl gibt, geliebt zu sein, und der uns lieben lehrt. Er ist sozusagen der ,Motor‘ unseres geistlichen Lebens. Er ist es, der alles in uns in Bewegung setzt.“2
Durch unser gewöhnliches Tun können wir auf die Liebe, die der Herr uns entgegenbringt, antworten. Der innere Kampf macht Sinn, wenn man ihn von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet. Nicht als ein Weg, mein Heil zu verdienen, sondern als ein Weg, die Liebe zu äußern, die wir für Gott haben und die wir in allen unseren Werken zum Ausdruck bringen können. Schließlich ist er es, der uns trägt, besonders in Zeiten, in denen der Weg der Heiligkeit steiler wird. „Manche Leute verhalten sich in ihrem Leben so, als ob der Herr nur zu denjenigen von Hingabe und aufrechtem Verhalten gesprochen hätte, die es keine Mühe kostet oder die nicht zu kämpfen brauchen – doch die gibt es nicht! Sie übersehen, dass Jesu Wort von den Gewalttätigen, die das Himmelreich an sich reißen, indem sie tagtäglich einen heiligen Kampf ausfechten, für alle gilt.“3
ES KANN uns manchmal schwer fallen, Jesus nachzufolgen. Vielleicht tragen wir ein Kreuz, das wir nicht ganz verstehen, leiden unter einem Nachteil wegen unseres Glaubens oder fühlen uns einfach kalt in unserem Umgang mit Gott. Wir haben den Eindruck, dass sich der Kampf nicht lohnt. Wir alle können von der Müdigkeit des Alltags in der Nachfolge Christi erfasst werden. Unter solchen Umständen kann uns die Aufrichtigkeit des Petrus, der sah, wie der reiche junge Mann den Ruf Jesu zurückgewiesen hatte, als Anregung dienen. Wie er können wir es wagen, den Herrn in unserem Gebet zu bitten: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Was werden wir dafür bekommen? (Mt 19,27). Es geht nicht darum, unseren Kampf an eine Belohnung zu knüpfen, sondern darum, alle unsere Erwartungen in Gottes Liebe zu setzen und darauf zu vertrauen, dass er immer das Beste für jeden von uns will und uns wie ein guter Vater mit seinen Gaben erfüllen möchte.
Jesus sagte zu ihnen: Amen, ich sage euch: Wenn die Welt neu geschaffen wird und der Menschensohn sich auf den Thron der Herrlichkeit setzt, werdet auch ihr, die ihr mir nachgefolgt seid, auf zwölf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten. Und jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben erben (Mt 19,28-29). Das „Hundertfache“ ist die bedingungslose Liebe Gottes, seine Nähe, die uns in guten und in schlechten Tagen begleitet und unseren Kampf erträglich macht; es ist aber auch das ewige Glück, das uns im Himmel erwartet. Deshalb empfahl der heilige Josefmaria, oft an den Moment zu denken, in dem wir Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen werden: „In der Stunde der Versuchung solltest du die Liebe vor Augen haben, die im Himmel auf dich wartet: pflege die Tugend der Hoffnung. Das bedeutet keine mangelnde Großzügigkeit.“4
Es ist nicht egoistisch, unser Herz und unsere Hoffnung auf den Himmel zu richten, wo uns die Heilige Dreifaltigkeit erwartet, um uns in ihre Arme zu schließen. Im Gegenteil, es bedeutet, dass unsere Liebe zu Gott so groß ist, dass er zur treibenden Kraft hinter all unseren großen und kleinen Entscheidungen geworden ist: als derjenige, den wir suchen, als der Einzige, der unseren Durst nach Glück stillen kann. Im Paradies werden wir zudem Maria begegnen, deren mütterliche Fürsorge wir schon hier auf Erden genießen.
1 Hl. Josefmaria, Im Feuer der Schmiede, Nr. 353.
2 Franziskus, Predigt, 5.6.2022.
3 Hl. Josefmaria, Die Spur des Sämanns, Nr. 130.
4 Hl. Josefmaria, Der Weg, Nr. 139.