„Sehen Sie, ich bin in der Nazizeit aufgewachsen und habe von Jugend an erlebt, daß die Mehrheit irren kann. Ich und meine Familie standen auf der anderen Seite. Für mich ist es wie ein Reflex: ich habe gelernt, daß der Mensch und der gesunde Menschenverstand immer verteidigt werden müssen, notfalls auch gegen die Mehrheit.“
Robert Spaemann, 85 Jahre alt, einst Nachfolger Gadamers auf dessen Heidelberger Lehrstuhl, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Philosophen, gleichaltrig und befreundet mit Joseph Ratzinger. Heute (13.1.) um 17 Uhr wird an der römischen Universität zum Heiligen Kreuz sein Hauptwerk „Die Frage Wozu? Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens“ in italienischer Übersetzung präsentiert, zu der Kardinal Camillo Ruini das Vorwort verfaßt hat. Darin verhält sich der Kardinal über die „fehlende Anerkennung der moralischen und vorpolitischen Grundlagen des Staates“ und erinnert an die Rede von Papst Benedikt XVI. vor dem Bundestag in Berlin: eine „positivistische Vernunft“, die sich als exklusiv geriert, „kann keine Brücke zu Ethos und Recht herstellen“ und gleicht „den Betonbauten ohne Fenster, in denen wir uns Klima und Licht selber geben, beides nicht mehr aus der weiten Welt Gottes beziehen wollen“. Mit kantigem Gesicht und scharfem Blick sitzt Professor Spaemann neben Kardinal Ruini in dessen Haus. Sein Buch durchmißt noch einmal den Gedanken des „télos“, verstanden als „Ziel“ oder „Zweck“, seit Platon und Aristoteles, die Absage an die Zweckursache und an die Vorstellung einer Finalität in Natur und Vernunft seit der wissenschaftlichen Revolution des 16. Jahrhunderts bis hin zu den Aporien der zeitgenössischen Reflexion und dem Vorschlag einer Rückkehr zum alten télos. Schwierige Fragen, auch wenn Spaemann das Klischee eines weltfremden Philosophen widerlegt (wie er im Spott der thrakischen Sklavin in Platon’s Theaitetos über Thales, der in den Brunnen gefallen war, karikiert wird[1]): „Ich verteidige den gesunden Menschenverstand der einfachen Leute, die Vernunft, gegen den Scientismus.“
Die ontologischen Überlegungen des Buches betreffen auch aktuelle Fragestellungen: Leben, Tod, ethische Themen, die Biopolitik. Viele politische Parteien neigen dazu, all das der Gewissensfreiheit zuzuweisen. Was ist Ihre Meinung dazu?
Spaemann:
Der Papst spricht von der Diktatur der Relativismus. Und der radikale Relativismus ist etwas sehr Gefährliches. Manche denken, Relativismus sei Voraussetzung für Toleranz, doch das Gegenteil ist richtig. Toleranz gründet auf dem Respekt gegenüber dem Menschen, gegenüber seiner Person. Wenn das verschwindet, wenn es so etwas wie die Natur des Menschen nicht gibt, dann kann man mit dem Menschen – und mit der Natur – alles machen. Nur wenn die Toleranz auf einer eigenen tiefen Überzeugung gründet, ist sie fest. Im übrigen muß man unterscheiden zwischen Urteilen und Gewissensentscheidungen. Gewissen ist die Überzeugung, daß bestimmte Dinge gut oder richtig sind. Wenn es zwischen zwei Gewissen einen Konflikt gibt, zwei Gewissen Unterschiedliches sagen, muß man den anderen tolerieren, aber es können nicht beide richtig sein.
Ruini:
Der Professor macht damit deutlich, daß Gewissensüberzeugungen nicht allein eine individuelle Gegebenheit darstellen, sondern die Kategorien von „wahr“ und „falsch“ betreffen. Im 21. Jahrhundert steht die Menschheit vor grundlegenden Fragestellungen, die zuvor nicht unseren persönlichen, sozialen und politischen Wahlmöglichkeiten überlassen waren. Die großen ethischen und anthropologischen Themen berühren gewiß Fragen des Gewissens, aber nicht nur das. Ich würde eher auf die Konzeption der Verweigerung aus Gewissensgründen rekurrieren. Eine politische Kraft kann sagen: wenn jemand nicht einverstanden ist, so kann er sich aus Gewissensgründen widersetzen. Aber man kann nicht alles auf das persönliche Gewissen einzelner reduzieren, ohne daß es eine allgemeine Stellungnahme und eine Leitlinie gäbe. Das wird der praktischen Relevanz des Problems heute nicht gerecht.
In den „Kindheitsberichten“ seines Jesus-Buches stellt Ratzinger, wie es scheint, Pilatus mit seiner Frage „Was ist Wahrheit?“ gleichsam als Leitbild des modernen Skeptizismus dar.
Spaemann:
Ganz einverstanden, das Urteil des Pilatus ist der Sieg des Populismus über das Recht. Jesus starb wegen der Feigheit eines Richters. Wenn es keine Wahrheit gibt, werden alle Fragen Machtfragen. Und genau das ist es, was heute geschieht. In Europa gibt es schwerwiegende Beschränkungen der Meinungsfreiheit. Man sagt nicht: Das, was du sagst, ist falsch. Man sagt vielmehr: das darf man nicht sagen! Man fragt sich nicht, ob etwas wahr oder falsch ist, sondern ob es politisch korrekt ist. Und was politisch korrekt ist, das entscheidet der, der die Macht hat.
Ruini:
Es mag auch Feigheit sein, ich sehe aber vor allem eine große Konfusion der Gedanken: und zwar genau deswegen, weil man meint, die Wahrheit sei ein veralteter, ein überwundener Begriff.
Die Methodik von Galilei – Beobachtung und Beweis – wird in Zweifel gezogen. Ist das nicht antimodern?
Spaemann:
Bei Hobbes steht hinter der Erkenntnis einer Sache der Wille, sie zu verändern – also die Macht. Francis Bacon wiederum behauptete, in der Natur sei die Orientierung am Zweck wie „eine gottgeweihte Jungfrau: sie gebiert nichts“. Doch dann bleibt einzig der Urknall übrig, dann gibt es nichts, was der Mensch wissen könnte. Wir brauchen also keine „neue“ Naturwissenschaft – die Naturwissenschaft ist so, wie sie ist, doch wir brauchen eine neue Bewertung einer Zusammenschau von menschlichem Leben und Natur.
Ruini:
Das Buch von Spaemann richtet sich nicht gegen die moderne Naturwissenschaft, wohl aber gegen die Verabsolutierung der naturwissenschaftlichen Erkenntnis als einzige Form wirklichen Wissens. Die Naturwissenschaft schließt aus methodischen Gründen die Frage nach der Zweckursache aus, aber das bedeutet doch nicht, daß man sie völlig ausblenden müßte.
Herr Professor, das sind doch abstrakte Fragen ...
Spaemann:
Die Teleologie ist die Überzeugung der Vernunft sich selbst gegenüber. Descartes sagt, wenn man einen Hund tritt, spüre dieser keinen Schmerz, er sei nur eine Maschine. Doch jedermann sieht, wenn ein Tier leidet, er weiß es einfach. Wir leben in einer Welt, in der man einem systematisch einzureden versucht, daß das, was der Mensch schon immer über sich selbst weiß, nicht stimmt. Und der gesunde Menschenverstand muß gegen die Manipulation der Massen verteidigt werden.
Besteht die Gefahr, Eminenz, daß ein „wahrheitsorientiertes“ Denken mißbraucht wird, etwa für ein unehrliches Wahlprogramm?
Ruini:
Das Problem ist sehr komplex, denn es gibt ja auch Exponenten, die in ausdrücklichem Gegensatz zu ethischen Werten auf Stimmenfang gehen. In der Politik besteht immer die Gefahr einer Instrumentalisierung, und Unterscheidungen vorzunehmen, ist schwierig. Doch diese Gefahr kann dadurch überwunden werden, indem man überprüft, was die politischen Kräfte tatsächlich tun, wenn sie dazu die Möglichkeit haben. Um nur ein Beispiel zu nennen: Zum Thema „Familie“ finden sich alle bereit, etwas zu sagen. Wenn man dann aber Worte und Taten vergleicht, stellt man fest, daß so gut wie nichts geschehen ist.
[1] Anmerkung: Im genannten Stück läßt Platon den Sokrates folgende Wort aussprechen: „Wie auch den Thales, o Theodoros, als er, um die Sterne zu beschauen, den Blick nach oben gerichtet in den Brunnen fiel, den eine artige und witzige thrakische Magd soll verspottet haben, daß er, was am Himmel wäre, wohl strebte zu erfahren, was aber vor ihm läge und zu seinen Füßen, ihm unbekannt bliebe.“