Wo, bitte, geht’s zum Gral?

Ein Whopper-Plot: Dan Browns Thriller „Sakrileg“ flirtet mit dem Untergang des Abendlandes und knackt den Da-Vinci-Code

Da lagen sie und zwinkerten einem zu. Auf einem Tischchen an einem dieser Massenumschlagplätze, die sich Buchhandlungen nennen. Auf jedem Buchcover ein Augenpaar, in dem mühelos der Blick der Mona Lisa erkennbar war, auch ohne das Lächeln. „The Da Vinci Code". Zugreifen, umdrehen, Klappentext lesen: das war eine Bewegung. Ein paar Schlüsselreize: Mord im Louvre, Kryptologie, Rätsel, die ins Werk Leonardo da Vincis führen, ein Geheimbund. Platz eins auf der Bestsellerliste der „New York Times". Sofort gekauft und in zwei Nächten gelesen. Die deutsche Übersetzung wäre achtlos liegengeblieben. „Sakrileg" steht da in blutroten, erhabenen Buchstaben auf graublauem Grund. Mit jeder Seite erscheint einem der Titel dämlicher. Das Buch wird sich dennoch bestens verkaufen, weil man ja beim Lesen den Umschlag nicht anschauen muß.

„The Da Vinci Code" ist ein Thriller, den selbst amtliche Literaturkritiker verschlingen, die sich hinterher wie bußfertige Sünder aufführen. Ziemlich verklemmt und literaturbetriebsbeflissen sitzen sie dann zu Gericht und exorzieren in den Rezensionen ihr Vergnügen - als seien die Leser zu dumm, um zu merken, daß sich da einer kasteit, weil er seinen Spaß gehabt hat. Moderne Flagellanten, die sich für die Lust am sogenannten Trivialen geißeln. Das Buch hat alles, was ein populärer Thriller braucht. Mord, Verfolgungsjagden, Verschwörungen. Es gibt aparte Zusätze wie den Heiligen Gral, den schon Indiana Jones und sein Vater suchten. Und es ist ein sehr amerikanischer Blick auf die europäische Kunst- und Kirchengeschichte, was man auch daran sieht, daß im Kielwasser des Bestsellers in Amerika bereits zwei Bücher erschienen sind, die „Breaking the Da Vinci Code. Answers to the Questions Everbody's Asking" und „Cracking Da Vinci's Code: You've Read the Fiction, Now Read the Facts" heißen und den Erklärungsbedarf befriedigen, den die Story hinterläßt: Wer war Maria Magdalena? War Jesus mit ihr verheiratet? Was ist der Templerorden? Gibt es den Heiligen Gral; und wenn ja, wo kann man ihn finden?

Es ist der zweite Roman von Dan Brown, der auf deutsch erscheint. In „Illuminati" lag eine Bombe unterm Vatikan, hier lauert ein symbolischer Sprengsatz, dessen Explosion die Heilige Römische Kirche, wie wir sie kennen, einstürzen ließe. Der Louvredirektor also wird ermordet, er ist zugleich der Großmeister der Sions-Bruderschaft und damit Nachfolger eines Botticelli, Leonardo, Isaac Newton oder Victor Hugo. Ein Albino, der im Dienste von Opus Dei steht, hat ihn umgebracht, um dem Heiligen Gral auf die Spur zu kommen, den der Orden hütet. Noch im Sterben hat sich Jacques Saunière als Code inszeniert: ausgebreitet wie der berühmte Vitruvianische Mensch Leonardos, der es längst zum Posterboy gebracht hat. Robert Langdon, der schon Held von „Illuminati" war und noch immer Professor für Symbologie in Harvard ist, und die Enkelin des Toten, eine Kryptologin, finden zusammen. Die französische Polizei verdächtigt Langdon, die beiden werden gehetzt, und doch bleibt immer genug Zeit, um ausführlich vom Templerorden, dem Konzil von Nicäa und von den unterdrückten heidnischen und matriarchalischen Strömungen im frühen Christentum zu berichten.

Brown inszeniert das als eine Art intellektuelle Schnitzeljagd. Deshalb ist es auch schwer, von den einzelnen Stationen zu erzählen, ohne zu viel zu verraten. Es werden Anagramme gebildet, komplizierte Codes dechiffriert, Gemälde betrachtet und neu gedeutet. Das Rätsel der Mona Lisa löst sich en passant: Der Name wird als Anagramm aus Amon und L'Isa (Isis) entschlüsselt, und diese androgyne Konstellation ist der Grund für das wissende Lächeln.

Dan Brown ist keiner, der das in Shakespeare-Englisch vortrüge, und die Bildungsglasur ist dünner als in den historischen Glasperlenspielen eines Umberto Eco. Aber es gibt nun mal Bücher, wie es auch viele Filme gibt, die eher „plot driven" sind als „character driven", in denen es nicht so sehr darauf ankommt, das, was als psychologische Tiefe gilt, auszuloten, die Charaktere plastisch werden zu lassen und wie die handelsüblichen literaturkritischen Textbausteine alle heißen.

Die Axt für das gefrorene Herz in uns ist das Buch auch nicht. Schon eher eine Droge, die den Herzschlag beschleunigt und den Adrenalinspiegel steigen läßt. Eine amerikanische Zeitung sprach von „a whopper of a plot" - Sorgen um seinen Cholesterinspiegel muß man sich deshalb aber nicht machen.

Es geht einfach darum, einen spannenden Plot zu konstruieren, der das Buch zum Pageturner macht. Browns Technik ist dabei variantenärmer als die eines Michael Crichton. Er folgt einem simplen Muster: Jedes Kapitel enthält einem am Ende die Informationen vor, nach denen man giert, um sie dann ein, zwei oder drei Kapitel später zu enthüllen. Diese Dosierung ist jedoch ungeheuer effizient, und es ist daher kein Wunder, daß die Filmrechte längst verkauft sind. Natürlich begegnet einem auch das Problem, welches in Weltbedrohungsthrillern notorisch wiederkehrt, ganz gleich, ob sie von den Gefahren im Morgen oder den dunklen Flecken des Abendlandes erzählen. Das Szenario wird bis an den äußersten Rand des Abgrunds getrieben, um dann mit einer erschütternd kleinen Lösung zu enden. Dieser Flirt mit dem Desaster ist der Reiz, die Enttäuschung und zugleich der Impuls, den nächsten Thriller zu lesen. Dan Brown kann man allenfalls vorhalten, er sei ein bißchen zu feige, um das verschwörerische Potential seiner Geschichte auszureizen. Der Vatikan, der verhindern will, daß das Geheimnis des Heiligen Grals gelüftet wird, weil es Jesus zum verheirateten Menschensohn machte, dessen Nachfahren noch heute leben, bleibt nebulös. Die bad guys finden sich anderswo.

Man kann all das natürlich für baren Unsinn halten, der noch die apokryphen Evangelien, aus denen er zitiert, überbietet. Dann brauchte man solche Bücher gar nicht erst zu lesen. Man kann aber diese historischen Konjunktive auch für vielversprechende Prämissen eines Thrillers halten, der so gut funktioniert wie ein Auto. Unter den Topmodellen des Genres wäre Dan Browns Buch dann der gehobene Mittelklassewagen, weil es am erzählerischen Design, an der dramaturgischen Kurvenlage und am Sprachkomfort noch manches zu verbessern gäbe. Es mag auch sein, daß ein Buch wie der „Da Vinci Code" in die Kategorie „für Jungs" fällt, gerade weil es die Imago der weiblichen Gottheit so heftig beschwört. Der Plot ähnelt nun mal einem Bausatz aus Lego oder eben dem Auto, mit dem man schon im Kinderzimmer gerne gespielt hat. Die einzelnen Teile müssen sachgerecht zusammengesteckt oder verschraubt werden, und wenn ein entscheidendes Teil fehlt, funktioniert das Ganze nicht. Die Logik des Plots muß stimmen, der Spannungsbogen darf nicht abflachen, die intellektuelle Bricolage, ob nun mit Quantentheorie und Nanopartikeln oder mit Kirchengeschichte, Kunst und Kryptografie, sollte etwas Überraschendes bieten.

Nach diesen Kriterien bleibt der „Da Vinci Code" nichts schuldig. Welcher Roman bringt einen schon dazu, sofort zum Bücherregal zu gehen und nach einer Abbildung von Leonardos Abendmahl zu suchen, um zu prüfen, was man womöglich übersehen hat? Dann liest man vielleicht den schönen Satz von Andy Warhol: „Es hat mir gefallen, mit ihm zu arbeiten, mit seinem Abendmahl, aber heutzutage kann kein Künstler mehr mit diesem Genie verglichen werden, die neuen Leonardos sind Armani, Krizia und die anderen italienischen Designer." Und man ist versucht, diesen Satz auch mal auf die Literatur zu übertragen.

PETER KÖRTE

Dan Brown: Sakrileg. Thriller. Deutsch von Piet van Poll. Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2004. 605 Seiten, 19,90 Euro.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung